Belarus nach dem Koma
Sasha Filipenko: „Ich muss nicht Weißrussisch sprechen, um in Opposition zum Regime zu stehen“
Sasha Filipenkos Roman „Der ehemalige Sohn“ erzählt die Geschichte eines Musikschülers, der ins Koma fällt und zehn Jahre später erwacht. Diese metaphorische Abbildung der Ereignisse in Weißrussland hat sich nach den Demonstrationen und Protesten 2020 als prophetisch erwiesen. Das 2014 auf Russisch erschienene Buch ist kürzlich auf Deutsch veröffentlicht worden. Filipenko meint im Gespräch mit KARENINA, dass seine Heimat endlich aus ihrem Koma erwacht sei. Sein Buch soll den Europäer helfen zu verstehen, wo Belarus liegt, warum die Weißrussen protestieren und für die Demokratie demonstrieren und warum saubere Straßen und Cafés sie nicht zufriedenstellen.
Tatiana Firsova: Russisch und Weißrussisch sind offizielle Sprachen des Landes. Als Russin möchte ich wissen: Warum schreiben Sie Ihre Bücher auf Russisch?
Sasha Filipenko: Für mich ist die Sprache ein Kommunikationsmittel und weder eine politische Wahl noch politisches Manifest oder Geste. Wenn auf Sofas sitzende Menschen sagen, ich sei kein weißrussischer Autor, weil ich nicht weißrussisch schreibe, verstehe ich sie nicht. Weil es in unserem Land zwei Staatssprachen gibt.
Ich denke als Weißrusse, ich habe einen weißrussischen Reisepass, ich bin kein russischer Autor. Ich bin ein russischsprachiger weißrussischer Autor. Ich finde es komisch, wenn weißrussische Autoren auf Russisch schreiben und dann darum bitten, ihre Bücher auf Weißrussisch zu übersetzen, und sie dann für weißrussische ausgeben.
Wie wichtig ist die Frage der Sprache in Weißrussland?
Das ist eine Frage, die intensiv diskutiert wurde. Als ich 15, 16 Jahre alt war, habe ich einige Jahre lang in der Schule nur Weißrussisch gesprochen. Das war eine Art Geste, ein Moment der Selbstbestimmung. Du sprichst Weißrussisch, das heißt, dass du in der Opposition zur Macht bist.
Danach habe ich verstanden, dass ich nicht unbedingt Weißrussisch sprechen muss, um mich als oppositionellen Weißrussen zu verstehen, der ich seit dem ersten Tag des Jahres 1994 war, als Lukaschenko Präsident geworden ist. In meinem Buch wird das beschrieben, weil es ein wichtiges Thema für die Weißrussen ist.
Für mich ist diese Frage längst geklärt. Es ist eine Frage des Komforts. Wenn die Bürger in Minsk Russisch sprechen, soll man russisch sprechen. Es ist komisch nach Zürich zu kommen und französisch zu sprechen. Man wird dich verstehen, aber es wäre albern. Man soll aber der weißrussischen Sprache helfen, weil die bedroht ist.
Wieso?
Einerseits will ich nicht mit den Menschen zusammen sein, die sagen: Wir schreiben jetzt Weißrussisch, um die Sprache zu retten. Diese Sprache hat Stalin überlebt, sie wird sicher auch Lukaschenko überleben. Die Sprache ist eine bewegliche Struktur. Als Mensch, der sich mit Linguistik beschäftigt hat, denke ich, dass die Sprache es allein schaffen wird. Zwei schlecht auf Weißrussisch geschriebene Bücher werden die Sprache nicht retten.
Aber wir haben bald keine Schulen mehr, in denen Weißrussisch unterrichtet wird. Sie können ein Kind nicht in eine weißrussische Kita schicken. Die letzten vier weißrussischen Schulen in Minsk versucht man gerade zu schließen. Das ist ein Problem. Sie können auf Weißrussisch nicht studieren. Die weißrussische Sprache sollte die gleichen Möglichkeiten bekommen wie die russische.
Ihr Roman wurde 2014 veröffentlicht und die deutsche Übersetzung kam erst im März 2021. Nicht viele deutschsprachige Leser wissen, worum es geht. Worum geht es in ihrem Buch?
