Nicht alle sind putinbesoffen

Es gibt ein anderes Russland, stille Helden, die Nein sagen zum Morden und Lügen

Sonia Mikich: Wird Russland nun Nordkorea?

Als ich Anfang der 90er-Jahre als ARD-Korrespondentin nach Moskau kam, hatte ich diesen leidenschaftlichen Ehrgeiz, alles, einfach alles über das neue Russland und das verlöschende Sowjetimperium zu durchdringen. Eine Russland-Versteherin, eine Kennerin von Zusammenbrüchen, Umbrüchen, Aufbrüchen, das wollte ich werden.

Die Menschen und ihre Zukunftshoffnungen musste ich damals einfach lieben. Anders als der Westen war Russland nicht auserzählt. Ich lebte in einer unvollendeten Gesellschaft, sie schien sich ruckartig, manchmal blutig ausschlagend vorwärtszubewegen, um dann mindestens einen Schritt zurückzutun und dann lange auf der Stelle zu treten.

Moskau war voll von Reporterinnen, Analysten und Geschäftsleuten, die dabei sein wollten, während sich Weltgeschichte entfaltete. So viel Energie! High von geopolitischen Veränderungen – wo passierte dies sonst noch auf der Welt?

Mir ist wichtig, daran zu erinnern, wie demokratiebegeistert die Menschen in Russland waren. Das Ende der kommunistischen Weltmacht brachte nie gekannte Freiheiten wie Reisen, Glauben, Wählen, Kritisieren. Die Furcht war weg, und Medien- und Meinungsvielfalt trugen dazu bei.

Als Boris Jelzin 1991 vor dem Weißen Haus in Moskau den Panzer bestieg und den Putsch der Ewiggestrigen gegen Gorbatschow beendete, halfen junge, mutige Journalisten uns Ausländern, den Machtkampf zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu verstehen, Drehgenehmigungen zu besorgen, kritisches Material zu bearbeiten, geheime Archive zu betreten. Schwer zugänglich? Noch nie gemacht? Riskant? Ach was, man war so frei, zum ersten Mal die Kalaschnikow-Produktion zu filmen oder das berüchtigte Kresty-Gefängnis in Leningrad – Anruf genügte.

Privatisierung auf Dollar komm raus

Und der junge, noch ziemlich unbekannte Gouverneur von Nischni Nowgorod, Boris Nemzow, erklärte mir, dass jeder Kiosk in der Fußgängerzone ein vier Quadratmeter großer Beleg für den Sieg der Marktwirtschaft sei.

Privatisiert wurde auf Dollar komm raus, auf Kosten breiter Schichten der Bevölkerung. Millionen verloren ihre Ersparnisse, ihre Arbeit, ihre Zuversicht. Korruption und mafiöse Strukturen wucherten, während der Westen Jelzins Russland eine brutale Modernisierung auferlegte.

Darüber berichteten investigative Journalisten zur besten Sendezeit in wöchentlichen Politmagazinen (so wie Monitor oder Panorama) oder Dokumentationen, und die Wochenzeitschrift Itogi konnte es mit jedem Westblatt an Kritikfreude aufnehmen. Die Satiresendung Kukli durfte gegen die Regierung und die neuen Kleptokraten giften.

Die späteren Oligarchen, die sich so obszön bereicherten, kamen oft aus dem Komsomol oder den Geheimdiensten. Pessimistisch benannte die Literaturnaja Gazeta damals zwei Typen im Land: Plünderer und Invaliden.

Ironische Fußnote: Mit einem kritischen Kollegen vom Sender NTW machte ich über die Synchronität von Reform und Absturz eine zweisprachige Fernsehsendung: Dima Kiseljow, damals ein Freigeist und Jazzliebhaber, heute der oberste, mächtigste Propagandist Putins, der im Staatsfernsehen gegen alles Westliche giftet und hetzt.

