Was Putin einmal für möglich hielt

Vor 20 Jahren: Wladimir Putins Rede vor dem Bundestag am 25. September 2001

Putin im Bundestag 2001 Zuschnitt | Nachrichten über Russland
Gerhard Schröder sagt danke: Wladimir Putin nach seiner Rede vor dem Bundestag am 25. September 2001.

Was schien nicht alles möglich zu sein vor 20 Jahren. Am 25. September 2001 hielt Wladimir Putin, der seit eineinhalb Jahren russischer Präsidenten war, eine Rede vor dem Deutschen Bundestag – in Deutsch.

Zwei Wochen zuvor hatten Islamisten gekaperte Flugzeuge ins World Trade Center und das Pentagon gelenkt, tausende Menschen waren bei diesen Attentaten gestorben, weshalb Putin zuerst über Sicherheitspolitik, Terrorismus und Islamismus sprach, auch in seinem Land durch „radikale Fanatiker“ aus Tschetschenien.

Dann erörterte er, wie die Welt diesen neuen Bedrohungen widerstehen könnte, „wie eine moderne, dauerhafte und standfeste internationale Sicherheitsarchitektur“ aussehen könnte, ein „effektiver Mechanismus der Zusammenarbeit“.

Bisher sei es so: Russland dürfe nicht an der Vorbereitung der Beschlussfassung mitwirken. „Heutzutage werden Entscheidungen manchmal überhaupt ohne uns getroffen. Wir werden dann nachdrücklich gebeten, sie zu bestätigen.“ Das sei keine echte Partnerschaft. Das geschehe, „weil wir uns bis jetzt noch nicht endgültig von vielen Stereotypen und ideologischen Klischees des Kalten Krieges befreit haben“. Ohne eine „moderne, dauerhafte und standfeste internationale Sicherheitsarchitektur“ sei es nicht möglich, ein Vertrauensklima zu schaffen.

Wir schlagen heute eine neue Seite in der Geschichte unserer bilateralen Beziehungen auf und wir leisten damit unseren gemeinsamen Beitrag zum Aufbau des europäischen Hauses.

Um 15.47 Uhr sprach er seinen letzten Satz im Reichtstagsgebäude: Das starke und lebendige Herz Russlands sei „für eine vollwertige Zusammenarbeit und Partnerschaft geöffnet“. Das Publikum erhob sich und applaudierte ausdauernd.

Im Folgenden dokumentiert KARENINA Putins Rede:

 

Ich bin aufrichtig dankbar für die Gelegenheit, hier im Bundestag zu Ihnen zu sprechen. Es ist das erste Mal in der Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen, dass ein russisches Staatsoberhaupt in diesem Hohen Hause auftritt. Diese Ehre, die mir heute zuteilgeworden ist, bestätigt das Interesse Russlands und Deutschlands am gegenseitigen Dialog. Ich bin gerührt, dass ich über die deutsch-russischen Beziehungen sprechen kann, über die Entwicklung meines Landes sowie des vereinigten Europa und über die Probleme der internationalen Sicherheit – gerade hier in Berlin, in einer Stadt mit einem so komplizierten Schicksal.

Diese Stadt ist in der jüngsten Geschichte der Menschheit mehrmals zum Zentrum der Konfrontation beinahe mit der ganzen Welt geworden. Selbst in der schlimmsten Zeit – noch nicht einmal in den schweren Jahren der Hitler-Tyrannei – ist es aber nicht gelungen, in dieser Stadt den Geist der Freiheit und des Humanismus, für den Lessing und Wilhelm von Humboldt den Grundstein gelegt haben, auszulöschen.

In unserem Lande wird das Andenken an die antifaschistischen Helden sehr gepflegt. Russland hegte gegenüber Deutschland immer besondere Gefühle. Wir haben Ihr Land immer als ein bedeutendes Zentrum der europäischen und der Weltkultur behandelt, für deren Entwicklung auch Russland viel geleistet hat. Kultur hat nie Grenzen gekannt. Kultur war immer unser gemeinsames Gut und hat die Völker verbunden.

