„Kinder dürfen den Krieg nicht sehen“
Jewgenija Melnik, 33 Jahre, Übersetzerin, Kiew: „Meine Kinder sollen in die ukrainische Kultur hineinwachsen“
Vor dem Krieg lebte ich ein ganz normales Leben. Ich übersetzte Bücher, Literatur. Ich bin Literaturübersetzerin aus dem Englischen und Französischen. Ich habe Psychologie studiert, die inzwischen zu meinem zweiten Beruf geworden ist, worüber ich sehr froh bin.
Meinen Abschluss habe ich über Gestaltpsychologie gemacht. Ich habe für die Nachrichtenagentur Interfax-Ukraine gearbeitet. Interfax hat sich 1991 in zwei unabhängige Zweige geteilt, einen russischen (Interfax-Moskau) und einen ukrainischen (Interfax-Ukraine). Das heißt, wir arbeiteten separat, aber unser Newsfeed war gekoppelt, ich konnte sehen, was sie in Russland zeigen.
Ich war mit meinem Leben zufrieden. Dann kam der Krieg. Ich wohnte seit acht Jahren mit meiner Freundin in einer Mietwohnung in Kiew. Wir sind zusammen nach Berlin gekommen, der Kater, meine Freundin, meine Mutter und ich. Meine Mutter wohnte in Odessa.
Weil ich im Nachrichtensektor arbeitete, war ich sehr stark in das Thema Politik und Krieg involviert; mir war schon am 22. Februar alles klar. Sie bauten von Belarus aus einen Ponton zur Überquerung des Prypjat. Das heißt, es war klar, dass sie dort einen Überfall vorbereiteten. Nicht klar war, welches Ausmaß die Entwicklungen nehmen würden. Niemand hat erwartet, dass ukrainische Städte mit Raketen beschossen würden, dass es Luftangriffe in solchem Ausmaß geben würde.
Der 24. Februar: Die Katze ließen wir zuhause
In der Nacht auf den 24. Februar arbeitete ich an der Übersetzung eines Films für ein Festival, das im März in der Ukraine stattfinden sollte. Deshalb ging ich erst um 3 Uhr nachts schlafen. Um 9 Uhr musste ich wieder aufstehen, denn ich hatte Frühschicht in der Nachrichtenagentur. Aber schon um 4 Uhr wurde ich von einem lauten Knall geweckt und war sehr beunruhigt. Ich sprang auf und schaute aus dem Fenster, ohne einen bestimmten Grund. Und da sehe ich eine lange Schlange von Autos, die stadtauswärts fahren.
Ich wohnte praktisch im Stadtzentrum und sah die Explosionen. Rauchwolken stiegen auf, mal hier, mal dort. Irgendwo hörte man ein Pfeifen. Die allgemeine Stimmung war: Angst. Ja, ich wußte, es wird Krieg geben, ich hatte meinen Notfallkoffer schon gepackt. Aber trotzdem trödelte ich noch drei Stunden lang herum, ich wusste nicht, wohin ich sollte, ob ich mich im Wald verstecken oder einfach wegfahren sollte.
Nach einer Weile gelang es mir, mich zu beruhigen. Ich rief meine Mutter an. Meine Freundin arbeitete zu der Zeit auf dem Flughafen in Schuljany, in Kiew, man hat die Gebäude dort sofort evakuiert und sie nach Hause geschickt. Und ich war so müde, dass ich mich einfach unter meiner Decke verkroch und mir sagte: Ich schlafe jetzt erst einmal ein bisschen, und dann habe ich ja noch meine Schicht bei der Agentur und den Film. Mein Bewusstsein wollte die Realität nicht akzeptieren. Aber meine Mutter sagte: Komm, zieh dich an, wir fahren weg.
Gegen Mittag überlegten wir uns, dass wir in den Süden von Kiew zu Freunden fahren sollten, dort würden etwaige Angriffe von Belarus aus zuletzt hinkommen. Wenn sie nicht die Stadt einkreisen. Und zu viert ist immer besser als zu zweit, dann hat man weniger Angst. Die Katze ließen wir zuhause, wir dachten, wir bleiben nur eine Nacht.
