„Belarusen sind friedfertige Leute“
Mag sein, aber Diktator Lukaschenko könnte sich Putins Feldzug gegen die Ukraine anschließen
Im Schatten der russischen Marschflugkörper, die in diesen Tagen in ukrainischen Städten einschlagen, liegt die benachbarte Republik Weißrussland. Vom Ausgang des Kriegs hängt nicht nur die Zukunft von Wladimir Putin ab, sondern auch ihre Eigenstaatlichkeit.
Das politische Überleben von Alexander Lukaschenko als Diktator ist auf paradoxe Weise an das militärische Projekt eines Großrusslands gebunden. Ohne Russland kann er seine Herrschaft gegen den Widerstand der eigenen Bevölkerung nicht aufrechterhalten. Doch mit Russland ist er gezwungen, auf weite Teile der Souveränität zu verzichten.
So hatte Putin bereits vor der Ausweitung der russischen Kampfzone in der Ukraine darauf gedrungen, die formelle Integration der Russischen Föderation und der Republik Weißrussland im gemeinsamen Unionsstaat zu vertiefen. Der russische Alleinherrscher nutzte gemeinsame Manöver der Streitkräfte beider Länder, um seine Armee im Norden der Ukraine in Stellung zu bringen.
Von hier aus ließ er im Februar und März Raketen auf westukrainische Städte wie Luzk und Lwiw abschießen. Von hier aus setzte er die russischen Panzer in Richtung Kiew in Bewegung. Der ukrainische Widerstand und die Schwächen in Putins Angriffsplanungen beendeten schon nach wenigen Wochen den Dreifrontenkrieg. Die eingeschränkte Souveränität der Republik Weißrussland blieb.
Auch Belarus gab Atomwaffen an Russland ab
Wie im Fall der Ukraine wäre das Kräfteverhältnis heute ein anderes, wenn 1991 bei der Auflösung der Sowjetunion das Atomwaffenarsenal vor Ort verblieben wäre. Allein in Weißrussland waren noch 81 Interkontinentalraketen und 725 taktische Sprengköpfe stationiert. Einen großen Teil davon gab der junge Staat zwei Jahre später an Russland ab. Weitere Nuklearwaffen wurden im Rahmen von Abrüstungsverträgen abgebaut.
Lukaschenko übergab noch 1996, zwei Jahre nach seiner einzigen freien Wahl, nach kurzem Widerstand die letzten Raketen vom Typ SS-25 an Russland. Heute geht er davon aus, dass Weißrussland dank der Militärdoktrin des russisch-weißrussischen Unionsstaates unter Putins Atomwaffenschirm steht.
Wenn sich Lukaschenko jetzt öffentlich meldet und die Einrichtung gemeinsamer Streitkräfte ankündigt, dann ist das einer der alten Taschenspielertricks des politischen Überlebenskünstlers, der sich gegen den direkten Kriegseintritt windet. Denn er hängt nicht nur von der Gnade Putins ab, sondern auch von passiver und aktiver Duldung durch die eigene Bevölkerung.
Diese lässt Lukaschenko seit Ende 2020 tagtäglich mithilfe von Truppen des Innenministeriums, Schergen des KGB und Bediensteten der Staatsanwaltschaft in Angst und Schrecken versetzen. Menschen aus allen Bereichen der Gesellschaft sitzen heute hinter Gittern, weil sie ihre Meinung frei äußerten und für eine eigene Zukunft einstanden. Insgesamt zählt das vom diesjährigen Friedensnobelpreisträger Ales Beljazki (auch Bjaljazki) gegründete Menschenrechtszentrum Wjasna (auch: Wesna; Frühling) heute 1348 politische Gefangene.
Viel mehr Informationen dringen derzeit nicht aus Weißrussland, denn Krieg und Repression haben das Land nicht nur zum rechtsfreien Raum werden lassen, sondern auch zu einer journalistischen Leerstelle mitten in Europa. Während wir eine von Zehntausenden Mobiltelefonen gespeiste Flut von Bildern und Nachrichten aus der Ukraine verfolgen können, haben die Menschen in der benachbarten Republik längst den Modus der Selbstzensur eingeschaltet und ihre Facebook-Accounts weitgehend von Verweisen auf die Wirklichkeit gereinigt. Führt ein einzelner Like zur Seite einer als extremistisch eingestuften Organisation, drohen mehrere Jahre Haft.
Nach der Abschaltung des zentralen Nachrichtenportals Tut.by stellte der Staatsapparat sicher, dass sich alle verbliebenen freien Journalisten entweder im Gefängnis oder im Ausland befinden. Daher weiß man derzeit wenig über die Stimmung im Land, außer dass die massiven Repressionen für den Moment Wirkung zeigen. Die Menschen spüren im Alltag Angst. Einst gesellschaftlich Aktive verharren in ihren Wohnungen und rechnen selbst des Nachts mit einer Verhaftung. Hinzu kommen die Auswirkungen einer tiefen Wirtschaftskrise, die zum Teil auf die Sanktionen zurückgehen, die von der EU auch gegenüber Weißrussland verhängt wurden.
