Als in Kiew der Krieg begann
Weshalb russische Studenten im Juni 1941 Flugzeuge und Bomben der Nazis nicht ernst nahmen
Diesen Aufsatz schrieb Lena Rubanova, unsere Autorin, am 7. Mai 1965 als Schülerin der Klasse 11 B einer Moskauer Schule. Es sind die Erinnerungen ihrer Mutter, die ihrer Tochter tags zuvor erzählt hatte, was sich im Juni 1941 in Kiew zugetragen hatte. Gemeinsam mit Studenten im dritten Jahr der Moskauer Hochschule für Chemiemaschinenbau (MIChM) absolvierte sie im Mai und Juni 1941 ein Praktikum im Kiewer Betrieb „Bolschewik“.
„Waren sie mal im Mai in Kiew?“, hörten wir häufig im Radio, „das ist ein blühender Garten.“ Aber uns hatte Kiew mit grauem Himmel und Nieselregen empfangen. Der Frühling war dieses Jahr zu spät gekommen und auf dem Dnepr trieb noch Eis.
Trotzt des schlechten Wetters hatten wir beste Laune. Nunja, wann sind Studenten schon traurig? Vielleicht, wenn das Stipendium endet.
Untergebracht waren wir in einem fünfstöckigen Gebäude des Studentenwohnheims der Kiewer Polytechnischen Hochschule. Das Haus stand am Stadtrand, auf der Brest-Litowski-Chaussee. In diesem Stadtviertel war es das höchste Haus, und von der fünften Etage, wo wir beherbergt waren, konnte man gut die Felder sehen, die sich gleich hinter den Häusern ausdehnten und noch weiter die Hügel, wo sich ein Flugzeugwerk befand. Ein wunderschöner Anblick. Um den für andere beschreiben zu können, müsste man über das Talent von Turgenev oder Levitan verfügen.
Die Zeit zog schnell vorüber. Tag für Tag verging, und wir dachten mit Bedauern, dass wir viele Orte noch nicht besucht hatten, vieles noch nicht sehen konnten. Wir mussten aber bald Abschied nehmen von Kiew, der Stadt, in die wir uns schon verliebt hatten und die im Juni wirklich eine Gartenstadt geworden war.
Wir sangen die „Kiewer Walze“:
„Kastanien blühen wieder,
Des Dneprs Geplätscher ist zu hören,
Unsere Jugendzeit – du bist die Zeit, um glücklich zu sein.“
Die Akazien dufteten am Vorabend des Kriegs
Ja, wirklich, die Kastanienbäume blühten, auch die weiße Akazie. Die ganze Stadt stand in voller Blüte – und so das ganze Volk.
Wir liebten es, im Puschkin-Park zu spazieren. Dort war es so wunderbar an diesen warmen Abenden im Juni. Die Luft war erfüllt vom Duft der Akazie, vermengt mit vielen anderen, kaum spürbaren Düften – von Gras, von Laub, von den Düften von Kiew.
Auch an jenem Abend, am 21. Juni 1941, dem Abend, der sich nicht von den anderen unterschied, wanderten wir im Park umher, scherzten über jene, die weit vor uns gingen oder hinter uns blieben. Wir sangen unsere studentischen Lieblingslieder und rezitierten Gedichte.
„Ich liebe die verrückte Jugend
und Nähe, und Glanz, und Freude,
und von Damen wohlbedachten Kleider“
trug Valja Schubin aus seinem geliebten „Onegin“ vor.
Schubin selbst schrieb viele Studentenlieder. Aber ich glaube, er träumte davon, seinen eigenen „Onegin" zu schreiben. Und ich glaube, er hätte das auch tun können. Bevor wir auseinandergingen, verabredeten wir morgen einen Ausflug zum Strand.
22. Juni 1941: In Kiew heulen die Sirenen
Als Erste sind am Morgen die Mädels wach geworden. Es war schrecklich laut, die Sirenen des Luftalarms heulten. Wir liefen auf den Balkon und sahen mehrere Flugzeuge, die in Richtung Stadt flogen. Es waren 21.