Währenddessen rückten die russischen Streitkräfte über Tschernobyl auf Kiew vor und eroberten einen Großteil der Kiewer Region, kleine Städte, die kürzlich erst erbaut worden waren, mitten in Kieferwäldern gelegen, wo sich in den letzten zehn Jahren viele junge Familien niedergelassen hatten. Es war wunderschön dort, ich hatte selbst überlegt, dort eine Wohnung zu kaufen.
Bombensicher: Nachts in der Metrostation
Dort, wo wir hinfuhren, waren die Sirenen sehr schlecht zu hören. Man konnte glauben, es geschehe gar nichts. Eine Handy-App sagte, man solle sich verstecken oder wenigstens die Zwei-Wände-Regel beachten, aber wir hielten uns nicht daran.
Trotzdem verbrachten wir die Nacht mit Schlafsäcken in der Metro, in der Station Teremky. Dort war es sehr sicher. Die Kiewer Metro kann sogar einen Atomschlag überstehen, es gibt dort die notwendigen luftdichten Schotten. Ich hatte mal eine Besichtigung mitgemacht, bei der man uns zeigte, wie dieser ganze Zivilschutz aussieht, damals dachte ich noch, ich würde gern mal sehen, wie das alles wirklich funktioniert. Aber als der Krieg angefangen hatte, dachte ich das nicht mehr. Ich wollte es nicht sehen. Die Soldaten verschlossen die Ausgänge von der einen Seite, das war nur von innen möglich. Es ist beängstigend.
Unser Haus in Kiew lag hundert Meter von einem Fernsehturm entfernt, gleich neben den Verteidigungsanlagen, die würde man sicher beschießen. Und weil die russischen Raketen nicht sehr präzise sind, wussten wir, welche Folgen das haben könnte. Als sie versuchten, den Turm zu treffen, starben fünf Zivilisten, eine Familie, die mit ihrem Hund spazierenging, und mit einem Kinderwagen.
Ein russischer Stoßtrupp mitten in Kiew
Deshalb beschlossen wir, lieber noch bei unseren Freunden zu bleiben. Wir holten die Katze, packten ein paar Sachen zusammen und fuhren wieder los. Unterwegs wollten wir noch Blut spenden, aber da warteten bereits so viele Leute, die Blut spenden wollten, dass es an diesem Tag einfach nicht mehr möglich war. Wir blieben eine Woche lang bei unseren Freunden.
In dieser Woche kam ein russischer Stoßtrupp zu der Metrostation Berestejska. Sie wurden alle eingefangen, aber trotzdem hatte man ein Gefühl von Angst und von etwas Surrealem, das man nie wieder vergisst. Denn die russischen Truppen waren mitten in Kiew, genau da, wo ich immer mit dem Fahrrad unterwegs war, am Park. Wir saßen einfach nur da, schauten ununterbrochen Nachrichten, fünf Tage lang habe ich nicht gearbeitet, ich konnte es einfach nicht.
In dieser Zeit lernten wir in der Metro sehr viele Leute kennen. Einmal, an einem Freitag, wollten wir dort übernachten, wir hatten nichts weiter dabei, nur ein paar Snickers und eine Thermoskanne mit Tee. Aber als wir schon dort waren, wurde eine dreitägige Ausgangssperre verhängt, das heißt, alle, die gerade in der Metro waren, mussten die ganzen drei Tage bleiben. Und die, die gerade zu Hause waren, durften diese drei Tage lang nicht nach draußen.
Polizei und Armee patrouillierten durch die Stadt und suchten russische Sabotage- und Spionagegruppen (Diversions- und Aufklärungstrupps, DRGs; Red.). Und wir saßen in der Metro fest. Aber tatsächlich ist man dort sehr gut versorgt, es gibt Toiletten, Duschen, Wasser, sogar humanitäre Hilfe konnte man dort bekommen. Wie eine andere Realität. Kinder, Hunde, Katzen, neue Freunde, eine Situation wie beim Camping.