2010 (nach den Präsidentschaftswahlen, T. F.) nahm ich an den Aktionen im Zentrum von Minsk teil. Danach habe ich mich als ehemaliger Sohn meines Landes gefühlt. Ich brauchte etwas Zeit, um alles zu formulieren.
Ich wollte über dieses Koma in Weißrussland schreiben, ich spürte, dass bei uns nichts passiert. Ich wollte verstehen, wie ich zum ehemaligen Sohn meines Landes geworden bin und wie Menschen zu solchen ehemaligen Kindern werden.
Es gibt unterschiedliche Schätzungen, aber wenn in Weißrussland etwa neun Millionen Menschen wohnen und etwa drei Millionen Weißrussen im Ausland, dann ist das eine kolossale Zahl. Ein Drittel der Bevölkerung wohnt nicht zu Hause.
Ich wollte über diese Menschen erzählen. Eine Enzyklopädie von Anlässen schreiben, ein Wörterbuch von Gründen, weshalb Menschen zu ehemaligen Kindern ihres Landes werden.
Wie lange wird dieses Koma noch dauern?
Wir sind aus diesem Koma bereits erwacht. Manche haben nie geschlafen. Der Staat versucht nun mit allen Mitteln, uns wieder in dieses Koma zu versetzen. Es gibt staatliche Repressionen, die Menschen werden entführt, ermordet, gefoltert, Tausende von Weißrussen sind durch die Gefängnisse gegangen. Sie sollen, das ist das Ziel, den Kampf aufgeben und wieder ins Koma fallen. Aber ich hoffe, dass niemand mehr ins Koma fallen wird.
Bevor Sie in die Schweiz gezogen sind, haben Sie lange in Russland gelebt…
Ich habe viel Zeit in Sankt Petersburg verbracht, weil meine Familie dort ist, mein Sohn dort die Schule besucht und meine Frau dort ihr Geschäft hat. Mehrere Monate lebe ich jedes Jahr in Weißrussland und in den anderen Ländern. In den letzten Jahren wohne ich in Russland nicht mehr so viel.
Kann man die Situation in Russland mit diesem Koma in Weißrussland vergleichen? Ist Russland auch ins Koma versetzt?
Man darf Russland und Weißrussland nicht vergleichen. Russland ist ein riesengroßes Land. Das Leben ist sehr unterschiedlich. In Khabarovsk gehen die Menschen monatelang auf die Straßen und in Moskau pfeifen alle darauf. Khabarovsk ist für Moskau eine weit entfernte Kolonie.
Die Regime sind ähnlich, Lukaschenko und Putin sind ähnlich wie siamesische Zwillinge, die ein gemeinsamen Blutsystem haben und unterschiedliche Köpfe. Aber die Situationen sind trotzdem unterschiedlich. Lukaschenko hat im Land keine Unterstützung mehr. Putin hat viele Fans. Ich sehe Menschen, die Putin unterstützen.
Woran arbeiten Sie nun und wann kommt ihr neues Buch?
Schwer zu sagen. Ich schreibe ein neues Buch und ein Theaterstück. Das Buch ist bereits fast fertig, es gibt es, ich redigiere nun. Ich benutze im Buch viele Dokumenten, das ist komplizierte Arbeit.
Wird das ein Buch über Weißrussland sein?
Es geht um die Lebensgeschichte des Direktors des ersten Moskauer Krematoriums, Piotr Iljitsch Nesterenko. Er hatte ein unglaubliches Schicksal. Damit kann man vieles erzählen, was im 20. Jahrhundert in Europa und Russland passiert ist.
Wie schon im Buch „Rote Kreuze“ benutze ich viele Dokumente, und ich will viel erzählen. Nun sehen wir in Russland einerseits, dass die Museen geschlossen werden. In den Museen, wo früher über die Grausamkeiten des GULAG erzählt wurde, erzählt man nun, wie schön das Aufsichtssystem im Lager war und wie nett die Aufseher in der Sowjetunion gewesen sind. Wie sehen, wie bekannte Schriftsteller Bücher schreiben, in denen sie erzählen, wie schön es war, dass wir diese Lager hatten, weil man dort Liebe finden konnte. Aber ich denke, dass man die Liebe auch woanders finden kann.
