Zu viel Panzer, zu wenig Gehirn
Neue Russlandpolitik gesucht: Wettbewerb der Ideen statt Wettstreit der Systeme
Ein neuer „Wettstreit der Systeme“ scheint ausgebrochen zu sein, ein Konkurrenzkampf zwischen Demokratien und Autokratien. Der Westen sieht sich herausgefordert von China und Russland (und zu allem Überfluss auch noch von Staaten innerhalb der Europäischen Union). Es geht um die Zukunft, um die Frage, wie „die Gemeinschaft der Demokratien“ (Joe Biden) sich gegen immer forscher auftretende Staaten wehren will, welche die Dominanz der Demokratien sowie westliche Werte, Menschenrechte, Wirtschaftsliberalismus und Multilateralismus ablehnen und mit allen verfügbaren Mitteln bekämpfen.
Die Konfrontation zwischen den USA und China nennt nicht nur John Mearsheimer neuen Kalten Krieg, der „wahrscheinlicher zu einem heißen wird als während der Rivalität zwischen den USA und der Sowjetunion“. Der Chicagoer Politikprofessor schließt in seinem jüngsten Beitrag in Foreign Affairs auch den Gebrauch von Nuklearwaffen nicht aus.
Die Sowjetunion wäre laut Mearsheimer gar nicht in der Lage gewesen, die USA herauszufordern – weil die UdSSR lange an den Folgen des Kriegs gegen die Nazis litt und das Militär dauernd mit Aufständen in seinem Einflussgebiet beschäftigt war – und mit China. China dagegen sei heute ein ökonomischer Moloch. Das Land habe die vierfache Bevölkerung, potenziell die Kraft, zur stärksten Wirtschaftsmacht zu werden, und könne „ein Militär aufbauen, das stärker ist als die USA“.
Mearsheimer stellt dennoch eine Frage: „Wer kann die chinesischen Führer beschuldigen, dass sie versuchen, Asien zu dominieren und der mächtigste Staat des Planeten zu werden?“ Seine ehrliche Antwort: Ganz sicher nicht die USA, die sei schließlich einer ähnlichen Agenda verpflichtet – und diese, wäre zu ergänzen, seit Jahrzehnten mit großen Militäraktionen. Unausweichliche Folge dieses unvermeidbaren Wettbewerbs, so Mearsheimer, sei jedoch Konflikt. Das sei „die Tragödie der Großmachtpolitik“.
Seinen Beitrag schließt Mearsheimer mit einem kritischen Befund: Chinas schneller Aufstieg sei nur möglich gewesen, weil US-Präsidenten in Serie China geholfen hätten, wirtschaftlich und damit auch politisch an Einfluss und Größe zu gewinnen: namentlich durch günstige Handelsvereinbarungen und Zugang Chinas zur WTO, wodurch sie sich Vorteile für das eigene Land versprachen.
Europas neuer Kalter Krieg
In Europa ist der kleine Kalte Krieg entstanden, obwohl der Westen das genaue Gegenteil getan hat. In Europa begann der Wettbewerb mit einer Ausdehnung des Westens nach Osten und ist zu einem Konflikt geworden, als Russland dem nicht mehr zusehen wollte. Das alles geschah lange vor Krim und Ostukraine, lange vor Nawalny. Auch die Idee einer Wirtschaftsgemeinschaft von Lissabon bis Wladiwostok war zu dieser Zeit längst begraben. Vermutlich war sie nie ernst gemeint, jedenfalls nicht in Westeuropa.
Die Verantwortung für das Geschehene sieht EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eindeutig bei Russland: „Wegen der mutwilligen Entscheidungen und Aggressionen der russischen Regierung in den letzten Jahren hat sich die Situation zugespitzt.“ Russland nennt sie „eine strategische Herausforderung“, was das Land für West-Strategen vermutlich schon lange gewesen war und bis heute ist. Und deshalb sagt von der Leyen, die EU müsse „geschlossen und konsequent darauf reagieren und unsere Grundwerte, Prinzipien und Interessen verteidigen“.
Das ist der europäische Kalte Krieg. Gibt es einen Weg, aus dem Stellungskrieg herauszufinden?
Dass solche Fragen bei den Verhandlungen der drei deutschen Koalitionspartner in spe keine Rolle spielt, sondern sie sich ausschließlich um das Hier und Jetzt zu drehen scheinen, ist sehr unbefriedigend. Bezüglich der Russlandpolitik liegt das möglicherweise auch daran, dass zwei der Parteien das Konzept ablehnen, mit dem der größere Partner bisher versuchte, auf Russland einzuwirken: Sanktionen bei Verstößen gegen Menschen- und Völkerrecht, aber Dialog und Kooperation bei sich überschneidenden Interessen.
