Belarus: ‚Die Opposition lebt‘

Swetlana Tichanowskajas anrührende und kraftvolle Helmut Schmidt Lecture in Berlin

Belarusische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja
Starke Rede in Berlin: Swetlana Tichanowskaja

Wie erklärt eine Mutter ihrer sechsjährigen Tochter, dass ihr Vater nicht bei ihnen sein kann, weil ein Diktator ihn hat einsperren lassen? Swetlana Tichanowskaja sagt ihr, er könne Belarus nicht verlassen, er könne nicht zu ihnen kommen – wegen Corona. Herzzerreißend.

In ihrer Helmut Schmidt Lecture in Berlin kam die führende belarussische Oppositionspolitikerin, die im Exil in Litauen lebt, sofort zum derzeit wichtigsten Thema: die Konstruktion eines Zauns, um den Zustrom von Migranten über die belarussische Grenze nach Litauen, Polen und Lettland zu stoppen. „Dieser Flüchtlingsschmuggel ist orchestriert vom autoritären belarussischen Herrscher.“

Belarus plane, seine Flughafenkapazitäten und die Zahl der Flüge aus den Nahen Osten auszubauen. Fünf weitere Airports würden bald für Flüge aus Damaskus, Dubai und Istanbul geöffnet.

„Lasst uns keine Zäune bauen“, sagte Tichanowskaja dessen ungeachtet. „Lasst uns stattdessen eine starke Demokratie bauen. Lasst uns Demokratie leben. Das ist, was Deutschland und Europa am besten können.“

Politik gegen den Willen des Volks

Sie verwies auch auf ein Thema, das „wenig oder kaum Beachtung in Europas Medien gefunden“ habe: Kürzlich haben Wladimir Putin und Aleksander Lukaschenko 28 Vereinbarungen für gemeinsame Programme unterzeichnet, darunter auch solche, die militärische Zusammenarbeit „um die Zusammenarbeit und ökonomische Integration zu verstärken“. Das, so Tichanowskaja, „geschieht gegen den Willen des belarussischen Volks“.

Tichanowskaja war 2020 Präsidentschaftskandidatin in Belarus. Das war ihrem Ehemann, dem Blogger Sergei Tichanowski, zuvor verwehrt worden, der schließlich am 29. Mai 2020 wegen der Teilnahme an einer nicht angemeldeten Demonstration inhaftiert wurde. Zwei Tage nach Bekanntgabe des offiziellen, offenkundig gefälschten Wahlergebnisses (80 Prozent für Lukaschenko) hätten, wie sie in Berlin sagte, „zwei Sicherheitsleute ein düsteres Bild von der Zukunft ihrer Kinder gezeichnet, wenn beide Eltern im Gefängnis sitzen, und mich genötigt, das Land zu verlassen. Ich war am Boden zerstört und hatte Angst.“

In ihrem Land seien seit den Wahlen im August 2020 rund 37 000 Menschen inhaftiert worden, derzeit gebe es 834 politische Gefangene, Tendenz steigend. Tausende hätten das Land verlassen. Allein Polen habe bis August 2021 rund 150 000 Visa für Belarussen im Exil ausgestellt.

Im anschließenden Gespräch mit Matthias Nass von der Wochenzeitung Die Zeit plädierte Tichanowskaja für weitere Sanktionen gegen Belarus. Sie nannte als Ziel staatliche Banken, „das würde das Regime direkt treffen“. Nach vier Sanktionsrunden der EU sind derzeit die staatliche Fluglinie, die Kali-Industrie sowie 166 Personen und 15 Unternehmen betroffen.

Tichanowskaja ließ keinen Zweifel daran, dass sie das für nicht ausreichend hält. Das Momentum sei verpasst worden, als die Demonstrationen ihren Höhepunkt erreicht hatten. Damals seien nur wenige Personen auf die Sanktionsliste gesetzt worden.

In der jetzigen Lage wünsche sie sich Deutschland als Vorbild, offenbar erwartet sie härtere Maßnahmen gegen Lukaschenkos Regime. „Wenn Deutschland vorangeht, werden andere Folgen.“ Deutschland könne auch als Mediator dienen, gemeinsam mit anderen. Zu Gesprächen mit der Opposition sei das Regime allerdings nicht bereit.

Die Opposition bereitet sich vor

Sie räumte ein, dass Lukaschenko noch immer Unterstützung in Teilen der Bevölkerung finde, denen eine sichere Rente wichtig sei und die mangels Auslanderfahrung sich nicht vorstellen könnten, dass die Welt besser sein könnte. Aber: „Die Mehrheit will Veränderung.“

Darauf bereite sich ihre Bewegung vor, so Tichanowskaja. Im Untergrund arbeiteten viele Freiwillige daran, Strukturen zu bilden, sie sprach auch von einem landesweiten Streik, der beginne, wenn die Zeit reif ist. „Die zweite Welle des Aufstands wird kommen.“

Wird sie wieder ins zweite Glied zurücktreten, wenn es so weit sei, fragte Nass? Sie sei keine Politikerin, hatte sie vor den Wahlen 2020 gesagt, und wolle sich nach demokratischen Wahlen zurückziehen. „Ich möchte meine Familie zurückhaben und wieder Frikadellen braten!“ In Berlin antwortete sie, sie stelle sich zur Verfügung, solange sie gebraucht werde. Frauen in Belarus hätten gezeigt, dass sie in Unternehmen, in der Politik und in der Familie leiten können. Sie würden nicht wieder abtreten. „Die Männer werden damit zurechtkommen müssen.“ Schrille Jauchzer aus dem Publikum.

Die vollständige Rede von Swetlana Tichanowkskaja ist auf deren Webseite dokumentiert.

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