Damals, als alles besser war

Wie hieß es in den 90ern im Westen so nüchtern? Das Land habe nur die Wahl zwischen einem geordneten und einem ungeordneten Zusammenbruch. Doch der Wildostkapitalismus hatte Folgen: Neben der „Orgie der Selbstbereicherung“ brachte er eine irrationale Sehnsucht nach einstiger Größe hervor, als Russland Weltmacht war, als die Zahl der Atomraketen so verlässlich war wie Brot- und Wurstpreise.

Wladimir Putin schürte von Beginn an die Erzählung von „damals“, als alles stimmig war. Ransche byla lutsche – früher war es besser. Erinnerte an die Gewissheit, als Russe in obskuren Orten in Mittelasien verstanden zu werden, im Sommer auf die Krim zu fahren, für Tiflis genauso wenig ein Visum zu brauchen wie für Riga.

Doch quasi über Nacht waren nach dem Zerfall der Sowjetunion Familien geografisch, politisch und ökonomisch getrennt, für sie ein Trauma. 25 Millionen Auslandsrussen: Putin sprach von dieser „größten Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ und fand ein Echo im Volk.

Die gelenkten Medien und eine quasi-religiöse Geschichtsverfälschung schafften dann den Rest: Lange vor der völkerrechtswidrigen Okkupation der Krim verbreitete sich seine neue, alte Obsession mit der russki mir – der „Russischen Welt“, der Solidargemeinschaft aller Slawen. Das Andere, Bessere zwischen Europa und Asien.

Wenn die Menschen in Russland nun tagein, tagaus hören und lesen, dass in Kiew „Nazis“ und „Faschisten“ an der Macht seien, von „Ausländern“ gelenkt, ruft Putin die vermeintliche Überlegenheit seines Volkes auf; es hatte ja im Großen Vaterländischen Krieg zu einem ungeheuren Preis den Faschismus besiegt. Das war doch der Moment, als Russen auf der guten Seite standen, von aller Welt geachtet.

So sehen es sogar ganz junge Menschen, wie mir Moskauer Freunde erzählen: Die Großmutter litt Hunger und Not im Zweiten Weltkrieg, da werde man heutzutage ebenfalls große persönliche Opfer bringen. Verzicht als Fortsetzung einer erhabenen Tradition, soll der Westen nur noch mehr Sanktionen verhängen.

Antifaschismus und Religion

Der historische Antifaschismus und die orthodoxe Religion gehen eine bizarre Symbiose ein. Patriarch Kyrill gibt dem Krieg in der Ukraine „metaphysische Bedeutung“, weil dies der gute Kampf für die wahre Identität der Russen sei. Dekadenz wird exorziert, Macht wird wieder geheiligt. Der Kriegspräsident stellt mit seinen Aggressionen gegen verwestlichte Nachbarn doch nur einen richtigen Schicksalsverlauf wieder her.

Russland – mythenvernarrt, zur Größe erkoren. Die „russische Seele“? Ich schrieb über den oft devoten Respekt vor Europa, vor dem Westen. Und daneben die heimliche Verachtung, weil wir Westler von den existenziellen Dingen, von Überleben und Tod nichts verstehen, sondern nur vom Konsumismus und Materialismus. Bei Verhandlungen, bei Interviews, bei privaten Bekanntschaften, bei flüchtigen Begegnungen: In ein und derselben Person spürte ich oft gleichzeitig einen Überlegenheits- und Minderwertigkeitskomplex.

Mich überraschte nicht, dass Anfang der 2000er der Nachfolger Jelzins endlich auf Augenhöhe in den Club der westlichen Mächte aufgenommen werden wollte und gleichzeitig von vornherein westliche Werte verachtete. Zu keiner Stunde, davon bin ich überzeugt, hatte der Ex-Geheimdienstler Putin Menschenrechte, individuelle Freiheit und Widerspruchsfähigkeit akzeptiert. Viel mehr als das Näherrücken der Nato provozierte ihn die Zeitenwende in Kiew, wo Präsidenten einfach abgewählt oder fortgejagt wurden und Menschen sich Freiheiten nahmen, nicht unähnlich der frühen 90er-Jahre in Moskau.