„Auf diese Weise sind die vielfältigen Konflikte mit Russland vielleicht nicht gelöst, aber in einigen Fällen, etwa im Donbas-Konflikt, temporär abgemildert worden“, räumt Regina Heller vom Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) in den Russland-Analysen ein.
„In vielen anderen Fällen hat die deutsche Politik jedoch die Konflikte nicht entschärfen und vor allem Moskau auch nicht davon abhalten können, weiter den Pfad der Autokratisierung und der Feindseligkeit gegenüber dem Westen zu gehen.“
Moskau habe rhetorisch und faktisch „stark gegen den Westen aufgerüstet“, schreibt Heller. Der Westen sei „immer mehr zum Feindbild stilisiert und das westliche Gesellschaftsmodell und seine politische Ordnung als unvereinbar mit den Vorstellungen in Russland dargestellt“ und dem liberalen Gesellschaftsmodell „ein konservativer Entwurf entgegengestellt worden“.
Russland will also anders leben, heißt das. Und Mearsheimer würde sagen, auch Russland dürfe seine Ziele verfolgen, seine eigenen Grundwerte, Prinzipien und Interessen verteidigen.
Positive Kooperation? Kaum noch möglich
Gibt es noch eine Chance zu friedlicher Koexistenz mit Russland? Welche Strategie gegenüber Russland ermöglichte eine solche Zukunft? Wie kann Moskau dazu animiert werden, seine konfrontative Politik zu überdenken? Und wenn es stimmen sollte, dass die Mehrheit der Russen mit ihrem Präsidenten einverstanden und „russisch“ statt „westlich“ leben will, müssen wir das akzeptieren? Gar in unsere Überlegungen einbeziehen?
Die Strategie des Westens richtet sich nach dem Glaubenssatz, der Liberalismus werde zweifelsfrei siegen, alle Welt wolle so leben wie wir. Das glaubten ja auch Mearsheimers gescheiterte amerikanische Strategen. Wie während des kurzen Frühlings im arabischen Raum halten wir Demonstrationen in den Hauptstädten autoritärer Regime für offensichtlichen Mehrheitswillen. Und dem zu seinem Recht zu verhelfen, ist uns Verpflichtung.
Josep Borrell, Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, sagt zur Russlandstrategie: „Auf der Grundlage eines soliden gemeinsamen Verständnisses der russischen Ziele und eines auf Grundsätzen beruhenden Pragmatismus wird die EU Russland in die Schranken weisen, Grenzen setzen und gleichzeitig mit ihm zusammenarbeiten.“
Auch die meinungsbildenden deutschen Massenmedien plädieren überwiegend dafür, Russland mit mehr Härte in die Schranken zu weisen. Denn es gebe kaum noch „Anknüpfungspunkte für eine positive Kooperation mit Russland“, so Reinhard Veser. Russland verwandle sich von einem autoritären Staat zu einer Diktatur, schrieb er am 26. September in der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, und Deutschland müsse damit rechnen, „dass Russlands Außenpolitik noch aggressiver und unberechenbarer wird“.
Stefan Meister plädiert deshalb in einem Memo der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik dafür, dass Deutschland sich mehr in Konflikten „in der Nachbarschaft und weltweit“ engagiert. „Nur wenn Deutschland bei der Konfliktlösung ein Akteur ist, der auch bereit ist, Friedenstruppen zu entsenden und, wenn nötig, militärisch einzugreifen, wird es in Moskau als Verhandlungspartner ernst genommen.“
Selbst militärisch eingreifen zu können, das wäre die logische Folge der Erwartung, dass die Vereinigten Staaten ihren Konflikt mit Russland befrieden, damit sie sich der Auseinandersetzung mit China zuwenden können. Die Europäer müssten sich dann um ihr Verhältnis zu Russland selbst kümmern. Gegebenenfalls dessen aggressiver Großmachtpolitik mit militärischen Mitteln zu begegnen. Das heißt: sich Mearsheimers „Tragödie der Großmachtpolitik“ zu ergeben.
Immerhin schließt Meister nicht aus, diplomatische Beziehungen zu pflegen und Kooperation bei Themen von gemeinsamem Interesse wie Klimawandel und Stabilisierung in Afghanistan zu suchen. Er nennt sein Konzept „pragmatische Russlandpolitik“.
