‚Europa ist viel größer als die EU‘
Russlands EU-Botschafter Wladimir A. Tschishow: ‚Wir bräuchten eine Zauberflöte zur Wiederbelebung der Beziehungen‘
Draußen vor dem historischen Gebäude im Stil der Belle Epoque weht die Flagge der Russischen Föderation. Drinnen erwarten eine Halle mit historischen Ornamenten und Räume mit malerischen Wandteppichen die Besucher. Nach der Befreiung Brüssels von den Nazis waren dort von 1944 an kanadische Truppen untergebracht, bis die damaligen Sowjetunion es 1946 erwarb. Lange Jahre diente das Haus als sowjetische Handelsmission. 1988 zum Botschaftsgebäude der Sowjetunion bei der EU umgewidmet, wurde es wenig später als Ständige EU-Vertretung der Russischen Föderation registriert.
Heute ist Wladimir A. Tschishow Hausherr dieses Orts mit bewegter europäischer Geschichte, der russische EU-Botschafter. Er ist seit 2005 der Ständige Vertreter Russlands bei der Europäischen Union (EU). Zuvor war er stellvertretender russischer Außenminister. An seinem Schreibtisch am Boulevard de Regent sitzend sprach Botschafter Tschishow telefonisch mit KARENINA.
KARENINA: Herr Botschafter, im Jahr 2019 haben Sie einen Neustart der EU-Russland-Beziehungen mit der Neubesetzung der EU-Spitzenämter in Brüssel vorausgesagt. Wenig später trat Ursula von der Leyen ihr Amt als neue Kommissionspräsidentin an. Wie beurteilen Sie die jetzige Situation?
Wladimir A. Tschishow: Im Grunde war das weniger eine Vorhersage als eher ein Ausdruck von Hoffnung. Ich erhoffte einen neuen positiven Schwung. In meiner mehr als 15-jährigen Tätigkeit in Brüssel habe ich mehrere dieser EU-Amtsperioden von Rat, Kommission und Parlament miterlebt, einschließlich vieler Höhe- und Tiefpunkte in den Beziehungen zwischen unseren Ländern und Bündnissen. Einer Ihrer Kollegen hat mich einmal gefragt, ob wir nicht einen Reload-Knopf für das EU-Russland-Verhältnis bräuchten. Damals war ich noch für eine Art Beschleunigungs-Paddel. Heute würde ich sagen, wir bräuchten eine Zauberflöte zur Wiederbelebung der Beziehungen zwischen Russland und der EU.
Der letzte EU-Russland-Gipfel fand 2014 statt. Diese Treffen gibt es seit der Ukraine-Krise nicht mehr. Wie kam es zum Bruch?
Bis Januar 2014 sind insgesamt 32 Gipfeltreffen zwischen den Delegationen Russlands und der EU abgehalten worden. Ich war bei 30 dieser Treffen dabei. Für Juni 2014 war ein weiteres Treffen in Sotschi angesetzt. Aber die EU-Delegation bleib dem fern. Schon länger zuvor hatte sich eine Menge von Problemen aufgetürmt.
Deshalb sehe ich die Ereignisse um den Majdan und die Krim eher als Katalysator denn Ausgangspunkt für den Bruch. Die EU hatte damals versucht, zwischen der Regierung und der Opposition in der Ukraine zu vermitteln. Sie scheiterte schlussendlich, weil ukrainische Nationalisten und Extremisten den von der EU erzielten Kompromiss zertrampelten.
Zurück zur Gegenwart: Die EU- Außenminister und Regierungschefs haben sich jüngst zu einer Wiederaufnahme des Atomverhandlungen mit Iran beraten, ebenso wie zu anderen Sicherheitsfragen, die im Interesse der Russischen Föderation liegen könnten. Empfangen Sie Signale von EU-Top-Diplomaten für ein neues Treffen?
Neue Verhandlungen über die Realisierung des Iran-Atomdeals wären zweifelsohne im russischen Interesse. In sehe außerdem eine dringende Notwendigkeit, die Europäische Sicherheitszusammenarbeit auf breiterer Basis zu erneuern, sowohl im Konzept wie in der Praxis.
Tatsächlich spüre ich bezüglich des EU-Russland-Dialogs eine aufgehellte Stimmung bei einigen EU-Ländern. Dem muss nun auch die Brüsseler EU-Bürokratie folgen. Wir haben nicht die Türen zugeschlagen, die EU fror jedoch alle Elemente unserer Partnerschaftsarchitektur ein.
Moskau scheint bilaterale Gespräche mit einzelnen europäischen Hauptstädten zu schätzen, mehr als die soliden Verbindungen zu einem geeinten EU-Block. Welchen Wert hat eine Europäische Union für die Russische Föderation überhaupt?
Eine unabhängige, gefestigte EU kann als bedeutsamer Spieler in einer multipolaren Welt auftreten. Es kommt jedoch immer wieder zu folgenden paradoxen Situationen: Sprechen wir mit den einzelnen Mitgliedstaaten, stellen wir positive Haltungen gegenüber uns fest. Sobald sie aber in Brüssel zusammensitzen, scheint irgendetwas Seltsames in der Luft zu liegen. Vielleicht liegt es am Wetter.
Es regnet eben viel in der EU-Kapitale. Woran denken Sie genau, was passiert, wenn die EU-Mitgliedstaaten dort tagen?
