Memorial: Eine Insel wird versenkt

Die Auflösung von Memorial wäre eine Zäsur und das Ende von 30 Jahren Hoffnung

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Für die älteste russische Bürger- und Menschenrechtsorganisation scheint es jetzt wirklich ernst zu werden. Am 11. November 2021 erhielt die Internationale Gesellschaft Memorial – das Dach von mehr als fünfzig nationalen und regionalen Organisationen – eine Vorladung des Obersten Gerichts. Das Gericht will am 25. November über einen Antrag der Generalstaatsanwaltschaft verhandeln, die Organisation aufzulösen.

Begründet wird der Antrag mit angeblich „mutwilligen und wiederholten“ Verletzungen von Kennzeichnungspflichten, denen die Organisation nach dem „Agentengesetz“ unterliegt. Memorial habe die Öffentlichkeit getäuscht und verletze das „Recht der Bürger auf Information“. Schließlich wird sogar die Kinderrechtskonvention ins Feld geführt, um die Liquidierung von Memorial zu rechtfertigen.

Der Angriff gilt aber nicht nur der Internationalen Gesellschaft Memorial, in deren Obhut sich das von Memorial aufgebaute Archiv über die Zeit der stalinistischen Verfolgung befindet. Ebenfalls aufgelöst werden soll das Menschenrechtszentrum Memorial.

Hier lautet die Begründung, die Organisation befördere „Extremismus“ und „Terrorismus“. Das sind Vorwürfe, die die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Menschenrechtszentrums auch persönlich der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung aussetzen.

Von Natalja Estemirowa bis Alexei Nawalny

Stein des Anstoßes war hier offenbar die vom Menschenrechtszentrum geführte „Liste politischer Gefangener“, die derzeit 420 Namen umfasst. Das Menschenrechtszentrum dokumentiert seit vielen Jahren Menschenrechtsverletzungen insbesondere im Nordkaukasus. Wie gefährlich diese Arbeit ist, zeigt nicht zuletzt das Schicksal von Natalja Estemirowa, die im Zusammenhang mit ihrer Menschenrechtsarbeit ermordet worden ist.

Es ist nicht das erste Mal, dass die Behörden die Auflösung von Memorial betreiben. Im Januar 2015 war ein entsprechender Antrag des Justizministeriums noch erfolglos geblieben. Aber die bereits spätestens seit dem Beginn der dritten Amtszeit Präsident Putins 2012 immer enger werdenden Spielräume für ein unabhängiges gesellschaftliches Engagement sind seitdem nochmals enger geworden.

Die unter Missachtung von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vorgenommene Inhaftierung von Alexei Nawalny, das Vorgehen gegen die von ihm gegründete Antikorruptionsstiftung FBK sowie gegen unabhängige Medien und einzelne Journalistinnen und Journalisten sind Etappen auf einem Weg, der Russland immer weiter aus der Rechts- und Wertegemeinschaft des Europarats führt.

Zivilgesellschaft im freien Austausch – vorbei?

Und dennoch wäre die Liquidation von Memorial eine Zäsur. Mit der Auflösung der unter anderem von Andrei Sacharow und Arseni Roginski noch in der Sowjetunion erstmals unabhängig „von unten“ gegründeten Organisation endete ein Zeitraum von 30 Jahren, in denen Memorial geradezu beispielhaft die Aufarbeitung der Zeit der stalinistischen Repression mit aktueller Menschenrechtsarbeit verbunden hat. Dabei wurden immer auch Brücken ins Ausland gebaut.

Durch den Austausch mit den russischen Kolleginnen und Kollegen von Memorial, die immer mehr auch zu Freundinnen und Freunden geworden sind, habe ich unendlich viel über Russland erfahren. Und umgekehrt gern über das Leben und die Arbeit hier berichtet. Geradezu enthusiastisch wurden gemeinsame Projekte begonnen.

Was für ein Privileg war es, zu den Anfang der 2000er-Jahre auf dem Gelände des früheren Gulags Perm 36 alljährlich stattfindenden Festivals „Pilorama“ beitragen zu können. Internationale Gäste kamen dort mit ihren russischen Kolleginnen und Kollegen und mit Menschen aus der Region ins Gespräch, tauschten sich – durchaus auch kontrovers – aus; man hörte gemeinsam Konzerte.

Diese maßgeblich auch von Memorial gestalteten und auch von der örtlichen Administration unterstützten Festivals gaben Kraft, waren wie eine alljährlich vitalisierende Spritze. Sie gaben eine Idee von dem, welche Qualität ein freier internationaler Austausch gerade auch mit der örtlichen Bevölkerung haben kann.

Da war etwa die Lehrerin, die sich dafür bedankte, dass man sich Jahr für Jahr auf den Weg in die russische Provinz machte, und die versicherte, dass sie sich durch die Begegnungen inspiriert fühlte, Anregungen für die Gestaltung des Unterrichts bekam. Die Idee von einem „europäischen Haus“ bekam in den Permer Sommern ein wenig Gestalt.

Der Staat interpretiert nun Geschichte

„Pilorama“ ist inzwischen Geschichte. Das Gulag Museum Perm 36 wird nicht mehr von Nichtregierungsorganisationen, sondern vom Staat betrieben. Maßgebliche Personen, die das bereits zerstört gewesene Lager wieder aufgebaut und zu einem Ort des Nachdenkens und der Begegnung gemacht haben, wurden ausgegrenzt.

Das von der russischen Führung immer stärker geschürte Misstrauen gegen jede Form unabhängigen gesellschaftlichen Engagements war zuletzt zunehmend mit Händen zu greifen: Allein der Staat bestimmt, was und wie diskutiert wird. Oder wie es mir ein Vertreter der „Macht“, der sich mir beim letzten Pilorama-Festival als „Vertreter von Putin“ vorstellte, zu erklären suchte: „Wir finanzieren das hier doch nicht mit, damit Ihr hier den Präsidenten kritisiert.“

Seit dieser Zeit können wir nicht mehr viel gestalten. Es galt, bestehende Kontakte zu halten und sich ungeachtet aller Schwierigkeiten weiter miteinander auszutauschen. Es ging, wie Arseni Roginski es ausgedrückt hat, darum, Inseln zu bewahren und – wenn es gut liefe – dafür zu sorgen, zwischen diesen Inseln wieder die eine oder andere Landbrücke zu schaffen.

Durch die Auflösung von Memorial würde die wohl größte dieser Inseln zerstört. Die russische Führung ist dabei, einen international anerkannten und vielfach ausgezeichneten Eckpfeiler, auf den sich ein guter Teil der Hoffnung auf eine gute Zukunft für und mit Russland gründet, zu zerstören. Und es ist zu hoffen, dass endlich auch die, die im Westen gute Kontakte zu Russland pflegen und dabei meinen, sich nicht in die Angelegenheiten dieses souveränen Landes einmischen zu sollen, das erkennen und die Zäsur deutlich benennen, die in der Auflösung von Memorial läge.

„Die einzige Garantie für Frieden auf der Welt ist die Einhaltung der Menschenrechte in jedem einzelnen Land. Deshalb kennen Menschenrechte keine Staatsgrenzen“ wird Andrei Sacharow zitiert.

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