Bereit zu großen Halbherzigkeiten
Die Europäer haben mehr Angst vor steigenden Gaspreisen als vor einem dritten Weltkrieg
In der US-amerikanischen Zeitung Politico wurde ein EU-Land beziehungsweise ein Teil davon – nämlich die Suwalki-Lücke in Litauen – zum gefährlichsten Ort der Welt gekürt. Es ist das Gebiet um die Grenze zwischen Polen und Litauen, das von Belarus nach Kaliningrad führt.
Ein paar Tage später erklärte die estnische Premierministerin Kaja Kallas, der Plan der Nato zur Verteidigung des Baltikums sehe eine Besetzung ihres Lands durch Russland und (möglicherweise) eine Befreiung nach einem halben Jahr vor. Im Grunde käme das der kompletten Zerstörung einer ganzen europäischen Nation gleich, denn nach sechs Monaten Okkupation würde von Estland rein gar nichts mehr übrigbleiben.
Wie es aussieht, sind wir in eine Katastrophe geraten und schon mittendrin – der Krieg in der Ukraine wütet seit gut vier Monaten, Wohnhäuser und Einkaufszentren werden mit Raketen beschossen, einige ukrainische Städte wurden dem Erdboden gleichgemacht. Europa jedoch hat noch immer keinen klaren, gemeinsamen Standpunkt.
Während Litauen und Polen täglich die härtesten und entschlossensten Maßnahmen fordern, um Putin zur Vernunft zu bringen, ruft eine Reihe westlicher Politiker dazu auf, ihn nicht zu provozieren und den Dialog fortzusetzen – Zeit für kompromisslose Zugeständnisse. Zudem werden immer mehr Stimmen laut (etwa von linken deutschen Intellektuellen), die an die Ukraine appellieren aufzugeben. Das klingt, als würde man von einer Frau, die vergewaltigt wird, erwarten, dass sie sich nicht zur Wehr setzt – vielleicht beruhigt sich ja der Vergewaltiger, und sie werden noch ein schönes Paar.
Eine ungeheuerliche Logik, aber wir müssen uns eingestehen, dass immer mehr Europäer ihr anhängen (vor allem diejenigen, die mehr Angst haben vor steigenden Gaspreisen als vor einem Dritten Weltkrieg). Für Europas Frieden und Integrität soll die Ukraine den Kopf hinhalten. Die Darbringung eines großen – oder nicht mal so großen – Opfers. Der Preis für entspannte Ferien und ein reibungsloses kommendes Schuljahr. Genug vom Ukraine-Spiel.
Können wir endlich ein neues Kapitel aufschlagen? Die Athener oder Neapolitaner kümmert der russisch-ukrainische Krieg, wenn sie ehrlich sind, kaum. Ist doch nur postsowjetisches Gezerre, denken sie sich. Warum sollen sie deswegen leiden?
Brauchst du die Ukraine, Europäer?
Die Durchschnittseuropäer sind bereit, sich ehrenamtlich zu engagieren, Flüchtlinge aufzunehmen, Geld zu überweisen und den Opfern der Gewalt zu helfen. Aber sind sie auch bereit, für die Integrität Europas zu kämpfen, wenn ihnen dessen Grenzen nicht wirklich klar sind? Wieso sollten sie Lettland oder Polen verteidigen, wenn in Europa auch so (Stichwort Brexit) die Fugen krachen?
Genau darauf setzt der russische Diktator. Derzeit spielt Putin sich als Europas Lehrer auf, hält dem Europäer einen roten Stift und eine Landkarte hin und sagt: Zeichne ein, für welche Gebiete du dein Leben riskieren würdest! Gehen dich als Einwohner von Stuttgart Odessa und Kaunas etwas an? Weißt du überhaupt genau, wo diese Städte liegen?
Ich erhebe Anspruch auf dieses Gebiet, sagt Putin, aber du, brauchst du es wirklich? Hast du das gründlich überlegt? Wozu bist du als Europäer wirklich bereit? Ich, Putin, steuere auf einen Atomkrieg zu, und du? Sei ehrlich, Europäer, und sag mir, ob du die Ukraine wirklich brauchst, wo dir doch auch Belarus mit seinen zehn Millionen Menschen scheißegal ist, das ich praktisch schon besetzt habe.
Scheißegal ist Belarus übrigens nicht nur dir, sondern auch dem guten Selensky, der auch während der zwei Jahre, in denen die Belarussen um ihre Freiheit kämpften, bis zum 23. Februar 2022, den Kontakt zu Diktator Lukaschenko gepflegt und die Handelsbeziehungen mit Belarus beibehalten hat. Als ob ihn das vor dem Angriff hätte bewahren können.
Warum setzt du dich also jetzt für die Ukraine ein? Ich kann dir, sagt Putin, noch viele Argumente nennen, die dein Gewissen beruhigen, nur, lieber Europäer, zieh doch die Grenzen bitte dort, wo früher die Berliner Mauer stand, und stecke deine Nase nicht in meine Angelegenheiten! Du, mein friedliebender Freund in Europa, und ich – wir werden zusammen eine neue Mauer bauen!
Putins Prüfungen für Europa
Putin lässt die Europäer zu zwei Prüfungen antreten: Geschichte und Geografie. In Geschichte geht es darum, sich an die Fehler des zwanzigsten Jahrhunderts zu erinnern, in Geografie, Europas Grenzen einzuzeichnen. Was ist für uns unantastbar, was sind wir bereit zu opfern?
