Putins Propaganda mit Landkarten

Ist Putins Einmarsch in der Ukraine nur eine Folge der „Zwänge der Geografie“?

von Norman Henniges
Ukraine
Der "Beweis", dass die Ukraine gar nicht als eigenständiger Staat existieren dürfe.

Gleich zu Beginn des Kriegs gegen die Ukraine wurde im staatlichen russischen Fernsehsender Rossija 24 eine Karte gezeigt, die Putins expansive Zielsetzungen maßgeblich unter Rückgriff auf die Geschichte rechtfertigte. Die Karte wurde unter anderen über den Nachrichtdienst Telegram und das russische Online-Newsportal Gazeta.ru verbreitet.

Wer sich ein wenig mit historischen Karten beschäftigt, wird bei der Betrachtung ein Déjà-vu-Erlebnis haben, denn das völkische Konzept der „Russkiy Mir“ (zu Deutsch russische Welt) erinnert in seiner kartografischen Umsetzung an geopolitische Raumbilder der 1920er-Jahre. Wie diese enthält auch die russische Karte farbig markierte Einflusszonen und historische Gebietsansprüche.

Vom Kiewer Rus bis hin zu den „Schenkungen“ von Gebieten unter den Zaren sowie den kommunistischen Führern Lenin, Stalin und Chruschtschow werden dem Betrachter 350 Jahre russische Geschichte präsentiert und unmissverständlich dargelegt, dass die Ukraine demnach gar nicht als eigenständiger Staat existieren dürfe.

Die Brisanz dieser Karte wird im Vergleich deutlich. Was wäre, wenn die heutige Bundesrepublik solche Ansprüche auf die bis 1918 oder 1945 zu Deutschland gehörigen Gebiete erheben würde? Beriefe sich Deutschland gar auf das Heilige Römische Reich in seiner größten Ausdehnung, so müssten größere Regionen oder sogar Länder in Mitteleuropa um ihre Selbständigkeit bangen oder aus ihrem heutigen Staat herausgelöst werden.

Allein die zeitliche Ausdehnung zeigt die Widersinnigkeit der Argumente. Wo sollte man anfangen und wo aufhören? Denn genauso könnten nun auch andere Staaten zur Wiederherstellung ihrer vormaligen Imperien aufrufen. Es würde in eine unendliche Geschichte alter und neuer Konflikte führen. Was in dieser sowohl völkischen als auch imperialen Logik vollkommen ignoriert wird, ist das Selbstbestimmungsrecht von Menschen, das vermeintlich historischen, kulturellen und nicht zuletzt geografischen Argumenten radikal untergeordnet wird.

Renaissance der Geopolitik?

Welche Folgen das unkritische Lesen von Raumbildern auf das Denken haben kann, zeigen die geopolitischen Karten deutscher Schulatlanten, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine regelrechte Blüte erfuhren. Für die machtpolitischen Zielsetzungen wurden die unterschiedlichsten Argumente herangezogen.

Neben der Verbreitung von Völkern, Rassen oder der Beanspruchung historischer Grenzen, wurde vor allem die Natur selbst ermächtigt. Berge und Flüsse wurden zu Akteuren auf der Bühne der Geopolitik, die je nach Zielsetzung Grenzen markieren konnten oder als leitend für das Handeln eines Staats angesehen wurden. Ethnien wurden aufgrund dieser Argumente, teils ohne jede Rücksicht, in staatliche Gebilde einverleibt. Grenzen wurden auf dem „grünen Tisch“ mit dem Buntstift gezogen, ohne die dort lebenden Menschen zu fragen. Mithilfe dieser Karten ging der „Krieg in den Köpfen“ nach dem Ersten Weltkrieg weiter und leitete direkt zum nächsten Weltkrieg über.

Befinden wir uns nun wieder in einem neuen Zeitalter der Geopolitik? Folgt man den Büchern und Vorträgen von Tim Marschall, scheint vieles dafür zu sprechen. Die Bücher des britischen Journalisten finden in jüngerer Zeit eine hohe Verbreitung und die Verkaufszahlen dürften während der aktuellen Krise noch weiter hochschnellen. „Die Macht der Geographie“ (2016) und „Die Macht der Geographie im 21. Jahrhundert“ (2021) wurden in Besprechungen der großen Tageszeitungen hochgelobt und gelangten sogar auf die Spiegel-Bestsellerliste. Zudem erschien von Marschall ein buntes Kinderbuch unter dem faustischen Titel „Was unsere Welt zusammenhält“ (2020).

