Der Roman einer Liebe
Zeitdokument und grenzenlose Intimität: Der Briefwechsel zwischen Boris Pasternak und Marina Zwetajewa
Ein gewichtiger Band, allein schon vom Umfang her: fast 800 Seiten, herausgegeben und luzide kommentiert von der Zwetajewa-Kennerin und vorzüglichen Übersetzerin Marie-Luise Bott. Die Briefe, Briefentwürfe, Skizzen spiegeln die Beziehung zwischen Boris Pasternak und Marina Zwetajewa und damit zweier der Größten der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts. Die Texte sind in ihrer Intensität allenfalls mit dem Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan vergleichbar.
Allein die Tatsache, dass sich ein Großteil der Korrespondenz in den Wirren von Emigration, Stalinismus und Krieg erhalten haben oder anhand von Abschriften und Notizbüchern rekonstruiert werden konnten, grenzt an ein Wunder. Dieses Wunder ist uns nun endlich auch in deutscher Sprache zugänglich. Der Archivbestand im Russischen Staatsarchiv für Literatur und Kunst war bis zum Jahre 2000 gesperrt, wenige Jahre später erschien dann in Moskau die penibel edierte und kommentierte Edition von E. B. Korkina und Ševelenko (Marina Cvetaeva – Boris Pasternak. Duši načinajut videt´. Moskva, Vagrius 2004).
Wenn Marie-Luise Bott in einer persönlichen Anmerkung konstatiert, dass es schwierig gewesen sei, für dieses Buch einen Verlag zu finden, so spricht dies nicht unbedingt für die deutschsprachigen Verlage, umso mehr aber für den Wallstein-Verlag, der sich auf dieses Editionswagnis eingelassen hat. Es sollte eigentlich überhaupt keines sein, denn diejenigen, die sich entschließen, die Lektüre zu beginnen, werden sich schwerlich davon wieder losreißen können. Die Texte sind in ihrer fast unbeschreiblichen Intensität wie ein Sog, dem man sich kaum entziehen kann, unabhängig davon, von welcher Ebene aus und mit welcher Interessenslage man sich ihnen nähert.
Ergiebige Quelle für historisch Interessierte
Zum einen ist der Briefwechsel eine hoch ergiebige Quelle für historisch Interessierte. Geboten werden subtile Einblicke in die Alltagskultur der ersten Jahre der Sowjetunion und des Stalinismus – mit allen Folgen wie Emigration, Zensur, materieller Not und intellektueller Vereinsamung – bis hin zu unerwartet Aktuellem, etwa den Quarantäne-Erfahrungen Zwetajewas während der Scharlach-Epidemie in Frankreich: Pasternak wird vorsorglich mitgeteilt, dass Zwetajewa den Brief an ihn nur diktiert, das Papier aber nicht berührt habe.
Es sind oft die kleinen, häufig anrührenden, meist aber erschütternden Einblicke in das Alltagsleben der in Emigrantenkreisen zunehmend ausgegrenzten Zwetajewa und des sich in der Sowjetunion innerlich isoliert fühlenden Pasternak – eine Art Psychogramm einschneidender Lebensphasen oder Ereignisse (etwa der Suizid Jesenins, der Tod Rainer Maria Rilkes, der Suizid Majakowskis oder die Verhaftung Mandelstams, aber auch die Implikationen des sowjetische Literaturbetriebs unter den sich verschärfenden Umständen), die sonst in Literaturgeschichten oder anderen Publikationen meist eher nüchtern und faktographisch vermittelt werden.
Auf das schleichende Gift des Stalinismus scheint Pasternak (auch) psychosomatisch zu reagieren. Seine Beschreibungen von Schlaflosigkeit, Krankheit, Depression, Entzündungen und Operationen zeugen in ihrer Detailliertheit von einer unausweichlichen Anspannung, die sich nicht nur in einer Schreibblockade niederschlägt.
Kompendium über poetologische Fragen
Zum anderen aber bieten die insgesamt 200 Briefe mit Briefentwürfen und Varianten auch eine Art Kompendium über poetologische Fragen. Die Texte sind eine wissenschaftlich bei weitem noch nicht ausgeschöpfte Quelle zur Textgenese von Werken Zwetajewas und Pasternaks, aber auch zur Wirkung von Texten, wenn etwa Pasternak schreibt: „Dieser göttliche, orphische, zeitweilig kahlgeschorene Kopf [eine Folge von Zwetajewas Scharlach-Erkrankung] bläst dir plötzlich eine im Kielwasser der Lyrik aufgestellte Welt in die Augen und in die gefühlsbewegte Kehle (schlucke, ersticke fast, brülle und erstarre), beinahe wie eine Spielzeugflottille.“ (Brief Pasternaks an Zwetajewa, 10.1.1928).
