Belarus: Glaube, Hiebe, Hoffnung

Vitali Alekseenok, Dirigent, Aktivist und Autor von „Die Weißen Tage von Minsk“ im KARENINA-Interview

Kampfpause? Vitali Alekseenok in den Farben der Opposition vor der geballten Staatsmacht in Belarus

Vitali Alekseenok, geboren 1991, lebt seit fünf Jahren in Deutschland, „für klassische Musik das Land Nummer eins, auch für einen Dirigenten wie mich“, sagt er. Als solcher leitet er seit 2018 das Abaco-Sinfonieorchester der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Alekseenok spricht sehr gute Deutsch, das sei doch „selbstverständlich, wenn man in Deutschland lebt“. Die Sprache habe er im Internet gelernt, sagt er, während seiner Studienjahre in St. Petersburg, wohin er zog, weil es in Belarus immer noch Zwangsanstellung gibt, ein „postsowjetisches Erbe“. Man müsse nach dem Studium zwei Jahre in Belarus oder Russland arbeiten. Er entschied sich für Russland.

Inzwischen beschäftigt er sich auch intensiv mit der belarusischen Geschichte, der Kultur und der Sprache. Das alles war in der Sowjetunion verloren gegangen. „Russisch war für uns die Weltsprache“, sagt er. „Alles andere war peinlich. Das klang nach bäuerlich, ungebildet. Seit den 1930er-Jahren galten alle anderen Sprachen in der Sowjetunion als kompromittierend, man schämte sich dafür, die zu sprechen.“

In seinem Buch „Die weißen Tage von Minsk. Unser Traum von einem freien Belarus“ berichtet er von seiner Reise in die Heimat. Wenige Tage vor den Wahlen im August 2020 wollte er dabei sein bei den Demonstrationen gegen den ewigen, autokratischen Staatschef Alexander Lukaschenko.

Er sah, wie in den Wahllokalen gefälscht wurde, traf mutige Demonstratinnen und prügelnde Polizisten, trug Plakate über die Straßen von Minsk und dirigierte vor der Philharmonie für das oppositionelle Publikum die Uraufführung des Werks „Sommer am Ufer der Freiheit“ von Andrej Chadanovič (Text) und Volha Padhajskaja (Musik).

Im Interview mit KARENINA sprach er über Ängste vor dem Staatsterror und Hoffnungen auf eine demokratische Zukunft.

KARENINA: Im Winter war es auf den Straßen in den Städten ruhiger. Swetlana Tichanowskaja, Lukaschenkos Gegenkandidatin, hat aus dem Exil in Litauen zu weiteren Demonstrationen aufgerufen. Nun wird wegen „Terrorverdachts“ gegen sie ermittelt. Was sagen Sie dazu?

Vitali Alekseenok: Das ist natürlich fragwürdig. Die Staatsanwaltschaft spricht von „Terrorverdacht“. Wir wissen nicht, was angeblich geplant war.

Frau Tichanowskaja hat ja im Februar gesagt, wir hätten die Straße verloren. Für mich war klar, dass die Proteste im Winter abklingen. Tatsächlich haben sich am 25 und 27. März nur wenige auf die Straßen getraut.

Aber es gab kürzlich eine Befragung einer Internetplattform, bei der mehr als 700 000 Belarusen erklärt haben, dass sie immer noch gegen Lukaschenko sind, dass sie immer noch Veränderungen wollen. Die gehen jetzt nicht auf die Straße, weil es viel zu gefährlich ist. Die Belarusen suchen jetzt nach Wegen, wie man den Prostest anders ausdrücken kann.

Zu gefährlich kann in diesen Zeiten zwei Gründe haben: Corona oder schlicht Angst vor der Repression.

Corona ist leider gar kein Thema in Belarus. Die Regierung hat Corona schon im Frühjahr 2020 geleugnet. Und der ehemalige Präsident hat damals von einer Psychose gesprochen.Es gab bisher keine strikten Maßnahmen gegen das Virus, keinen Logdown. Und weil das von oben kommen müsste, haben viele Menschen in Belarus keine Angst vor Corona. Ergo: Dass die Menschen weniger demonstrieren, liegt zu 95 Prozent an der Angst.

Wenn Sie vom „ehemaligen Präsidenten“ sprechen, gehen Sie davon aus, dass die Wahlen nicht nur gefälscht waren, sondern dass mehr als die Hälfte der Belarusen nicht für Lukaschenko gestimmt hat. Richtig?

Ja, aber wir haben keine eindeutigen Beweise, dass Tichanowskaja zur Präsidentin gewählt wurde. Weil die Wahlen gefälscht worden sind, haben wir derzeit keinen legitimen Präsidenten. International haben ja viele Länder Lukaschenko nicht anerkannt, sie betrachten ihn als illegitimen Präsidenten.

Trotzdem versucht er, mit allen Mitteln an der Macht zu bleiben. Sie schreiben, dass belarusische Polizisten in Deutschland ausgebildet worden seien. Die belarusischen „Banditen der Macht“ hätten „die Erfahrungen der Protestunterdrückung von der deutschen Bereitschaftspolizei übernommen“. Wie das?