Sie beschließen merkwürdige Dinge, wie etwa die sogenannten Sanktionen. Anschließend sind sie überrascht, wenn mein Außenminister, Sergei Lawrow, sagt, dass die EU kein verlässlicher Partner sei. Sanktionieren sich verlässliche Partner?
Seit die Regierung Biden in den USA im Amt ist, scheinen viele Europäer romantische Gefühle verbunden mit einer Hoffnung auf verbesserte EU-US-Beziehungen zu haben. Diese sollten allerdings nicht auf Kosten anderer Partner gehen, wie etwa Russland oder China.
Was bedeutet Russland mehr: Die strategische Partnerschaft mit der EU, wie sie der französische Präsident Macron vorgeschlagen hat, oder robuste Wirtschaftsbeziehungen zu Deutschland?
Sicherlich beides. Kanzlerin Merkel hat einmal sinngemäß gesagt, unser gemeinsames Schicksal bestehe in einer gemeinsamen Landmasse. Ich denke jedoch, dass weit mehr Gemeinsamkeiten bestehen, reich an guten wie an schlechten Erfahrungen. Wir sind Teil derselben Zivilisation. Die Europäer sollten auch nicht unterschätzen, dass es ein historisches Verdienst unserer russischen Vorfahren ist, die europäische Kulturgrenze bis zur Pazifikküste und an die chinesische Grenze auszudehnen.
Wie weit auf der Landkarte reicht für Sie Europa?
Europa als zivilisatorische Idee und als geopolitische Einheit ist viel größer als die EU. Dies ist übrigens eines der Missverständnisse, denen ich täglich in Brüssel begegne: EU und Europa werden ständig gleichgesetzt. Stattdessen würde ich sagen, Europa reicht von Lissabon bis Wladiwostok.
Und welche Politikbereiche gäben im Moment die meisten Anknüpfungspunkte her, falls die EU-Russland-Beziehungen wiederbelebt werden können?
Schauen wir uns eine der größten gegenwärtigen Herausforderungen an – gemeinsamer Feind Nummer eins ist die Covid-Pandemie. Ich bedauere sehr, dass die internationale Gemeinschaft nicht zu einer gemeinsamen Antwort fand gegen diesen unideologischen, nicht-politischen, winzig kleinen Feind. Stattdessen haben wir einen ungesunden Wettstreit zwischen Impfstoffen und verschiedenen Regulierungen. Überdies wird auch der Klimawandel nicht verschwinden.
Die EU und Russland hatten bereits im Jahr 2005 vier gemeinsame Achsen festgelegt, entlang derer verhandelt werden konnte, von inneren und externen Sicherheitsfragen über ökonomische und wissenschaftliche Kooperation bis zur Kulturzusammenarbeit. Wird jetzt eine neue Architektur dieser Formate benötigt?
Da könnten viele Teile sogleich wieder zusammengeführt werden. Vorstellbar wären fruchtbare Verständigungen über Wissenschaft und Technologie, aber auch kulturelle Kooperation. Natürlich gälte es, den politischen Dialog über Iran und den Nahen Osten fortzusetzen.
Wir sind auch offen für Diskussionen über die verschiedenen Rollen jedes Partners auf dem Balkan. Voraussetzung wäre allerdings, dass die EU den Balkan nicht als seinen Machtbereich ansieht.
Außenminister Lawrow beklagte jüngst angebliche Versuche der EU, die russische Sprache und Kultur aus Europa auszugrenzen. Können Sie uns erklären, was ihn dazu bringt?
Sergei Lawrow bezog sich darauf, dass die EU nichts unternimmt gegen Versuche der Ausgrenzung russischer Kultur in verschiedenen EU-Mitgliedstaaten, wie es beispielsweise bei der Missachtung russisch-sprachiger Minderheiten in den baltischen Ländern beobachtet werden kann, wie auch jenseits der EU, in der Ukraine. In westeuropäischen Ländern sehen wir, dass russische Journalisten und russische Medien teilweise administrative Schwierigkeiten haben.
Könnten mehr Schengen-Visa für russische Bürger das gegenseitige Verständnis der Zivilgesellschaften verbessern?
2006 haben wir die bis dato gültigen Visa-Regelungen mit der EU beschlossen. Seither haben wir ständig über weitere Reiseerleichterungen verhandelt. Aber jedes Mal, wenn wir kurz vor einem Durchbruch standen, zog die EU zurück. Nach der Ukraine-Krise wurde die Verständigung auf diesem Gebiet seitens der EU aufgegeben, genauso wie in vielen anderen Bereichen.
Der Covid-Impfstoff Sputnik V erweist sich bislang als sehr erfolgreich. Russland hat seine Zulassung für die EU beantragt. Wie stehen Sie zur russischen Impfstoff-Diplomatie mit Sputnik V?
Wir machen keine Diplomatie mit dem Vakzin. Russlands wichtigste Aufgabe ist die Bereitstellung von genügend Impfstoffen für die russische Bevölkerung. Natürlich sind wir als verantwortungsvoller Player auf diesem Feld, genauso wie auf anderen, zu Kooperationen bereit. Wir haben jede Menge Anfragen anderer Länder nach Proben, Impfstoff-Chargen und der Technologie für deren Produktion.
Der globale Engpass liegt allerdings gegenwärtig in der begrenzten Produktionskapazität. Kein Land allein ist in der Position, die gesamte Weltbevölkerung zu immunisieren. Deshalb brauchen wir dringend mehr Kooperation.