Was damit gemeint ist, erfährt man auf der Rückseite. So verspricht der Verlag, dass sich auf den bunten Karten „entdecken“ lasse, „auf welche Weise die Entscheidungen von Machthabern von Gebirgen, Flüssen und Seen beeinflusst“ werden. Der Tagesspiegel meinte 2020 in einem Artikel, dass dieses Werk ein „beeindruckender Grundkurs in Geopolitik für Kinder“ sei. Marshall mache mit seinem Buch neugierig und gebe der in der Schule marginalisierten Erdkunde mehr Gewicht. „Sein Buch erklärt, wie wirkmächtig geografische Gegebenheiten in der Politik sein können.“

Putin und die „Zwänge der Geografie“

Bereits vorab ließen Marschalls Darlegungen in „Die Macht der Geographie“ über das geopolitische Verhältnis von Russland zur Ukraine keine Zweifel darüber, was er für die Ursachen eines zukünftigen Kriegs hält. Darin beschreibt er die vermeintliche Wirkung der Natur auf die aktuelle russische Politik und nicht zuletzt auf Wladimir Putin selbst.

Marschall erklärt: „Hätte Gott in der Ukraine Berge geschaffen, dann würde das ausgedehnte Flachland der nordeuropäischen Tiefebene nicht zu Angriffen auf Russland einladen, wie es mehrfach der Fall war.“ Deshalb habe Putin, so Marschall, keine andere Wahl, als „die Ebene im Westen zu kontrollieren“. Ist Putin also ein Getriebener der „Zwänge der Geographie“, der unweigerlich in die Ukraine einmarschieren musste?

Auf den ersten Blick erscheinen Marschalls Argumente einfach und verständlich. Das erklärt auch den Erfolg seiner Bücher. Jedoch sind seine Schlussfolgerungen ebenso verfänglich wie irreführend, denn Marschall baut auf Raumtheorien des 19. Jahrhunderts auf, die konträr zum heutigen Stand der Forschung stehen.

Der Berliner Geograf Hans-Dietrich Schultz bringt die Kritik deutlich auf den Punkt: „Marshalls ewige Berge, Ebenen und Flüsse, wollen von sich aus nichts. Sie handeln nicht, diktieren nichts, erzwingen nichts, verführen zu nichts und ergreifen von sich aus keine Partei.“

Die Wirkung propagandistischer Karten

In die Linien von Gebirgsformen politische Handlungsanweisungen einzulesen, entspricht der Übertragung der Handlesekunst auf die Erdoberfläche. Es wäre in etwa so, als ob man in der jüngeren Forschung lange überwunden geglaubte wissenschaftliche Sackgassen, wie die „Rassenkunde“ reaktivieren würde, um sie für den heutigen Schulunterricht zu empfehlen.

Zweifellos dürfen die von den natürlichen Ressourcen bis hin zum Klimawandel reichenden geografischen Aspekte keineswegs negiert werden. Nur sind es nicht die natürlichen Gegebenheiten oder die Geschichte, die das politische Handeln zwangsläufig festlegen, sondern die Interessen und Machtansprüche der menschlichen Akteure. Diese spiegeln sich auch in den kartografischen Darstellungen wider.

Kurzum, Karten sind keine neutralen Abbilder der Wirklichkeit. Ihre Wirkmächtigkeit auf den Betrachter ist nicht zu unterschätzen und die darin verborgene Rhetorik kann sich leicht in den Köpfen von Menschen verfangen, gerade weil Karten für sich zu sprechen scheinen und im Alltag kaum kritisch hinterfragt werden. Das gilt übrigens nicht nur für die Raumvorstellungen der Anderen, sondern auch für unsere eigenen Raumbilder und deren mediale Umsetzung.

In der aktuellen Situation ändert diese Feststellung jedoch nichts daran, dass die von Rossija 24 gezeigte Karte allein Putins Krieg dient und dazu beiträgt, dass Menschen verletzt oder sogar getötet werden. Das, was der Romanist Viktor Klemperer über die Sprache totalitärer Regime feststellte, lässt sich auch auf die bildliche Sprache propagandistischer Karten übertragen. Ihre visuellen Argumentationsmuster sind „wie winzige Arsendosen: Sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung da.“

Norman Henniges ist Sprecher des Arbeitskreises Geschichte der Geographie der Deutschen Gesellschaft für Geographie. Dieser Beitrag ist ursprünglich am 12.4.2022 im Rahmen der Open-Source-Initiative der Berliner Zeitung erschienen. Wir danken dem Autor und der Berliner Zeitung für die Erlaubnis, diesen Text auf KARENINA zu veröffentlichen.

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