Die Russen und die Nazis
Russen nennen Ukrainer und Westeuropäer Ungeziefer, Kakerlaken, Degenerierte. Das erinnert an die Nazi-Sprache
1960 hat der Schriftsteller Wassili Grossman das Manuskript seines Meisterwerks „Leben und Schicksal“ an die Literaturzeitschrift Znamia geschickt. Entsetzt über das Geschriebene, reichte es der Chefredaktor an den KGB weiter. Das Werk wurde sofort konfisziert. Denn die Lektion dieses großen Buchs – es umfasst mehr als tausend Seiten – war für die sowjetische Macht unerträglich. Grossman, der selber in Stalingrad gewesen war, legte darin dar, dass Nazismus und Kommunismus zwei verfeindete Brüder seien, die sich gerade deshalb so unerbittlich bekämpften, weil sie im Wesentlichen übereinstimmten.
Man weiß heute, welch große Faszination Hitler auf Stalin ausgeübt hatte, bevor Stalin seinerseits den „Führer“ faszinierte, als die Rote Armee die Wehrmacht zurückdrängte und in Ostpreußen einfiel. Der Fanatismus der Rasse und der Fanatismus der Klasse waren einander ebenbürtig, beide lieferten die Grundlage für Massenmorde. Diejenigen, die sich für Feinde hielten, waren eigentlich Zwillinge.
Doch dadurch, dass die Sowjetunion mit den Alliierten das „Dritte Reich“ zerschlagen hatte, ist diese Wahrheit lange verschleiert geblieben. Der Kalte Krieg und der Sieg der liberalen Welt über den Kommunismus haben dessen Gemeinsamkeiten mit dem Nationalsozialismus noch weiter verhüllt, und im Verlauf der Zeit ist eine neue Illusion entstanden: die Illusion, dass Russland den westlichen Weg eingeschlagen habe und dass die Zeit die Differenzen glätten würde, die nach dem ungeheuerlichen kommunistischen Zwischenspiel zwischen Russland und dem Westen bestanden. Die völlig legitime Kritik am sowjetischen Totalitarismus hat uns den Blick auf die despotische Natur verstellt, die schon dem alten Russland eigen gewesen war.
Nun entlarven der Krieg in der Ukraine und Putins Despotismus die russische Demokratie als Farce. Sie hat bestenfalls fünfzehn Jahre gedauert, und auch das nur unter dem Zepter des Trunkenbolds Boris Jelzin, der die Demokratie einer Anarchie anglich und die Herrschaft einer extravaganten, korrupten Elite begünstigte, die ihre Konflikte mit Kalaschnikow-Schüssen zu regeln pflegte.
Auch in dieser Hinsicht hat Wassili Grossman eines der Grundgesetze seines Landes erkannt. Während sich die Geschichte des Westens als Geschichte einer allmählichen Erweiterung der Freiheit präsentiert, erzählt die russische Geschichte von der umgekehrten Entwicklung, von einer allmählichen Erweiterung der Knechtschaft. Oder wie Grossman sagte: „Mit einer jahrtausendealten Kette waren der russische Fortschritt und die russische Sklaverei aneinander gefesselt. Jeder Aufschwung ins Licht hat den schwarzen Graben der Unterjochung vertieft.“
Russland: Retter der Welt?
An diesem Punkt stehen wir. Nach rund zwanzig Jahren des Zauderns haben Putin und sein Stab aus Oligarchen und Lakaien den Krieg gegen die Ukraine gestartet, durstig nach Rache gegen Europa und den Westen und in der Überzeugung, Wolodymyr Selensky und seine „Nazi“-Clique innert weniger Tage aushebeln zu können. Doch die militärischen Rückschläge und das Erwachen Europas und Amerikas beweisen, dass der Despotismus nur dann eine Zukunft hat, wenn die Demokratien schlafen. Wir haben die Macht der ehemaligen Roten Armee über-, die Barbarei aber unterschätzt, in der Russland bis heute lebt.
Es lohnt sich, noch einen anderen Text eines russischen Schriftstellers in Erinnerung zu rufen, „A World Split apart“, eine Rede, die Alexander Solschenizyn 1978 in Harvard gehalten hat. Das Referat hat einen Skandal ausgelöst. Denn anstatt sich in seiner Rede bei den USA dafür zu bedanken, dass sie ihm als Dissident Unterschlupf gewährt hatten, führte Solschenizyn in seiner Rede eine heftige Anklage gegen den Westen. Dieser habe einen zügellosen Materialismus und eine allumfassende Mediokrität herbeigeführt, und vor allem sei er schuld daran, dass das religiöse Empfinden verlorengegangen sei.
