Wer hat Angst vor Memorial?

Das System Putin will das moralische Rückgrat der russischen Zivilgesellschaft zerschlagen

Memorial. Foto: Boell Stiftung
Muss das Schild bald abmontiert werden? Hinweistafel an der Eingangstür von Memorial in Moskau

Am 29. Oktober jeden Jahres bietet sich vor dem Sitz des Geheimdienstes FSB in Moskau dasselbe Bild: Menschen versammeln sich am Gedenkstein für die Opfer des Stalinismus. Einer nach dem anderen tritt hervor und liest den Namen eines Opfers vor. Manche entzünden eine Kerze. Mit diesem intimen Akt des Erinnerns ist wieder ein Opfer der Anonymität des Terrors und des Massengrabs entrissen, hat seine Würde zurückerhalten.

Mit dieser „Rückgabe der Namen“ soll nun bald Schluss sein. Nicht wegen Corona, sondern ein für alle Mal. Das Gedenken an der Lubjanka organisiert die Gesellschaft Memorial. Die russische Generalstaatsanwaltschaft hat den Antrag gestellt, Memorial „zu liquidieren“. Memorial habe „mutwillig und wiederholt“ gegen das Gesetz über „ausländische Agenten“ verstoßen und seine Materialien nicht mit dem Zusatz versehen, „ein ausländischer Agent“ zu sein. Damit täusche Memorial die Öffentlichkeit, verletze das „Recht der Bürger auf Information“ und verstoße gegen das Gebot, „Kinder vor Informationen zu schützen, die ihre sittliche und geistige Entwicklung negativ beeinflussen“.

Eine rein politische Entscheidung

Am 25. November wird das Oberste Gericht über die Auflösung entscheiden. Gleichzeitig ist vor dem Moskauer Stadtgericht ein zweites Verfahren anhängig. Auch das Menschenrechtszentrum Memorial soll aufgelöst werden, weil es durch die Veröffentlichung der „Liste politischer Gefangener in Russland“ „terroristischen und extremistischen Tätigkeiten“ Vorschub leiste. Auf dieser Liste mit 420 Namen stehen u. a. Häftlinge aus dem Nordkaukasus und „Zeugen Jehovas“, die in Russland verfolgt werden.

Diese beiden Verfahren werden unter der Aufsicht der Justiz geführt, doch mit Recht und Gesetz haben sie nichts zu tun. Die autoritäre Ordnung, die Wladimir Putin seit seinem Amtsantritt als Präsident aufgebaut hat, kennt keine Gewaltenteilung mehr. Eine unabhängige Justiz gibt es nicht. Wie die Verfahren ausgehen, ist eine rein politische Entscheidung. Und diese fällt die Präsidialadministration mit den Silowiki, den Vertretern der Gewaltministerien wie des FSB. Doch wer hat Angst vor Memorial?

Memorial ist nicht irgendeine NGO. Mit über fünfzig Regionalgruppen ist es die größte unabhängige Organisation Russlands. Es ist das Rückgrat der Zivilgesellschaft. Gleichzeitig ist Memorial die älteste Menschenrechtsorganisation des Lands. Es entstand 1989, als sich in der Sowjetunion das Streben nach Freiheit Bahn brach.

Rückkehrer aus den Lagern, Dissidenten und Liberale forderten ein Mahnmal (Memorial) für die Opfer des stalinistischen Staatsterrors, gründeten eine Gesellschaft und wählten den Friedensnobelpreisträger Andrei Sacharow zum Vorsitzenden. Von Anfang an verfolgte Memorial drei Ziele: die Aufarbeitung der Geschichte der totalitären Gewalt, die soziale und rechtliche Rehabilitation der Opfer sowie den Schutz der Menschenrechte im heutigen Russland.

Memorial: Vor allem eine Haltung

Was Memorial in drei Jahrzehnten zur historischen Aufklärung beigesteuert hat, ist enorm. Die russische und die internationale Öffentlichkeit verdanken Memorial grundlegende Kenntnisse über die Welt der Lager, die Ordnung des Terrors, Opfer und Täter.

Herzkammer der Arbeit ist ein Archiv mit Hunderttausenden persönlichen Zeugnissen. Daraus entstanden Publikationen, Ausstellungen und Kataloge. Datenbanken gestatten den Zugriff auf die Lebensgeschichten von 3,5 Millionen Menschen, die Opfer des Staatsterrors wurden; andere bieten biografische Informationen darüber, wer die Täter im NKWD waren.