Ich schaute die Menschen an und staunte, dass sie nicht in Panik waren. Als wäre alles ganz normal. Die Menschen fuhren mit der Metro, übernachteten in der Metro, mit Decken, Käfigen und Kindern. Mir aber kamen jedesmal die Tränen. Es war so unglaublich schrecklich, was Russland uns antat, es zwang die Menschen, in der Metro zu leben.
Ich glaube, die Menschen waren so ruhig, weil sie irgendwie akzeptiert hatten – komme was wolle, ich mache einfach weiter, was ich machen kann. Das war die vorherrschende Stimmung.
Flucht: „Kinder dürfen den Krieg nicht sehen“
Wir arbeiteten die ganze Zeit online, meine Freundin für die DIJA (eine staatliche Plattform für Dokumentenverarbeitung; Red.), ich für die Nachrichtenagentur. Deshalb war es für uns nicht machbar, in der Metro zu leben. Länger als eine Woche bei unseren Freunden zu bleiben, das wäre für sie auch eine Zumutung gewesen. Und zurück nach Hause, davor hatten wir Angst.
Die Idee, einen sinnlosen Tod zu sterben, gefiel mir ganz und gar nicht. Deshalb beschlossen wir irgendwann, nach Deutschland zu fahren. Nach drei Tagen Fahrt durch die Slowakei und Tschechien kamen wir dort an. Nicht über Polen, denn dort gab es riesige Warteschlangen und sehr viele Frauen mit Kindern, wir wollten uns einfach nicht vordrängeln. Ich finde, die Kinder muss man zuerst retten. Kinder dürfen den Krieg nicht sehen.
Von Kiew aus fuhren wir bis Uschhorod, dann gingen wir zu Fuß über die Grenze und kamen in die Slowakei, von da aus einen halben Tag bis Bratislava. Dort übernachteten wir bei freiwilligen Helfern, und am nächsten Morgen waren wir schon in Wien. Dann fuhren wir einfach mit dem Zug weiter bis Dortmund. Dort blieben wir etwa eine Woche, dann fanden wir in Berlin zufällig Leute, die uns mit der Unterkunft halfen.
Wir hatten früher schon einmal überlegt, für ein paar Jahre in einem anderen Land zu leben, schon damals wollten wir nach Deutschland, gerade nach Berlin. Meine Freundin spricht spanisch, ich französisch, aber Deutsch können wir beide nicht. Deshalb wählten wir Berlin, weil das eine internationale Stadt ist; hier gibt es viele unterschiedliche Menschen, und viel Arbeit.
Im Augenblick arbeiten wir nicht. Wir werden jetzt Integrationskurse besuchen. Wir wollen in Berlin bleiben. Ich bin Deutschland und den Menschen hier riesig dankbar. Auf der menschlichen Ebene erfahre ich hier eine Menge Unterstützung. Den ganzen Weg von der Grenze an hat man uns geholfen, und man hilft uns immer noch.
Sprache und Kultur: Manipulationen von außen
Was die Sprache betrifft: Als Philologin kann ich sagen, die Sprache ist die Matrize, innerhalb derer wir denken. Wir formen sie, und sie formt uns. In der Ukraine war die Situation mit der Sprache immer sehr flexibel, und jetzt verstehe ich, dass alle Manipulationen zu dem Thema von außen kamen.
In den westlichen Regionen der Ukraine sprechen die Menschen ukrainisch, verstehen aber im Allgemeinen russisch. In den östlichen und südlichen Regionen spricht man im Wesentlichen russisch. In den Institutionen wird ukrainisch gesprochen und geschrieben, alle Dokumente werden in der Amtssprache ausgefertigt, auf ukrainisch, was ich für einzig richtig halte.
Die Ukraine hat eine lange Geschichte der Nationwerdung und des Kampfs um ihre Unabhängigkeit. Jemand hat einmal gesagt, dass die ukrainische Sprache ihre Funktion bei der Schaffung einer Nation noch nicht erfüllt hat. Deshalb ist sie sehr wichtig. Ich denke, von nun an wird es bei uns nie mehr Diskussionen über den Status der russischen Sprache in der Ukraine geben. Es wird bei uns für alle eine einheitliche ukrainische Sprache geben.