In Russland stehen wir vor der surrealen Situation, dass viele Archivdokumente, die unter Jelzin zugänglich waren, wieder verschlossen sind. Ich lese Akten, in der einige Seiten bis heute geschlossen sind. Darüber sollten wir erzählen. Ich will viel erzählen und verstehe das als meine Pflicht.
Warum sind Sie in die Schweiz gezogen?
Weil weißrussische Propagandamedien dazu aufrufen, mich zu verhaften. Als ich letztes Mal nach Russland reiste, hat man mir an der Passkontrolle meinen Reisepass abgenommen und erst nach drei Stunden zurückgegeben. Russland und Weißrussland haben eine gemeinsame Datenbank. Ich spüre keine Gefahr, aber Freunde, Kollegen und mein Verleger raten, dass ich jetzt nicht dorthin fahren soll.
Brauchen Weißrussen mehr Unterstützung der EU, von Deutschland, der Schweiz? Wie könnte diese Unterstützung aussehen?
Es sollen Sanktionen sein, die wirklich funktionieren, und nicht Ankündigungen und Namenslisten, aus denen Lobbyisten am nächsten Tag Menschen wieder streichen. Wir wissen, dass viele Menschen, die in den Sanktionslisten stehen, doch in die Schweiz fahren. Würde Europa aufhören, zwischen Geld verdienen und Freiheit in Weißrussland zu wählen, wäre alles ganz einfach.
Wie sehen positive Beispiele wie die von Skoda oder Nivea, die darauf verzichten, die Eishockey-Weltmeisterschaft zu unterstützen. Andererseits sehen wir den österreichischen Mobilfunkdienstleister A1. Jeder zweite Weißrusse nutzt A1. und A1 schaltet das mobile Internet jedes Wochenende aus, weil das weißrussische Innenministerium das anordnet.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass bei Protesten in Berlin, Salzburg oder Wien der Innenminister von A1 verlangen würde, das Internet abzuschalten, und A1 würde dem folgen. Dann wäre A1 tot.
Es gibt viele solche Beispiele: Mitarbeiter des Roten Kreuzes haben an den Wahlfälschungen in Weißrussland teilgenommen. In jedem zweiten Wahllokal waren Vertreter der Organisation anwesend, und zwar nicht als Wahlbeobachter, sondern als Mitglieder von Wahlkommissionen. Sie haben die Stimmen gezählt.
Rund zwölf Prozent der Weißrussen sind Mitglied des Roten Kreuzes. Man kann davor die Augen verschließen, darf sich dann aber nicht wundern, wenn das Gleiche dann in Polen oder Ungarn passiert.
Europäische Politiker sollten also die verhängten Sanktionen härter erfüllen und besser darauf achten, mit wem sie Kontakte pflegen?
Sie sollten verstehen, dass Weißrussland ein unabhängiger Staat ist und kein Teil von Russland. Europäische Politiker halten Weißrussland noch immer für einen Teil von Russland. Deshalb glauben sie, man müsse darüber mit Putin sprechen.
Deshalb ist es gut, dass ihr Buch auf Deutsch erschienen ist: Es hilft deutschen Lesern, die Weißrussen mehr zu verstehen.
Das Buch kann Verständnis wecken, warum die Menschen auf die Straßen gingen. Bei einem Auftritt in der Schweiz sagte eine Frau, eine Schweizerin: „Lukaschenko ist kein Diktator! Ich war in Weißrussland, dort gibt es Supermärkte, saubere Straßen, Restaurants, Cafés. Sie sollen zufrieden sein.“
Das war eine Art europäischer Attitude gegenüber einem Menschen aus der dritten Welt. Saubere Straßen und Restaurants haben wir nicht dank Lukaschenko sondern trotz ihn. Diese Aussage hat mich sehr beleidigt.
Ich glaube nicht, dass Bücher einen sehr großen Einfluss haben, aber sie können dabei helfen, ein Land zu verstehen. Das ist so eine Art weißrussischer Reiseführer über die letzten 20 Jahre.
Der ehemalige Sohn