Auch Wulf Lapins trat auf KARENINA dafür ein, Anknüpfungspunkte für kooperatives Handeln zu suchen. Zunächst könne es nur darum gehen, „den bestehenden kalten Konflikt auszubalancieren. Die Diplomatie ist gefordert, dafür schöpferische Lösungsschritte zu entwickeln.“
Aber was konkret sind die „schöpferischen Lösungsschritte“, was die „intelligenten Instrumente“ für eine neue Russlandpolitik, nach denen Regina Heller ruft?
„Es ist schwierig, darauf angemessene Antworten zu finden“, konzediert Veser und gibt der allgemeinen Ratlosigkeit über den künftigen Umgang mit Russland Ausdruck. Voraussetzung dafür sei, „ein tiefenscharfes Bild Russlands genau zu betrachten“.
Kann es sein, dass Russland anders tickt?
Heißt das auch, den Gedanken zuzulassen, dass möglicherweise eine Mehrheit der russischen Bevölkerung (noch?) nicht nach unseren westlichen Werten leben möchte? Falls das zuträfe, müsste die Antwort lauten: Aus dem alten Instrumentenkasten können die Lösungen nicht kommen. Denn da war bisher keine Rettung drin, jedenfalls nicht für Russland: Die wirtschaftspolitische Beratung oder gar Anleitung des Westens in den 1990ern hat aus russischer Sicht zu einem wirtschaftlichen Desaster geführt – und das Vermögen des Landes in die Hand von Großkapitalisten gegeben, die wir Oligarchen nennen. Die westliche Demokratie und der Liberalismus, damals hoch in Kurs, haben bereits zu Jelzins Zeiten an Zugkraft verloren.
Inzwischen stehen Verständnis und Verständigung Begriffe wie „Regionalmacht“ und Sanktionen im Weg, um nur zwei von vielen Hürden zu nennen. Aus russischer Sicht Demütigung und Erpressung. Überzeugt derartige hochnäsige Politik auch nur einen Russen, eine Russin? Putin gar?
Mit der Peitsche jedenfalls, das sollten inzwischen verstanden sein, wird es keinen Frieden mit Russland geben. In den 1970ern, als der Wettstreit der Systeme in voller Blüte stand und eine militärische Konfrontation als Menetekel an der Wand stand, zierten viele rostige Autos bunte Aufkleber. Darauf war ein Dinosaurier zu sehen und ein Spruch zu lesen: „Ausgestorben: Zu viel Panzer, zu wenig Gehirn.“
Um dem Wettstreit der Systeme und dem Kalten Krieg speziell mit Russland entgehen zu können, wäre vielleicht zu bedenken:
1. Die Zeit, als eine ganze Reihe hochdekorierter Politiker global zero bezüglich Atomwaffen für möglich hielten, ist vorüber. Nach Mearsheimer ist die wirksamste Methode, einen Nuklearkrieg zu verhindern, ihn für möglich zu halten, weil die Waffen vorhanden sind. Und es sind mehr als genug davon da, an die 6000 in Händen Russlands und der USA, 350 und bald bis zu 1000 in Chinas, wie Stefan Kornelius kürzlich in der Süddeutschen Zeitung schrieb. Alle in Europa wissen das. Auch Putin. Er wird Europa nicht überrennen wollen. Abschreckung funktioniert. Was derzeit nicht funktioniert, ist die Rüstungskontrolle, die Donald Trump massiv beschädigt hat.
2. Könnten die fünf lähmenden Prinzipien der EU-Außenpolitik bezüglich Russland, die jede Annäherungsinitiative einzelner Länder unterbinden, noch einmal überdacht werden?
3. Wohin führen Wirtschaftssanktionen? Die USA haben, darauf weist Mearsheimer hin, nach dem Tiananmen-Massaker weiter mit China Handel betrieben. Das Argument damals: Handel und wirtschaftlicher Austausch führen zum Streben nach Freiheit und „unaufhaltsam“ zu Demokratisierung. Bis heute besorgen sich die USA Öl in Russland. Weshalb dann der wiederkehrende Hader mit Nord Stream 2?
4. Ist mehr Offenheit für Russlands Sicht der Dinge möglich? Zu einer gemeinsamen europäischen Sicherheitspolitik gehöre die „Bereitschaft, die Welt mit den Augen des anderen zu sehen“, sagte Olaf Scholz vor einigen Monaten. Es sei „befremdlich, wenn schon das bloße Verstehenwollen in so mancher Debatte über Russland diskreditiert wird“.