Was will Russland mit Moldau?
Furcht vor Anschluss an Rumänien führte 1992 zum Aufstand in Transnistrien, den Russland unterstützte
Im Jahr 1991 erlebte Europa den Zerfall von zwei slawisch geprägten Vielvölkerstaaten, der Sowjetunion und Jugoslawiens. Doch während Jugoslawien kriegerisch zerbrach, löste sich die UdSSR vergleichsweise friedlich auf.
Zu Blutvergießen kam es allerdings 1992 im äußersten Südwesten des aufgelösten Imperiums, in der Republik Moldau. Dort nahm der Konflikt ein jugoslawisches Muster an, nachdem in der moldauischen Hauptstadt Chișinău am 27. August 1991 die staatliche Unabhängigkeit proklamiert worden war.
Die Mehrheit in Moldau spricht Rumänisch (im Land selbst auch Moldauisch genannt), doch eine maßgebliche Minderheit von etwa einem Drittel der Bevölkerung ist russischsprachig. Im vergleichsweise stark industrialisierten östlichen Landesteil Transnistrien am linken Ufer des Dnjestr ist Russisch sogar die dominierende Sprache. Ein erheblicher Teil der dortigen Bevölkerung fürchtete vor drei Jahrzehnten, die neu entstandene Republik könne sich Rumänien anschließen.
Zu Rumänien wollte man in Transnistrien jedoch auf keinen Fall gehören. Ein von Russland unterstützter bewaffneter Aufstand brach aus, und der Osten sagte sich vom Rest des Landes los. Unterstützt wurden die lokalen Separatisten von der ehemaligen 14. Armee der Sowjetunion, die seit April 1992 russischem Oberbefehl unterstand.
Der transnistrische Separatistenführer Igor Smirnow, ein aus Russlands fernem Osten stammender Funktionärssohn, der erst Ende der Achtzigerjahre nach Transnistrien übergesiedelt war, warnte: Allenfalls als Teil einer Föderation sei sein Landesteil bereit, weiter bei Moldau zu bleiben: „Das wird uns im Fall einer Vereinigung garantieren, dass wir nicht automatisch zu einem Teil Rumäniens werden. Das Land, auf dem wir leben, wird niemals rumänisches Land.“
„Wir haben Krieg mit Russland“
Tatsächlich gab es 1991 und 1992 in Chișinău eine Tendenz (oder zumindest eine politische Rhetorik) in Richtung eines Anschlusses an Rumänien, obwohl das ehemalige Reich des Diktators Nicolae Ceaușescu wirtschaftlich ebenso am Boden lag wie die einstigen Sowjetrepubliken. Dass Rumäniens Präsident Ion Iliescu im Mai 1992 Chișinău besuchte, beflügelte den transnistrischen Argwohn noch.
Von April an wurden die Kämpfe heftiger, es gab Hunderte Tote auf beiden Seiten. „Wir müssen die Dinge beim Namen nennen: Wir haben Krieg mit Russland“, sagte Moldaus Präsident Mircea Snegur im Juni 1992.
Kurz zuvor hatte sein russischer Gegenpart Boris Jelzin gedroht, Russland könne in die Kämpfe eingreifen – was es in Wirklichkeit über die 14. Armee schon lange tat. Jelzin und Snegur unterzeichneten am 21. Juli 1992 ein Abkommen zur friedlichen Beilegung des Konflikts. Moskau erkannte darin die territoriale Integrität der Republik Moldau an und versicherte, keine Ansprüche auf Transnistrien zu erheben. Am 29. Juli begann die Stationierung von gemeinsamen „Friedenstruppen“, die aus moldauischen, transnistrischen und russischen Soldaten zusammengesetzt waren und es bis heute sind.
Doch nicht nur über das eigene Kontingent in den „Friedenstruppen“ verfügt Russland bis heute über Soldaten auf moldauischem Boden. Auch mehrere Tausend Männer der russischen Armee sind weiter in Transnistrien stationiert. Die Truppe ist zwar nicht groß genug, um in die Kämpfe in der Ukraine maßgeblich eingreifen zu können, doch allein ihre Präsenz unterbindet allfällige moldauische Gedankenspiele über eine Rückeroberung Transnistriens schon im Ansatz.
Pseudo-Referendum im Jahre 2006
„Die Eskalation des Konflikts zwischen der Zentralregierung und den gewaltbereiten separatistischen Behörden ist der einzige Fall, in dem ‚Russen im nahen Ausland‘ ihre Partikularinteressen mit Gewalt durchgesetzt haben“, schrieb der Historiker Stefan Troebst zehn Jahre nach dem Blutvergießen über die Konstellation seit 1992. Zugleich sei Transnistrien der (damals) einzige Versuch einer „gestrandeten“ Minderheit von Russophonen, einen eigenen Staat zu bilden, so Troebst.
Die Separatisten gründeten einen eigenen Quasistaat, die „Transnistrische Moldauische Republik“. Die wird zwar bis heute von keinem anderen Staat anerkannt – bisher nicht einmal von Russland –, hat sich aber viele Attribute eines Staats zugelegt: eine Armee, ein Parlament, Ministerien, Sicherheitsdienste, Fernsehsender, eine Hauptstadt (Tiraspol) und auch eine eigene Währung, den transnistrischen Rubel.
Bei einem Referendum im Jahr 2006 stimmten sagenhafte 97,1 der Bevölkerung für einen Anschluss Transnistriens an Russland. Selbstverständlich fand die Volksbefragung nicht unter demokratischen Bedingungen statt. Das bedeutet allerdings nicht, dass sich nicht auch unter demokratischen Umständen eine Mehrheit in Transnistrien für Russland ausspricht.
Erst vor wenigen Tagen hat der transnistrische „Außenminister“ Witalij Ignatiew laut einem Bericht der russischen Staatsagentur Ria-Novosti unter Verweis auf das Referendum von 2006 gesagt, Transnistrien strebe nach „Unabhängigkeit mit anschließendem Anschluss an Russland“.
Wie ernst solche Ankündigungen zu nehmen sind, ist eine andere Frage. Die transnistrische Geschäftselite ist durchaus mit dem Istzustand einer von Moskau subventionierten und militärisch abgesicherten, aber nicht direkt kontrollierten Quasiunabhängigkeit zufrieden. Dass Transnistrien als Teil Russlands eine schwierig zu versorgende Exklave wäre, kommt hinzu.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 29.7.2022 erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.
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