Belarusische Bereitschaftspolizisten waren zwischen 2008 und 2011 oft in Deutschland zu Gast. Polizisten und auch andere Machtstrukturen haben sich beraten lassen und viel beobachtet. Ich habe die Dokumente über diese Zusammenarbeit gelesen.

Nach den Massendemonstration im Dezember 2010 in Minsk, wo ich auch dabei war, haben Aktivistinnen und Aktivisten die deutsche Regierung gefragt, welcher Art die Zusammenarbeit war. Ich habe die Antworten gelesen. Darin wurde bestätigt, dass die belarusische Polizei in Deutschland war und Erfahrungen gesammelt hat.

Ob man deshalb die deutsche Bereitschaftspolizei anklagen kann, weiß ich nicht. Ich kann denen also nichts vorwerfen, nicht anklagen. Es ist klar, dass es den Kontakt gab. Aber es ist nicht klar, wie tief der Kontakt war.

Vitali Alekseenok

Die weißen Tage von Minsk
Unser Traum von einem freien Belarus

S. Fischer
192 Seiten
Hardcover
18,00 Euro
ISBN 978-3-10-397098-2
Zum Verlag

Gleichwohl schreiben Sie, die belarusisch Polizei habe „die Erfahrungen der Protestunterdrückung von der deutschen Bereitschaftspolizei übernommen“.

Das ist ja das tägliche Brot der Bereitschaftspolizei. Das haben sie gelernt.

Und die deutsche Bepo war der Lehrer?

Belarusische Bereitschaftspolizisten waren in Deutschland bei den Übungen der deutschen Bereitschaftspolizei und haben gesehen, wie die deutschen Bereitschaftspolizisten gelernt und trainiert haben, wie man Proteste unterdrückt.

Sie beschreiben auch die Zustände in den Gefängnissen, Prügel gegen Gefangene, Vergewaltigungen der Männer, deren Hosen hinten aufgeschnitten gewesen sein sollen, Folter. Das wissen Sie verlässlich von Freigelassenen?

Ja. Das betrifft in dieser Härte vor allem die 7000 zwischen dem 9. und 12. August Festgenommenen. Insgesamt gab es im August 35 000 Inhaftierte, die für bis zu 25 Tage sozusagen administrativ in Haft genommen und danach wieder freigelassen worden sind.

Aber wir haben derzeit noch 323 politische Gefangene, die zum Teil schon seit mehreren Monaten einsitzen. Auch die werden angeblich gefoltert, auch psychisch unter Druck gesetzt.

Auch Polizisten sind Menschen. Warum zeigen so viele ihre unmenschliche Seite? Sind das alles Sadisten?

Einige offenbar schon. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass normale Menschen so etwas machen können. Vielleicht standen die unter medizinischen Präparaten. Einige der damals Inhaftierten berichteten, dass die Augen von Polizisten wirkten, als stünden sie unter Drogen. Tierisch kann man das nicht nennen, Tiere benehmen sich besser. Menschen sind offenbar zu größerer Gewalt fähig. Und es gibt Menschen, die können Gewalt genießen.

Andere waren schlicht loyal. Die haben nicht den Mut, dagegen aufzustehen; die machen, was sie müssen. Schläge gehören offenbar zu derer Arbeitsmethoden.

Nach den ersten Tagen war auch denen klar: Es gibt kein zurück mehr. Die haben Blut an den Händen. Darüber verzweifelten sie, weil sie wissen, dass wir ihre Namen kennen. Sie verstehen, dass Menschen aus der Nachbarschaft oder gar der Familie sie verachten oder hassen. Und dass ihre Opfer sich rächen wollen. Sie müssen deshalb hart bleiben, damit wir keine Chance bekommen, sie juristisch zu bestrafen. Was zu hohen Strafen führen könnte, in Belarus gibt es immer noch die Todesstrafe, und einige hätten sich das verdient, theoretisch.

Aber vielleicht würde eine Opposition, die Demokratie und ein anderes politisches System wünscht, die Todesstrafe in Belarus abschaffen?

Im Herbst gab es, nicht weit von dem Gefängnis in Minsk, in dem die Menschen gefoltert worden waren, ein Graffito, auf dem stand: Wenn ihr im Gefängnis sein werdet, werden wir euch Essen und Wasser geben und euch trotz allem menschlich behandeln.

Die Opposition hat sich ja häufig bei der Frage geirrt, wie groß die Unterstützung der Bevölkerung ist: zum Beispiel in allen Ländern während der Arabellion. Können Sie das für Belarus einschätzen?

Trotz Verbots versuchen Soziologen und Analytiker, das herauszufinden. Das Wahlergebnis können wir dafür nicht nutzen. Es ist ja gefälscht. Aber die Onlineplattform Golos („Stimme“) ist entstanden als eine Art alternative Wahlkommission. Dort haben sich mehr als eine Million Menschen angemeldet. (Zahl der bei der Wahl im August abgegebenen Stimmen: 5,8 Millionen) Von haben fast alle gegen Lukaschenko und die meisten für Tichanowskaja gestimmt.