Putin streckt den Europäern die helfende Hand entgegen und sagt: Ich habe vor nichts Angst, ich beginne den Dritten Weltkrieg – ihr könnt das gern so wie die linken deutschen Intellektuellen als Argument verwenden, um die eigene Angst zu rechtfertigen. Erfüllt meine Forderungen, und ich lasse euch dastehen als weise Friedenstauben, die mich aufgehalten haben. Mir kann mein Ruf gestohlen bleiben, auf die Meinung von euch willenlosen Europäern pfeife ich sowieso.
Keine leichte Prüfung, stimmt’s? Die Freiheit des Anderen oder persönliche Sicherheit?
Im Unterschied zu den linken deutschen Intellektuellen wissen wir noch, dass bei der Befreiung der faschistischen Konzentrationslager die sowjetischen Soldaten auf Befehl des Kreml die Baracken von Buchenwald zerlegt und in der Sowjetunion wie IKEA-Möbel wieder zusammengesetzt haben – als GULag-Lager. Wir wissen, dass die Gaswagen in der Sowjetunion erfunden wurden, schon vor Nazideutschland, und dass im heutigen Belarus, das, wie gesagt, derzeit praktisch von Russland okkupiert ist, Tränengas in die Gefängniszellen von Anti-Kriegs-Demonstranten geleitet wird.
Wir wissen, dass bei den Nürnberger Prozessen die Sowjetunion von Staatsanwalt Roman Rudenko vertreten wurde, der zur Zeit des Großen Terrors persönlich die Protokolle der Troikas unterschrieb, also außergerichtliche Tötungen absegnete. Obwohl Rudenkos Beteiligung an den stalinistischen Verbrechen bewiesen ist, wird im heutigen Russland noch immer eine Medaille mit seinem Namen an Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft verliehen – an jene also, die dieser Tage den eigenen Staatsbürgern, die gegen diesen Krieg auftreten, mit Repressionen sondergleichen begegnen.
Die Europäer wollen leben, nicht sterben
Wir wissen, dass 1937 in der Sowjetunion 111 000 Menschen als polnische Spione erschossen wurden, obwohl der polnische Geheimdienst auf der ganzen Welt kaum tausend Mitarbeiter hatte. Aber was bringt es uns, das alles zu wissen? Was haben wir davon, dass uns klar ist, dass Russland in seinen frisch eroberten Gebieten genauso vorgehen wird wie immer? Was hat das alles mit uns zu tun, wenn es doch eigentlich gar nicht in Europa passiert? Oder doch in Europa?
Das ist die Grundsatzfrage, die Putin uns stellt. Und das Problem ist, dass darauf jeder eine eigene Antwort hat. Litauen und Polen sehen sich innerhalb Europas, aber sehen das die Franzosen, Italiener und Deutschen auch so? Ihren Worten nach schon, aber Worte werden Putin nicht aufhalten.
Putin sah sich an, wie atomisiert die russische Gesellschaft ist, und verstand als Erster, dass Europa nicht weniger gespalten ist. Die Bewohner von Palermo scheren sich einen Dreck um Danzig – und umgekehrt. Die Europäer sind so weit bereit zu helfen, wie es sie als Menschen humanitärer Gesinnung erscheinen lässt und ihre Sicherheit nicht beeinträchtigt.
In einer Welt, in welcher der Fußballverein Manchester City für seine Verteidigung mehr Geld ausgibt als viele europäische Staaten, wollen die Menschen nicht mehr kämpfen. Im Unterschied zu Putin will der Europäer leben und nicht sterben. Unter der Angst vor einem neuen Weltkrieg schrumpelt der Kontinent Europa auf die Größe der Wohnung jedes einzelnen Prüflings zusammen.
Putin scheint die Antwort der Europäer schon gehört zu haben, ehe die Frage überhaupt ausformuliert war: Also, wo verlaufen Europas Grenzen? – Da, wo sie uns nicht berühren. – Zu welchen Opfern sind wir bereit? – Zu allen, die uns nicht direkt betreffen. Wir geben der Ukraine zwölf Punkte beim Songcontest und Russland – tut uns leid – neunzig Milliarden Euro für Gas.
Wir sind bereit, Rathäuser, Stadtämter und Eiffeltürme in den Farben der ukrainischen Flagge zu beleuchten, aber nicht, gegen die russische Waffenindustrie Sanktionen zu verhängen. Wir sind bereit, Zeit zu schinden, Versprechungen zu machen und zuzusehen. Wir sind bereit zu großen Halbherzigkeiten.
Die Russen kennen ihre Grenzen, wir Europäer kennen sie immer noch nicht. Russland will sich ausdehnen, und wir sind bereit (wenn das die Rettung bringt), Platz zu machen. Wie Europa bei dieser Prüfung abschneiden wird, ist ungewiss, aber eines ist jetzt schon klar: Wenn es durchfällt, erwartet unseren Kontinent nicht nur ein Butscha, sondern Tausende.
Sasha Filipenko ist ein belarussischer Schriftsteller. Auf Deutsch erschien von ihm zuletzt der Roman „Die Jagd“ (Diogenes Verlag, 2022).
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der FAZ erschienen. Wir danken dem Autor und der Übersetzerin Ruth Altenhofer für die Erlaubnis, den Text auch auf KARENINA zu veröffentlichen.