Zudem erklärte Solschenizyn, dass die Gewalt, der die Völker im Osten über Jahrhunderte ausgesetzt gewesen seien, starke Persönlichkeiten hervorgebracht habe, wie man sie im Westen nicht mehr finde. Man glaubt ihm das gerne, schließlich war er selber ein Beispiel dafür: Solschenizyn wurde niedergemacht und hat sich zum Riesen entwickelt. Aber muss man eine ganze Gesellschaft in Rohheit versinken lassen, um einige große Persönlichkeiten zu schmieden?
Solschenizyn war überzeugt, dass Russland, wenn der Kommunismus erst einmal weg sein würde, wieder das werden würde, was es eigentlich sein sollte: der spirituelle Führer der Christenheit, der Christus der Nationen, der Retter der Welt. Diese Hoffnung hat nun einen ziemlichen Dämpfer erhalten, um das Mindeste zu sagen. Denn eher als zum globalen Heilsbringer zu werden, ist Putins Russland mit seinen Grausamkeiten dabei, sich dem Regime der Nationalsozialisten anzugleichen, Rassismus und Antisemitismus inklusive.
Ein „Brudervolk“ aus Nazis und Degenerierten
Der Kreml spricht von den ukrainischen „Nazis“ auf genau dieselbe Weise, wie die Nazis von den Juden, den Zigeunern und den Slaven gesprochen haben: Sie werden als Ungeziefer bezeichnet, das es zu vernichten gelte. Kakerlaken und kleine Mücken: Mit solchen Worten wird am russischen Fernsehen über die Ukraine geredet.
Dmitri Medwedew wiederum hat Vertreter des Westens als „Degenerierte“ bezeichnet – auch das erinnert an die nationalsozialistische Propaganda, die auf die „entartete“ Kunst der Modernisten, Kubisten, Expressionisten spuckte. Je mehr der Kreml die ukrainischen „Nazis“ geißelt, desto stärker nähert er sich selber dem Nationalsozialismus an.
Schließlich verdreht Russland die Dinge auch noch in einem anderen Bereich, jenem der familiären Beziehung, wenn man so will. Eigentlich ist Russland die Tochter der Ukraine. Doch jetzt geriert es sich als beschützende Mutter, die sich gezwungen sieht, ihren auf Abwege geratenen Spross zu züchtigen. Kiew war das Zentrum von Altrussland, der Kiewer Rus, einem ostslawischen Großreich, das vom 9. Jahrhundert an bestand. Kiew existierte lange vor Moskau und war auch schon früh eine der heiligen Stätten der Orthodoxie.
Die Verwandtschaftsbezeichnung, die Putin selber häufig verwendet, ist jene des „Brudervolks“, das die Ukrainer angeblich darstellten. Dabei ist gerade der Begriff der Brüderlichkeit schwer belastet und auf schreckliche Weise doppeldeutig. Man denke an all die blutigen Regime, welche die Brüderlichkeit als entscheidendes Bindeglied zwischen den Menschen priesen – und Millionen unter Terrorherrschaften leiden ließen. Denn um die Brüder zu einen, muss man zuerst immer viele von ihnen ausschließen, all die Ungläubigen, die Schismatiker, die „Nazis“.
Brüderlichkeit oder Tod: Es ist bekannt, welch durchschlagenden Erfolg diese Formel zur Zeit der Französischen Revolution gehabt hat. Man begann damit, sich aufs Evangelium zu berufen – die Jünger Jesu seien auch alle Brüder gewesen, gleich und frei, betonte 1791 ein Priester –, und endete in der Hölle: Die Brüder schickten sich gegenseitig wegen Verrats aufs Schafott.
Später hat der Kommunismus immer wieder Kameraden und Weggefährten eliminiert, die der Revolution und dem Genossen Stalin bis an den Fuß des Galgens die Treue schwuren. Aus ihrem Henker machten sie einen Wohltäter, dessen Schläge zum Segen – gibt es ein besseres Beispiel für einvernehmliche Knechtschaft?
Die Rhetorik von den Brüdern darf uns genauso wenig in die Irre führen wie die geografische, die historische oder die kulturelle Nähe zwischen der Ukraine und Russland. Die beiden Länder sind sich nicht brüderlicher verbunden als Frankreich und Spanien, zwei lateinische Schwestern mit erheblichen Unterschieden. Und vor allem dürfen die oberflächlichen Ähnlichkeiten nicht über eine fundamentale Differenz hinwegtäuschen: Die Ukraine ist in Europa, Russland wird es, wie die Türkei, niemals sein. Das liegt nicht nur an einer territorialen Grenze. Sondern an einer Grenze der Zivilisation.
Der Schriftsteller und Philosoph Pascal Bruckner lebt in Paris. Beim vorliegenden Text handelt es sich um die leicht gekürzte und redigierte Fassung eines Referats, das der Autor im Juli bei den „Tocqueville Conversations“ gehalten hat. Dieser Beitrag ist ursprünglich am 25.7.2022 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung – Aus dem Französischen übersetzt von cmd.