Außerdem können wir die Menschen zählen, die auf den Straßen waren. In Minsk waren von insgesamt zwei Millionen Einwohnern zwischen 200 000 und 400 000 auf der Straße. Und so ungefähr war es auch in anderen Städten. Das waren überall Dutzende Prozent. Das waren viel mehr als in den Jahren seit 1991. Dabei trauen sich nicht alle Gegner von Lukaschenko auf die Straße, und nicht alle Gegner offenbaren sich online.

Wie bewerten Sie die Unterstützung Lukaschenkos durch den Kreml?

Es gibt sie. Hätte Putin Lukaschenko nicht den Rücken gestärkt, hätte der die Macht verloren. Putin ist seine wichtigste Stütze, vielleicht seine einzige. Der Kreml beziehungsweise sein Anführer wollte nicht, dass die demokratische Bewegung gewinnt. Das wäre ein schlechtes Zeichen für die russische Autokratie gewesen.

Als Nawalny aus Berlin zurückkehrte, sah es in Russland so aus, als bereite sich die russische Bereitschaftspolizei auf einen Krieg vor. Die hatten Angst vor den erwarteten Protesten, und dass die berechtigt war, hatte die belarussisch Opposition gezeigt.

Das heißt: Putin wollte kein aus seiner Sicht schlechtes Beispiel vor der eigenen Haustür haben?

Ja, das hätte zu viele Menschen ermutigt und inspiriert, weil sie gesehen hätten, dass Menschen doch etwas bewirken können. In autokratischen Regimen ist dieser Gedanke nicht so populär, dort bleiben die Menschen eher passiv, sie bleiben stumm und verstecken sich.

Was wollen die Menschen von Belarus eigentlich? Ist das ein geschlossener Block. Wollen alle Lukaschenko und das Regime weghaben und ein anderes politisches System einführen? Und wenn ja: welches? Streben sie in Richtung EU oder nicht?

Unabhängige Soziologen versuchen das herauszufinden, obwohl solche Studien nur dem Staat erlaubt sind. Was die Oppositionsbewegung eint, ist nicht die Frage Russland oder EU. Man denkt nicht, nach welchem System der belarusische Staat gestaltet werden soll.

Es gibt eine Person, die eine Entwicklung aufhält. Und diese Person muss weg. Dieser Gedanke vereint alle. Alle weiteren zersplittern in Gruppen. Das ist in einem demokratischen Land normal. Das zu werden, hält ein Mensch auf.

Was wir wollen, sind faire Neuwahlen. Dazu müsste Swetlana Tichanowskaja Präsidentin werden. Sie hätte dann nur eine Aufgabe: Neuwahlen zu organisieren.

Was erwarten sie vom Westen, von der EU, von Deutschland?

Unterstützung – über die bisherigen Sanktionspakete hinaus, von deren Listen inzwischen sehr viele systemtreue Menschen verschwunden sind. Die EU könnte viel mehr machen, klarere Zeichen setzen.

Wir sehen aber auch, dass die EU viel mehr macht als 2010. Für uns ist Lukaschenko schon Jahrzehnte illegitim, die EU hat ihn bisher immer anerkannt. Jetzt zum Glück nicht mehr. Aber es gab auch viel mehr Gewalt, viel größere Proteste. Der Tausch Freilassung von politischen Gefangenen gegen Anerkennung Lukaschenkos wird jetzt auch nicht mehr funktionieren.

Wie könnte die Unterstützung konkret aussehen?

Zum Beispiel den Menschen im Exil unterstützen. Das ist noch zu wenig. Und zu bürokratisch. Immerhin werden Belarusen inzwischen als politische Flüchtlinge anerkannt. Das ist höchstens ein erster Schritt.

Der European Song Contest hat Belarus ausgeschlossen, weil der Song gegen die Opposition spottete. Befürworten Sie das?

Ich habe diese Songs nicht gehört und den Text nicht gelesen, und zwar aus hygienischen Gründen. Ich beschäftige mich mit Musik, was das andere ist, weiß ich nicht.

Wie sieht die Zukunft von Belarus aus?

Mein Buch heißt ja: „Unser Traum von einem freien Belarus“. Diesen Traum wollen wir verwirklichen. Ich bin kein Hellseher. Aber ich weiß, dass jetzt viele von einer besseren Zukunft träumen. Wir wissen seit August sogar, dass wir dazu bereit sind. Wir wissen, dass wir ein demokratisches Land werden können und dass viele von uns sehr kompetent sind, um das zu schaffen. Sehr viele von uns sind sehr gebildet, nicht nur im intellektuellen Sinn, sondern innerlich, menschlich. Wir haben ein sehr hohes Kulturniveau.

Belarusen sind ganz klar Europäer, sie gehören und bekennen sich zum europäischen Denken. Sehr viele sprechen jetzt von einem neuen Belarus. Dieser Traum durchdringt uns alle.

 

Lesen Sie bitte auch die KARENINA-Rezension des Buchs von Vitali Alekseenok.

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