Wer sich ergibt, ist ein Feigling
Sasha Filipenkos Roman „Rote Kreuze“ stellt unbequeme Fragen an die Militärgeschichte der UdSSR – und an Gott
Sasha Filipenko ist 1984 in Minsk, Weißrussland, geboren, lebt aber seit seiner Studienzeit in Sankt Petersburg. Er arbeitet als Journalist und Fernsehmoderator. Seit 2014 hat er fünf Romane veröffentlicht und gleich für seine ersten Werke zahlreiche Auszeichnungen und Preise erhalten. Sein vorletzter Roman „Rote Kreuze“ ist jetzt auf Deutsch im Diogenes Verlag erschienen.
„Rote Kreuze“ gehört zu der Art von Geschichten, die zugleich spannend und erschreckend sind. Der Roman ist wie ein Horrorfilm, welcher dem Zuschauer seine Abgründe nach und nach eröffnet, nur dass es in diesem Fall das echte Leben ist.
Die Geschichte beginnt in der Gegenwart in Minsk. Alexander ist ein junger Mann mit allen altersüblichen Problemen und Herausforderungen. Als er in eine neue Wohnung zieht, lernt er seine Nachbarin kennen, die alte Tatjana Alexejewna. Obgleich man Alexanders eigenes Unglück nicht alltäglich nennen kann, wird er plötzlich von der Vergangenheit der Nachbarin überrollt.
Stück für Stück erzählt sie Alexander die Geschichte ihres Lebens: Zunächst finden wir uns in der glücklichen Kindheit der Frau in London und in Italien. Dann sind wir in Moskau zu Beginn der vierziger Jahre, als der zweite Weltkrieg UdSSR erreicht hat.
Das Schicksal der Kriegsgefangenen
Der Autor montiert auf meisterhafte Weise reale historische Dokumente in den Roman, die er in Genf beim Roten Kreuz eingesehen hat, Dokumente, die in Russland noch immer unter Verschluss sind. Sie zeigen, wie die Sowjetunion mit ihren Soldaten umgegangen ist, die in feindliche Gefangenschaft geraten waren:
„Dieses ganze Geplänkel um die Kriegsgefangenen würde uns nur von der Arbeit abhalten, hieß es. Das NKID habe Wichtigeres zu tun. Außerdem, hat man uns erklärt, kann ein tapferer Soldat gar nicht in Kriegsgefangenschaft geraten. Wenn sich ein Krieger ergibt, dann ist er ein Feigling.“
Und weil dieses Schicksal den Mann von Tatjana Alexejewna ereilt hat, wird auch sie zu einer Volksverräterin erklärt. „Weil eure Ehe die Bestätigung eures Komplotts ist!“ Anhand des Schicksals der Protagonistin wird dargestellt, wie zu den Zeiten von Stalinismus Millionen Schicksale ruiniert, Millionen Familien auseinandergerissen, Millionen Menschenleben vernichtet worden sind.
Tatjana Alexejewna leidet nun an Alzheimer, daher die roten Kreuze, an denen sie sich orientiert. Sie vergisst, was am Tag zuvor passiert ist, und ist überzeugt davon, dass Gott Angst vor ihr hat. Wieso? „Zu viele unbequeme Fragen kommen da auf ihn zu.“
Was ist gut, was böse?
Aber die grausame Vergangenheit scheint nicht Tatjana Alexejewna, sondern die heutige Gesellschaft in manch postsowjetischen Ländern zu vergessen bzw. vergessen zu wollen. So zu tun, als ob es sie nicht gegeben hätte, oder noch schlimmer: zu glauben, dass alles damals richtig gemacht worden wäre. Und das ist das schrecklichste an der Geschichte.
Alexanders Stiefvater ist einer der Menschen, die unberührt von Repressionen geblieben sind. Er will davon auch nichts wissen. Im Lichte der jüngsten Ereignisse in Weißrussland und Russland erscheint seine Haltung heute besonders bedrohlich.
„Stalin hat versucht, das Land zu verteidigen, und jetzt gehen diese Demokraten her und schummeln gefälschte Dokumente in die Archive, um die Partei anzuschwärzen. Aber bei uns in Weißrussland kommen sie damit nicht durch!“
Der Roman „Rote Kreuze“ ist ein gutes Buch. Sowohl aus literarischer als auch aus historisch-politischer Sicht. Filipenko möchte den Leser daran erinnern, was gut und böse ist. Schade nur, dass diejenigen, die dies nicht wissen, seinen Roman höchstwahrscheinlich nicht lesen werden.
Das Ende des Romans ist aufschlussreich und besonders beängstigend, nach einem Happyend sucht man hier vergeblich. Und trotzdem: Ein Licht am Ende des Tunnels glaubt man auch hier noch zu erkennen.