Es macht mich ein wenig traurig, weil wir einen Teil der russischen Kultur, der mir wertvoll scheint, unwiederbringlich verlieren. Aber der Preis, den man dafür zahlen müsste, um diese Kultur zu wahren, ist maßlos. Diesen Preis will ich für keine russische Kultur zahlen. Ich will, dass meine Kinder mehr in die ukrainische Kultur hineinwachsen, die sehr reich und schön ist. Oder in irgendeine andere europäische Kultur, nur nicht in die russische.
Ich denke, die Menschen in Europa wissen sehr wenig über die ukrainische Kultur. Obwohl wir in den vergangenen zehn Jahren große Fortschritte auf dem Filmmarkt gemacht haben – das unabhängige ukrainische Kino steht gut da auf den europäischen Festivals. Ich weiß das, weil ich Filme übersetze. Und meine Freundin hat selber Filme gedreht, als Kamerafrau und als Regisseurin. Sie hat einen Film über ihren Vater gemacht, im schon besetzten Donezk. Das war ein sehr therapeutischer Film.
Nach der Revolution der Würde, nach dem Majdan, entstand bei uns sehr viel neue ukrainische Musik, neues ukrainisches Kino, neues Theater. Es entstand ein ukrainisches Filminstitut und das Dovzhenko-Center , das sich mit der Aufarbeitung des ukrainischen Filmerbes befasst . Und die ukrainische Sprache selbst wurde ein kultureller Code, er ist jetzt modern. Es wurde modern, ihn zu verwenden und die eigenen Leute an diesem Zeichen zu erkennen.
Vor allem im Ausland ist das sehr angenehm. Das ist jetzt wie eine Markierung, wer zu dir gehört und wer nicht. Das zeigt, wie unterschiedlich wir Gut und Schlecht begreifen. Noch vor Kurzem dachte ich, dass alle Menschen das ungefähr gleich verstehen. Aber dann stellte sich heraus, dass es nicht so ist.
Außerdem führte das zur Entwicklung eines nationalen Selbstbewusstseins. Die Menschen fingen an, ukrainisch zu sprechen; nur weil sie Ukrainer sind, weil das super ist. Nicht nur aus Opposition gegen etwas Fremdes, Fremdartiges, Feindliches. Sondern zur Selbstbehauptung als Ukrainer.
Mit Jewgenija Melnik sprach Tatiana Firsova am 25.8.2022. Sie übernahm auch die Transkription mit Unterstützung von Anastasiia Kovalenko. Aus dem Russischen übersetzt haben Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann.
Wie die Interviews entstehen
In dieser KARENINA-Serie kommen Zeitzeugen aus der Ukraine und Russland zu Wort. Wir möchten nicht nur erfahren, was die einen bei der Flucht vor dem Krieg, die anderen bei der Flucht vor Unterdrückung sowie sie alle im Exil erlebt haben, sondern auch verstehen, wie sie denken. Deswegen fragen wir sie nicht nur über das Erlebte, sondern auch über ihre persönlichen Gedanken zum Geschehen in Osteuropa.
Unsere Gesprächspartner eint unabhängig von Alter, Ausbildungsniveau, Muttersprache und Beruf der Wunsch, ihre Geschichten mit uns zu teilen.
Die Interviews dauern unterschiedlich lang: von etwa 20 Minuten bis zu mehr als zwei Stunden. Viele erzählen gerne und sprechen sehr offen, andere sind zurückhaltender. Wir halten unsere Fragen offen, lassen erzählen, nicht antworten. Das führt manchmal zu sehr langen Texten. Aber werden dabei offener, reicher.
Wir kürzen die Ergebnisse wo nötig, um den Text lesbarer zu machen. Aber die Wortwahl bleibt die der Sprechenden. So bleiben die Erzählungen authentisch. Es sind allesamt individuelle Zeugnisse von „Flucht und Exil“ mitten in Europa.
Lesen Sie weitere „Interviews gegen das Vergessen“ aus der KARENINA-Serie „Flucht und Exil“.