Sie warfen Bomben aufs Flugzeugwerk, über dem sich schon schwarzer Qualm verbreitete, neben den alten Eisenbahngleisen der Strecke Kiew-Odessa, die das Feld hinter der Stadt durchquerten. Auf den Hügeln erschienen Geschütze. Häufig zeigte sich neben einem der Flugzeuge eine weiße Wolke, und dann ging das Flugzeug herunter.
Für uns war das sehr interessant und spaßig, die Erdfontänen zu sehen, die durch den Bombenaufprall gen Himmel spritzten, und die kleinen weißen Wölkchen neben den Flugzeugen zu beobachten. So nah sahen wir das, und zum ersten Mai.
Bald wurden die Sirenen abgeschaltet.
Wir frühstückten und fuhren ins Zentrum der Stadt. Kaum hatten wir den Kalinin-Platz erreicht, fingen die Sirenen erneut an zu heulen.
Viele Menschen liefen in die Häuser, aber einige gingen doch weiter, das war schließlich während einer Militärübung erlaubt. Wir stiegen aus der Straßenbahn und liefen zu einem Haus, vor dem eine Frau stand, die Augen voller Tränen. Ich ging zu ihr und fragte, ob hier oft solche Übungen stattfinden. Da brach es aus ihr heraus: „Das sind keine Übungen, Töchterchen, das ist Krieg.“
Wir waren jung und glücklich
Ich bekam Angst vor dieser Frau und kehrte zu unserer Gruppe zurück. Sie sei eine Verräterin, sagte ich, die das Gerücht herumtrüge, ein Krieg habe begonnen. Wir lachten sie aus und sagten, sie solle zur Miliz oder ins Krankenhaus gebracht werden.
Wir waren jung und glücklich, voller Bestrebungen und Hoffnungen. Es kam uns nicht in den Sinn, dass es der Anfang des unerhörten Leidens eines gesamten Volks war.
Wie konnte ich den Tränen der alten ukrainischen Frau nicht glauben? Wie konnte ich sie eine Verräterin nennen?
Die Sirenen verstummten wieder, als wir den Hafen erreichten, und setzten zum Strand hinüber. Nicht weit davon, neben der Brücke, platschten Granaten ins Wasser, die Fontänen in die Höhe trieben.
Den Podol entlang fuhren in unendlichen Reihen Militär-Autos gefahren. Soldaten marschierten. Über die Stadt, über Dnepr und den Strand flogen Flugzeuge. Eines schoss auf Paddel- und Motorboote.
Wir beachteten das aber nicht, wir badeten, sonnten uns, spielten Volleyball, fotografierten einander, die Soldaten und den Dnepr. Es blieben uns doch nur noch einige Tage in Kiew. Wir wollten, dass die Eindrücke für immer blieben.
Wir sahen die Männer in engen Uniformjacken und die langen Reihen von Militärautos, die zur Schönheit der Natur überhaupt nicht passten. Wozu quälte man sie bei so einer Hitze? Wozu all diese Übungen? Und Erik Evenchik sagte: „Ich wäre jetzt gern in London unter einer richtigen Bombardierung.“
Eine Übung? Flugzeuge mit Hakenkreuz!
Warum bemerkte niemand von uns die schwarzen Hakenkreuze auf den Flugzeugen? Dass die Bomben nicht neben der Eisenbahn, sondern direkt auf den Gleisen explodierten? Warum fragte keiner: „Was ist im Flugzeugwerk passiert?“
Wie weit waren wir von diesem schrecklichen Wort „Krieg“ entfernt. Wir konnten es uns nicht vorstellen, wir konnten einfach nicht daran denken, dass alle diese Bomben keine Spielzeuge waren und die Sirenen keine Militärübungen.
Als wir in die Stadt zurückkehrten und die Menschen mit tränenden Augen sahen, die sich in Gruppen versammelten, als wir schon leere Häuser, Schlangen nach Brot sahen und Radioberichte hörten, trauten wir unseren Augen und Ohren nicht.
Wie können Menschen an so einem wunderbaren sonnigen Tag weinen? Wer konnte so viele Leute auf einmal so traurig machen?
Wir haben an jenem Tag vieles nicht verstanden. Wir waren zu jung, um zu wissen, was Krieg bedeutet.
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