Zu erkennen ist aber nicht nur ein poetischer Dialog auf Augenhöhe, sondern auch ein zunehmendes Auseinanderdriften zwischen Zwetajewas kompromissloser künstlerischen Haltung und Pasternaks durch die politischen Umstände erzwungenem Rückzug in eine Art innere Emigration mit der enttäuschten Hoffnung auf ein „Entkommen aus dem Hinterland der Verlogenheit“ und der „Überwachung von Entpersönlichung und notorischer Lüge“ (Pasternak an Zwetajewa am 6.1.1928), verbunden mit einem zunehmenden Rechtfertigungsdruck gegenüber Zwetajewa. Sie meinte Pasternak zeitweise in einem „Zustand ständigen Verrats“ zu spüren – ihn, der für sie Russland schlechthin verkörperte („Mein Russland, mein Moskau wie auch mein Jenseits, meine beiden Dort – heißen Du.“ Brief Zwetajewas an Pasternak vom 4.8.1926).
Allein die beiden genannten Themenkomplexe, deren Breite und Tiefe hier nur angedeutet werden kann, lassen bereits vermuten, dass kaum jemand der an Literatur und Geschichte Interessierten diesen Band zur Seite legen wird. Niemand aber wird aber gegenüber der eigenartigen Liebesbeziehung zwischen diesen beiden Großen der Weltliteratur gleichgültig bleiben können, wie sie sich in der Korrespondenz entfaltet: Es ist der Roman einer Liebe, die zwischen alle Grenzen überschreitender Intimität und fast sorgsam gehüteter „Nicht-Begegnung“ changiert – eine Liebe, deren Grenzenlosigkeit nur in der Phantasie realisiert werden kann und die sich mit ihrem Anspruch an alles verschlingende Absolutheit anfangs sogar durch Formalia zu schützen sucht („Marina, Du meine Freundin mit der bodenlos tiefen Seele, benachbarter Feuerraum im Kesselhaus des Alltags, unter demselben Druck, schreibe mir per Sie, ich flehe dich an, wir dürfen nicht explodieren.“; Brief Pasternaks an Zwetajewa vom 4.3. 1926)
Schleichende Entfremdung
„Ich liebe Dich so sehr, daß ich sogar nachlässig und gleichgültig bin, Du bist mir so nah, als wärest Du schon immer meine Schwester gewesen, und meine erste Liebe, Ehefrau, Mutter und all das, was für mich eine Frau jemals gewesen ist. Du bist die Frau.“, schreibt Pasternak wenig später am 5. April 1926. Sie waren sich in Moskau nur einige Male flüchtig begegnet, einander aber später – Zwetajewa war bereits emigriert – in ihren Gedichten ‚erkannt‘.
In ihrem phantasiereich ausformulierten Anspruch auf größtmögliche Nähe zu Pasternak trägt sich Zwetajewa während ihrer Schwangerschaft sogar mit dem Gedanken, ihr Kind Boris zu nennen, eine Absicht, die nach der Geburt verworfen wird: „Einfach und klar, hätte ich ihn Boris genannt, hätte ich mich für immer von der Zukunft verabschiedet: von Ihnen, Boris, und einem Sohn von Ihnen. Also, indem ich diesen Georgij nannte, behalte ich mir das Recht auf einen Boris vor, das heißt auf Sie – und einen Borjuschka.“ (Zwetajewa an Pasternak, um den 14.2.1925)
Die Entfremdung setzt schleichend ein, der Ton der Briefe, besonders von Seiten Pasternaks wird nüchterner, seine Schilderung einer aufflammenden neuen, realen Liebe zu Sinaida Neuhaus, seiner späteren zweiten Ehefrau, wirkt seltsam nüchtern, fast distanziert. Die kurze Wiederbegegnung zwischen Pasternak und Zwetajewa 1935 in Paris war dann für beide Seiten eher enttäuschend.
Am Ende zeichnen sich Erkenntnisse ab, die vielleicht sogar Allgemeingültigkeit, zumindest aus der Perspektive der Gender Studies beanspruchen können: „Lieber Boris, jetzt habe ich es begriffen: Ein Dichter braucht eine schöne Frau, das heißt etwas endlos zu Besingendes und niemals zu Sagendes, denn sie ist Leere und se prête à toutes les formes [sie stellt sich jeder Form zur Verfügung]. Etwas ebenso Absolutes in der sichtbaren Welt, wie der Dichter in der unsichtbaren Welt. Alles andere besitzt er schon selbst. […] Und ich war eine Närrin, daß ich Dich so viele Jahre drauflosgeliebt habe.“ (Zwetajewa an Pasternak, Juli 1935).
Briefwechsel 1922 – 1936
Herausgegeben und übersetzt von Maria-Luise Bott