In dieser Situation wäre ein aktiver Eintritt von Weißrussland in den Krieg, den Russland an der Medienfront bereits seit längerem gegen eine vitale, moderne und digitale Ukraine verloren hat, ein verheerender Schritt – auch für Lukaschenko. Ein Kern der weißrussischen Identität liegt im Stolz darüber, nicht aktiv in kriegerische Handlungen involviert zu sein.
Widerstand gegen Kriegseintritt
„Wir Weißrussen sind friedfertige Leute“, heißt es programmatisch in der ersten Zeile der Nationalhymne. Den Preis dafür, dass Lukaschenko sein politisches Überleben an Putin und seine Geheimdienste geknüpft hat, würden im Fall eines erzwungenen Kriegseintritts die Bürger zahlen, deren Lebensaussichten sich seit den gefälschten Präsidentschaftswahlen im August 2020 ohnehin stark eingetrübt haben. Schon jetzt können weißrussische Staatsbürger nur noch in wenige Länder Europas einreisen.
Auf Telegram und in den anderen Netzwerken, in deren Kanälen trotz allen Widrigkeiten so etwas wie gesellschaftliche Wirklichkeit nachvollziehbar wird, ist zu sehen, dass Lukaschenko auch nach der Niederschlagung der Revolution nicht einer passiven Masse gegenübersteht.
Die Bewegungen von Kolonnen mit russischem Militärgerät werden im Projekt Hajun anonym aus den südlichen und östlichen Gebieten entlang der russischen und ukrainischen Grenze gemeldet und von Aktivisten zu größeren Karten zusammengefasst. Eisenbahner organisierten sich im März als Schienenpartisanen, um die Nachschublinien der nördlichen Front mithilfe von Sabotage am Eisenbahnnetz abzuschneiden.
Die ins Ausland geflüchteten Weißrussen sind deutlich besser vernetzt als etwa nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen des Jahres 2010. Sie verfügen über eigene Ressourcen und arbeiten derzeit an einem digitalen Staat namens Belarus 2.0, der im Exil weißrussische Strukturen aufbaut, die nach einem Ende des Lukaschenko-Regimes direkt nach Minsk übertragen werden können. Dieser Staat der Zukunft hat bereits über 500 000 reale Bürger.
Lukaschenkos Krieg gegen das eigene Volk
So wie die europäischen und amerikanischen Partner der Ukraine längst de facto am Krieg teilnehmen, ohne de iure zu Kriegsparteien zu werden, ist Weißrussland auch ohne gemeinsamen Waffengang Teilnehmer eines Feldzugs, der in Minsk als frühe Phase eines dritten Weltkriegs betrachtet wird.
Wer die offiziellen Nachrichtenkanäle längerfristig verfolgte, konnte bereits 2021 die diskursiven Versatzstücke „Angriff des kollektiven Westens“ und „europäische Kollaboranten“ vermehrt vernehmen. Sie werden verwendet, um die friedlichen Massenproteste des Jahres 2020 sowie die EU-Sanktionen als hybriden Angriff auf Weißrussland zu deuten. Diese Interpretation wird längst zugespitzt als Wiederkehr eines vaterländischen Krieges gegen einen angeblich transeuropäischen Faschismus mit Zentrum in der Ukraine.
Was wie der Ausdruck einer überzogenen rückwärtsgewandten Geschichtspolitik wirkte, ist für die polnische Minderheit in Weißrussland Gegenwartspolitik mit faschistischen Zügen, die in eine dunkle Zukunft weist. So verschwinden derzeit im Schatten des Kriegs in der Ukraine im Norden von Weißrussland systematisch die Grabstellen von Kämpfern der polnischen Heimatarmee, die sowohl gegen den Nationalsozialismus als auch gegen den Stalinismus gekämpft hatten.
Andrzej Poczobut, der sich als Publizist für dieses Thema starkgemacht hatte, sitzt seit März 2021 ohne Anklage in Haft. Und die Generalstaatsanwaltschaft ermittelt landesweit wegen eines Genozids am weißrussischen Volk. Die Sicherung von Beweismitteln wie die Freilegung von Erschießungsstätten des Holocausts dient dabei nicht der Suche nach historischer Verantwortung, sondern vor allem der Diffamierung der eigenen Bevölkerung.
Da Alexander Lukaschenko dank der Gewalt gegen die eigene Bevölkerung 2020 die Legitimität gänzlich verloren hat, versucht er nun mithilfe seines Apparats den Protestierenden mit aller Kraft ihre Legitimität zu nehmen. Dafür setzt er den Krieg gegen die eigenen Bürger im Schatten des russischen Feldzugs gegen die Ukraine Tag für Tag fort.
Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in: Neue Zürcher Zeitung 21.10.2022