Angriff auf Memorial
Russlands Generalstaatsanwalt will die Menschenrechtsorganisation auflösen. Protest aus Deutschland
Am 11. November informierte das Oberste Gericht der Russischen Föderation Memorial International, dass die Generalstaatsanwaltschaft die Auflösung der Organisation fordert, weil sie gegen die Auflagen für „ausländische Agenten“ verstoßen habe. Konkret: durch fehlende verpflichtende Markierung der Organisation vor allem bei Veröffentlichungen in sozialen Medien als „ausländischer Agent“. Als solcher ist Memorial seit 2014 gelistet. Über den Antrag soll am 25. November entschieden werden.
Memorial ist die bekannteste russische Menschenrechtsorganisation, die sich um die Aufarbeitung von politischer Gewaltherrschaft bemüht, zuvörderst zur Zeit des Stalinismus. Memorial hat eine Bibliothek und ein Archiv mit Dokumenten und Fotos Gewaltopfern aufgebaut sowie ein Museum samt Datenbank bezüglich der Opfer und Täter in der Zeit der stalinistischen Herrschaft. Außerdem hat sie sich zuletzt immer wieder für den Schutz der Menschenwürde eingesetzt, vor allem in Russland beispielsweise während der Tschetschenienkriege und zuletzt wegen Alexei Nawalny. Entstanden ist Memorial in den 1980er-Jahren, unter den Gründern war der einstige Dissident und Friedensnobelpreisträger Andrei Sacharow.
Bundesaußenminister Heiko Maas hat sich dazu wie folgt geäußert: „Die russische Justiz muss das verbriefte Recht der engagierten Bürgerinnen und Bürger, sich frei in Vereinigungen zusammenzuschließen, schützen. Die politisch motivierte Verfolgung der kritischen Zivilgesellschaft muss aufhören.“
Memorial Deutschland ist der Auffassung, „dass es für die Schließung von Memorial International keinerlei Rechtsgrundlage gibt“. Es handle sich „um die politische Entscheidung, Memorial zu vernichten – eine Organisation, die sich mit der Geschichte politischer Verfolgungen und dem Schutz der Menschenrechte befasst“.
Nun erhält Memorial Unterstützung von einer namhaften Gruppe von Politikern, Wissenschaftlern und NGO-Vertretern. Sie verschickten eine Erklärung an die Generalstaatsanwaltschaft und die Präsidialverwaltung in Moskau, die Russische Botschaft in Berlin, das Bundeskanzleramt, das Auswärtige Amt sowie die Deutsche Botschaft in Moskau.
KARENINA dokumentiert den Wortlaut samt Erstunterzeichnerliste:
Wortlaut der Erklärung
„Am 11. November 2021 hat die Menschenrechtsorganisation Memorial vom Obersten Gericht Russlands eine Vorladung zu einem Gerichtstermin am 25. November 2021 erhalten. Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt die Auflösung von Memorial-International. Sie wirft der Organisation „wiederholte Verstöße“ gegen das Gesetz über „Ausländische Agenten“ vor. Gleichzeitig wird ein Moskauer Gericht über die Auflösung des Menschenrechtszentrums
Memorial entscheiden.
Memorial wurde 1989 von Menschenrechtlern um den Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow gegründet. Seitdem kümmert sich Memorial um die Aufarbeitung der politischen Verfolgung in der Sowjetunion. Die Forschungs- und Aufklärungsarbeit von Memorial hat auch Maßstäbe für die europäische Erinnerungskultur gesetzt; so durch die Dokumentation
des Schicksals von Hundertausenden Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern in Deutschland oder des stalinistischen Massakers an polnischen Offizieren in Katyn. Gleichzeitig tritt Memorial unbeirrt für die Wahrung der Bürger- und Menschenrechte ein.
Das Vorgehen gegen Memorial ist mehr als ein Angriff auf einen Leuchtturm der historischen Aufklärung. Russlands Behörden würden der russischen Zivilgesellschaft damit einen schweren Schlag versetzen und der Idee der europäischen Verständigung großen Schaden zufügen. Mit dem Vorgehen gegen Memorial entfernt sich Russland einen weiteren großen Schritt aus dem in der Europäischen Menschenrechtskonvention beschriebenen europäischen
Wertekonsens.
Wir protestieren gegen diesen nicht zu rechtfertigenden Angriff auf Memorial. Wir fordern die russische Generalstaatsanwaltschaft auf, den Antrag auf Auflösung von Memorial International sowie des Menschenrechtszentrums Memorial unverzüglich zurückzuziehen.
