Tränen, Hoffnung und ein Luftkuss
Eine Russin als freiwillige Helferin bei den ukrainischen Kriegsvertriebenen am Berliner Hauptbahnhof
Auf der Bank im Zelt der Berliner Stadtmission am Hauptbahnhof sitzt Vera und starrt ins Nirgendwo. Sie ist Mitte sechzig, schlank, trägt ein bescheidenen braunen Mantel und eine kleine Mütze. Neben ihren Füßen stehen Gepäcktaschen, auf dem Tisch vor ihr ein Pappbecher mit Borschtsch, Rote-Bete-Suppe, die ihr jemand nach ihrer Ankunft aus der Ukraine gegeben hat. Ihre Hände umfassen das Gefäß, als wollte sie es schützen. „Bitte, bring die Suppe Nina“, sagt sie nach einer Weile, „ich bitte dich herzlich. Nina möchte gern Borschtsch essen. Sie hat nichts gegessen und drei Nächte lang nicht geschlafen.“
Nina ist Veras Tochter. Nina, Vera und Stas, das Enkelkind, sind am Sonntag aus Mykolajiw (russisch: Nikolajew) angekommen, einer Stadt in der südlichen Ukraine mit etwa 480 000 Einwohnern. Vera und Nina wissen nicht, was aus ihnen werden soll. In Deutschland kennen sie niemandem. Als die Familie in Berlin ankam, brach Stas zusammen. Er ist 13 und hat ASS, Autismus-Spektrum-Störungen. Jetzt schläft er in einem der Container des Roten Kreuz am Washingtonplatz vor dem Berliner Hauptbahnhof.
Während wir auf Sanitäter warten, die den Jugendlichen zum Bus bringen sollen, der die Familie zur Unterkunft transportiert, rede ich mit Vera. Verzweifelt fragt sie mich, was sie jetzt tun solle, was sie tun müsse. Sie spricht, aber es klingt wie Weinen.
Freiwilligendienst bei der Berliner Stadtmission
Ich helfe als Freiwillige im Zelt der Berliner Stadtmission, begleite Menschen, bringe sie an die richtigen Stellen, übersetze für sie, reinige die Tische und rufe bei besonders schutzbedürftigen Fällen (davon gibt es viele) den Krisenstab. So wie bei Stas. Der Krisenstab organisiert für Stas und seine Familie eine spezielle Unterkunft in Reinickendorf, Karl Bonhoeffer Nervenklinik. Dort ist das Ankunftszentrum für alle aus der Ukraine Geflüchteten.
Vera spricht mit mir in einer Mischung aus Ukrainisch und Russisch. Ich spreche nicht Ukrainisch, und ich bin sicher, dass sie meinen Moskauer Akzent sofort erkannt hat. „Während der Flucht habe ich ein Gedicht geschrieben, auf Ukrainisch. Ich lese es dir vor, ich weiß, du wirst es trotzdem verstehen. Darf ich es dir bitte vorlesen?“
Und sie liest. Vom Gedicht verstehe ich nur wenig, es geht um den Krieg und den Schmerz.
Dann kommen die Sanitäter mit einem Rollstuhl, sie bringen, gemeinsam mit Mitarbeitern der Bahnhofsmission und Ehrenamtlichen wie mir, die Familie und deren Gepäck zum Bus. Sie steigen ein, Vera schaut aus dem Fenster, winkt mir zu und drückt ihre Hände auf ihr Brust. Ihr Abschiedsgruß. Sie weiß, dass ich Russin bin.
Frauen, Kinder, ältere Leute
Am vergangenen Samstag und Sonntag, dem 13. März helfe ich als Freiwillige von 16 Uhr bis Mitternacht im Zelt der Berliner Stadtmission am Hauptbahnhof, in der Woche davor im Bahnhof. Im Zelt am Washingtonplatz bekommen Flüchtlinge Essen und medizinische Hilfe, von dort werden sie zu Unterkünften gebracht.
Wer ein Ziel hat, Freunde oder Verwandte in anderen Ortschaften, darf kostenlos weiterfahren; die Deutsche Bahn verteilt kostenlose Fahrkarten. Wer erst am nächsten Tag weiterfahren kann oder will, kann in einem Zug schlafen. Wer ohne Ziel gestrandet ist, wie Nina und Vera, wird mit Sonderbussen zu Unterkünften gefahren. Vor einer Woche waren das noch Hotels, am Sonntag brachte man sie nach Reinickendorf und zum Messegelände, wo provisorische Schlafräume eingerichtet sind.
Es sind überwiegend Frauen mit Kindern und ältere Menschen, die in Berlin ankommen. Am Sonntag brachte ich eine ukrainische Babuschka zum Bus, die allein aus der ukrainischen Stadt Sumy geflohen war. Sie trug zwei kleine Stofftaschen bei sich. Zur Unterkunft begleiten ließ sie sich nicht. „Es ist alles in Ordnung“, sagte sie, „ich schaffe das.“ Und stieg in den Bus.
Am selben Tag kam eine siebenköpfige Familie ins Zelt, drei Generationen mit einem sieben Tage alten Säugling und einem kleinen chinesischen Schopfhund. Sie waren mit dem Auto gereist. Nun wollten sie eine Nacht in einem Hostel ausruhen und überlegen, wohin die Reise gehen soll. Nicht alle haben Geld für solch eine Unterkunft.
Zwei ältere Menschen wollten gleich weiterfahren. „Ich will nach Bayern“, sagte die Frau. Wohin genau? Ihr Mann mit einer abgetragenen Jacke über den Schultern schaute etwas entnervt und sagte: „Sie will nach Bayern, was kann ich machen? Sie will nach Bayern fahren.“ Und dann fragte er schüchtern: „Darf ich mir auch eine Suppe nehmen?“ Die Mitarbeiterin des Sicherheitsdienstes, die neben mir stand, schaute mich ungläubig an und flüsterte. „Der arme Mann traut sich nicht mal zu, eine Suppe zu nehmen.“
Am Abend stand eine Großfamilie Sinti und Roma aus Krywyj Rih um mich herum, etwa 50 Menschen, Frauen und Kinder einige Jugendliche. Das Zelt war zu klein für die ganze Familie. Ein 16-jähriger Junge, Misha, redet sehr aufgeregt auf mich ein; die ganze Familie müsse unbedingt zusammenbleiben, sagt er. „Sie sind Analphabeten, sie werden sich hier sofort verlieren! Das ist eine ganze Familie, wir dürfen nicht geteilt werden.“
Wer brachte diese ganze Familie aus der Ukraine nach Berlin, fragte ich, und wo sind die Männer? „Ich habe es gemacht“, sagte er. „Die Männer durften nicht ausreisen.“
Ich habe in der vergangenen Woche mit zahlreichen Geflüchteten aus der Ukraine gesprochen und viele persönlich betreut. Auf meinen Moskauer Akzent haben alle sehr freundlich reagiert und ausnahmenlos alle haben sich bedankt.
Eine dreiköpfige Familie aus Charkiw (Mutter und zwei Töchter, sieben und elf Jahre alt) wollte nach Süden reisen, sie hatten nur wenig Gepäck. Ich begleitete sie zum Zug, und als er losfuhr, sandte mir das kleinere der beiden Mädchen einen Luftkuss.
Ich werde am kommenden Wochenende wieder im Zelt am Washingtonplatz helfen.