Gemeinsam mit polnischen Partnern erarbeitete Memorial eine detaillierte Dokumentation des Massakers von Katyn, wo der NKWD Tausende polnische Offiziere erschoss. Für Memorial machte die Suche nach der historischen Wahrheit nicht an den Grenzen des eigenen Staats halt.

Das Menschenrechtszentrum ist seit seiner Gründung 1991 an allen Brennpunkten präsent. Es beobachtete Russlands Kriege im Nord- und Südkaukasus und beklagte Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung, kritisiert Folter im Strafvollzug und setzt sich seit der mit deutlichen Worten verurteilten Annexion der Krim für die Rechte der Krimtataren ein. Memorial-Juristen haben Dutzende Klagen russischer Staatsbürger gegen den eigenen Staat vor den Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gebracht.

Vor allem aber ist Memorial eine Haltung. Wer sich für Memorial engagiert, braucht einen aufrechten Gang. Anders ist es unmöglich, sich in dem feindlichen gesellschaftspolitischen Umfeld in Russland zu behaupten, das mal aus Altstalinisten und Kommunisten, Nationalisten und Großmacht-Chauvinisten, mal aus TV-Propagandisten oder zynischen Polittechnologen besteht.

Nicht nur die prominenten Aushängeschilder wie den langjährigen Vorsitzenden Arseni Roginski (1946 – 2017) oder die Germanistin Irina Scherbakowa zeichnet Hartnäckigkeit, Ungebrochenheit und moralische Integrität aus. Seit Jahren werden Mitglieder im Fernsehen als Handlanger des Westens diffamiert, kriminalisiert und tätlich angegriffen. Natalja Estemirowa wurde ermordet. Juri Dmitriew, der in Karelien Massengräber von Opfern des NKWD entdeckt hat, ist inhaftiert und soll durch fabrizierte Vorwürfe des Kindesmissbrauchs zerstört werden. Doch an seiner Hingabe für die Sache hält er unbeirrt fest.

Memorial: Antipode der Macht

Memorial ist der Antipode zur herrschenden Macht. Und Memorial bietet das Antidot zu den Ressourcen der Macht. Präsident Putin hat Geschichte zum Monopol des Staats erklärt. Er hat den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg sakralisiert. Nur von ihm lassen sich Russlands Großmachtanspruch und die Legitimität autokratischer Herrschaft ableiten. Wer nach der „Säuberungswelle“ in der Roten Armee, dem Hitler-Stalin-Pakt oder Katyn fragt, begeht mittlerweile ein Delikt.

Während Putin und seine Silowiki, die heute Wirtschaft und Politik kontrollieren, sich ungebrochen als stolze Nachfolger der Tscheka und des NKWD präsentieren, erinnert Memorial an Millionen Opfer und beklagt, dass der Terror des Sowjetstaats gegen die eigene Bevölkerung nie zu einem Verbrechen erklärt wurde, geschweige denn verurteilt worden wäre. Die Menschen von Memorial halten an der Verteidigung des Rechts und der Moral in einer von Rechtsnihilismus und Amoral geprägten politischen Umgebung fest, sie setzen auf die Kraft der Wahrheit gegen ein Regime, das die Lüge geadelt hat.

Zur Erinnerung: Auf der Krim agierten grüne Männchen, die GRU-Agenten in Salisbury, die den „Verräter Skripal“ (Putin) beseitigen sollten, waren ein schwules Pärchen, das die Kathedrale besichtigen wollte, und Alexei Nawalny wurde erst in der Berliner Charité vergiftet.

Nicht einmal die grobschlächtigsten Geheimdienstler in Moskau glauben, was sie sagen. Ihnen ist völlig egal, ob sich Menschenrechtler als „ausländische Agenten“ kennzeichnen oder nicht. Das ist das Wesen des Zynismus. Aber Memorial dementiert mit allem, was es sagt und tut, dass die Herrschaft in Russland so sein muss, wie sie ist.

Das ist unverzeihlich. Memorial wird liquidiert, weil sich der Putinismus radikalisiert. Diese Radikalisierung ist noch nicht beendet. Memorial bleibt als Versprechen in Erinnerung, dass es ein anderes, ein freies Russland gibt.

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 21.11.2021 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung.

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