Das stille Nein zum Morden und Lügen

Und nun werden die Namenslisten der Geheimdienste länger, die wenigen Demonstranten landen im Fadenkreuz eines misstrauischen Überwachungsstaats. Opponierende können sicher sein, dass die Diktatur sie als Störenfriede markiert hat und sie immer wieder Schwierigkeiten bekommen werden.

Doch wenn ich die zehn, hundert Protestierenden auf meinen Bildschirmen sehe, möchte ich jeden Einzelnen umarmen, mich bedanken. Ihr Nein zum Morden und Lügen ist eine stille Heldentat, die nur wenige Minuten lebt, bevor Putins Schergen sie einhegen. Sie sind nicht viele, und doch sind sie mehr als eine bloße Zahl. Ich weiß, dass auf jeden sichtbaren Demonstranten in diesen Tagen Zehntausende verstummte Russinnen und Russen Putin wegwünschen.

Nicht lange her, da schrien sie laut „Russland wird frei!“, die Jungen, die Nawalny-Generation, die Mittelschicht der Jelzin-Jahre. Sie forderten landesweit in Massen den Autokraten mitsamt seiner Oligarchen-Mitläufer, seiner korrupten Kreml-Gang heraus und hofften trotzig auf die Zeit „nach Putin“. Diese Verstummten wissen – trotz der Betäubungsversuche der Propagandamedien – dass ihr Präsident sich an der Ukraine verhoben, nein, verschluckt hat.

Schade, dass ich so betonen muss: Nicht alle sind putinbesoffen. Die Neinsager, sie fürchten die vollendete politische Stagnation. Eine Besatzung der Ukraine wird ihr Land militärisch, wirtschaftlich, geopolitisch in die Knie zwingen. Sie wird materiell und ideell mehr kosten als alle Fässer Rohöl, Waggons Kohle und Tanks Erdgas hergeben. Russland wird nun Nordkorea? Isoliert, geächtet und demnächst verarmt?

Die Dunkelheit kommt, sie werden zur Erstarrung verdammt wie in der Sowjetzeit. Der Unterschied zur bleiernen Vergangenheit ist, dass das Volk von heute Jahrzehnte der Reisefreiheit und der vollen Regale genossen hat, auch jenseits der Metropolen.

Jetzt sind die letzten kritischen Medien ausgeschaltet. Nur im Privaten, am Küchentisch, wie unter Breschnew und Co., wagen sie es heute auszusprechen: Putin wird dem besetzten „Bruderland“ nur eine Friedhofsruhe aufzwingen. Versöhnung? Undenkbar.

Manche in Deutschland fragten mich neulich erschrocken, wo denn der „gute“ Putin abgeblieben sei, der hatte doch diese Rede vor dem Bundestag gehalten, auch noch auf Deutsch? Mit Partnerschaft und unkomplizierten Wirtschaftsbeziehungen gelockt? Nun ja, gleichzeitig machte der „böse“ Putin aus Grosny ein zweites Stalingrad, tote Zivilisten, Trümmerlandschaft, Massenflucht inklusive. Wir hörten hoffnungsfrohe Worte im Bundestag, ja, aber kein einziges Wort des Beileids oder Trostes für die Opfer des Tschetschenien-Feldzugs, auch nicht für die russischen. Die Zahl der eigenen toten Soldaten wurde, wie immer in der Geschichte, vertuscht.

Sonia Mikich war bis 2018 Chefredakteurin des WDR, zuvor leitete sie die ARD-Studios in Moskau und Paris und war unter anderem Redaktionsleiterin und Moderatorin des Politmagazins Monitor. Im Verlag Kiepenheuer & Witsch ist kürzlich ihre Autobiografie „Aufs Ganze – Geschichte einer Tochter aus scheckigem Haus“ erschienen.

Dieser Text ist auch als Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung erschienen.

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