Wir fordern die Bundesregierung und die Europäische Union auf, alles in ihren Kräften Stehende zum Schutz von Memorial, seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und der russischen Zivilgesellschaft zu unternehmen.“
Vera Ammer, Memorial Deutschland, Eiskirchen
Dr. Gabriele von Arnim, Journalistin und Autorin, Berlin
Prof. Dr. Martin Aust, Historiker, Universität Bonn
Marieluise Beck, Zentrum Liberale Moderne, Berlin
Markus N. Beeko, Amnesty International Deutschland e. V., Berlin
Dr. Jan C. Behrends, Historiker, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam
Prof. Dr. Timm Beichelt, Politikwissenschaftler, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder
Tim Bohse, Deutsch-Russischer Austausch e. V., Berlin
Prof. Dr. Elisabeth Cheauré, Slawistin, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Pfarrer Christian Dietrich, Projektstelle Seelsorge Diktaturopfer, Landeskirchenamt Erfurt
Prof. em. Wolfgang Eichwede, Gründungsdirektor der Forschungsstelle Osteuropa, Bremen
Sabine Erdmann, Memorial Deutschland e. V., Berlin
Marlis Fertmann, Freie Journalistin, Hannover
Dr. Sabine Fischer, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin
Peter Franck, Amnesty international Deutschland e. V., Berlin
Dr. Gabriele Freitag, Geschäftsführerin der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde e.V.,
Berlin
Ralf Fücks, Zentrum Liberale Moderne, Berlin
Prof. Dr. Caroline von Gall, Universität zu Köln
Uta Gerlant, Historikerin, Berlin
Dr. Anke Giesen, Historikerin, Vorstandsmitglied von Memorial-Deutschland, Berlin
PD Dr. Andreas Heinemann-Grüder, Politikwissenschaftler, Bonn International Centre for
Conflict Studies, Bonn
Prof. Dr. em. Andreas Kappeler, Historiker, Universität Wien
Dr. Gerd Koenen, Historiker, Publizist, Frankfurt
Prof. Dr. Jan Kusber, Historiker Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Vizepräsident der
Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde e.V.
Prof. Dr. Alexander Libman, Politik- und Sozialwissenschaftler, Osteuropa-Institut, FU Berlin
Sergey Lagondinsky, Mitglied des Europäischen Parlaments, Brüssel, Berlin
Gabriele Leupold, Übersetzerin, Berlin
Markus Meckel, Außenminister a. D., MdB 1990-2009, Berlin
Dr. Stefan Meister, Politikwissenschaftler, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik,
Berlin
Stefan Melle, Geschäftsführer Deutsch-Russischer Austausch e.V Berlin
Heidi Merk, Landesjustizministerin a.D., Hannover
Dr. Martin Moryson, Vorstand Stiftung Menschenrechte, Bonn
Svetlana Müller, PANDA platforma e. V., Vorsitzende, Berlin
Tobias Münchmeyer, Geschäftsführer, Caucasus Nature Fund, Mitglied des Petersburger
Dialogs,
Prof. Dr. Dietmar Neutatz, Historiker, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Prof. Dr. Julia Obertreis, Historikerin, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Prof. Dr. Tanja Penter, Historikerin, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Dr. Gertrud Pickhan, Historikerin, Prof. i.R., Berlin
Prof. Dr. Stefan Plaggenborg, Historiker, Universität Bochum
Jan Plamper, Professor für Geschichte, University of Limerick
Prof. Dr. Joachim von Puttkamer, Historiker, Universität Jena
Ruprecht Polenz, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde e.V., Münster
Katharina Raabe, Lektorin, Suhrkamp Verlag, Berlin
Waleria Radziejowska-Hahn, Mitglied des Beirats des Lew Kopelew Forums, Köln
Dr. Eva Reich, Ärztin
Prof. Dr. Jens Reich, Molekularbiologe, Berlin
Thomas Roth, Journalist, Vorsitzender des Lew Kopelew-Forums, Köln,
Maria Sannikova-Franck, Zentrum Liberale Moderne, Berlin
Dr. Manfred Sapper, Redakteur OSTEUROPA, Berlin
Prof. Dr. Gwendolyn Sasse, Wiss. Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale
Studien (ZOiS), Berlin
Dr. Christian Schaich, Direktor des Zentrums für Osteuropa und international Studien (ZOiS),
Berlin
Prof. Dr. Susanne Schattenberg, Direktorin der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität
Bremen
Stefanie Schiffer, Europäischer Austausch, Berlin
Prof. Dr. Karl Schlögel, Historiker, Publizist, Berlin
Dr. Diana Siebert, Lew Kopelew Forum, Köln
Jens Siegert, Publizist, Moskau
Dr. Ellen Ueberschär, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin
Dr. Volker Weichsel, Redakteur OSTEUROPA, Berlin
Dr. Susann Worschech, Institut für Europa-Studien, Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder
Verantwortlich: Peter Franck, [email protected] & Manfred Sapper [email protected]
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