Heute erlaube ich mir die Kühnheit, einen großen Teil meiner Ansprache in der Sprache von Goethe, Schiller und Kant, in der deutschen Sprache, zu halten.

Von dieser Stelle an spricht Putin auf Deutsch

Sehr geehrte Damen und Herren, soeben sprach ich von der Einheit der europäischen Kultur. Dennoch konnte auch diese Einheit den Ausbruch zweier schrecklicher Kriege auf diesem Kontinent im letzten Jahrhundert nicht verhindern. Sie verhinderte ebenfalls nicht die Errichtung der Berliner Mauer, die zum unheilvollen Symbol der tiefen Spaltung Europas wurde.

Die Berliner Mauer existiert nicht mehr; sie ist vernichtet. Es wäre angebracht, sich heute daran zu erinnern, wie es dazu gekommen ist. Ich bin mir sicher, dass großartige Veränderungen in Europa, in der ehemaligen Sowjetunion und in der Welt ohne bestimmte Voraussetzungen nicht möglich gewesen wären. Ich denke dabei an die Ereignisse, die in Russland vor zehn Jahren stattgefunden haben.

Diese Ereignisse sind wichtig, um zu begreifen, was bei uns vor sich gegangen ist und was man von Russland in der Zukunft erwarten kann. Die Antwort ist eigentlich einfach: Unter der Wirkung der Entwicklungsgesetze der Informationsgesellschaft konnte die totalitäre stalinistische Ideologie den Ideen der Demokratie und der Freiheit nicht mehr gerecht werden. Der Geist dieser Ideen ergriff die überwiegende Mehrheit der russischen Bürger. Gerade die politische Entscheidung des russischen Volkes ermöglichte es der ehemaligen Führung der UdSSR, diejenigen Beschlüsse zu fassen, die letzten Endes zum Abriss der Berliner Mauer geführt haben. Gerade diese Entscheidung erweiterte mehrfach die Grenzen des europäischen Humanismus, sodass wir behaupten können, dass niemand Russland jemals wieder in die Vergangenheit zurückführen kann.

Hoffnung auf europäische Integration

Was die europäische Integration betrifft, so unterstützen wir nicht einfach nur diese Prozesse, sondern sehen sie mit Hoffnung. Wir tun das als ein Volk, das gute Lehren aus dem Kalten Krieg und aus der verderblichen Okkupationsideologie gezogen hat. Aber hier – so vermute ich – wäre es angebracht, hinzuzufügen: Auch Europa hat keinen Gewinn aus dieser Spaltung gezogen. Ich bin der festen Meinung: In der heutigen sich schnell ändernden Welt, in der wahrhaft dramatische Wandlungen in Bezug auf die Demographie und ein ungewöhnlich großes Wirtschaftswachstum in einigen Weltregionen zu beobachten sind, ist auch Europa unmittelbar an der Weiterentwicklung des Verhältnisses zu Russland interessiert.

Niemand bezweifelt den großen Wert der Beziehungen Europas zu den Vereinigten Staaten. Aber ich bin der Meinung, dass Europa seinen Ruf als mächtiger und selbstständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur festigen wird, wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Naturressourcen sowie mit den Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotenzialen Russlands vereinigen wird.

Abrüstung: Die Welt sicherer machen

Die ersten Schritte in diese Richtung haben wir schon gemeinsam gemacht. Jetzt ist es an der Zeit, daran zu denken, was zu tun ist, damit das einheitliche und sichere Europa zum Vorboten einer einheitlichen und sicheren Welt wird.
Sehr geehrte Damen und Herren, im Sicherheitsbereich haben wir in den letzten Jahren viel erreicht. Das Sicherheitssystem, welches wir in den vergangenen Jahrzehnten geschaffen haben, wurde verbessert.

Eine der Errungenschaften des vergangenen Jahrzehnts war die beispiellos niedrige Konzentration von Streitkräften und Waffen in Mitteleuropa und in der baltischen Region. Russland ist ein freundlich gesinntes europäisches Land. Für unser Land, das ein Jahrhundert der Kriegskatastrophen durchgemacht hat, ist der stabile Frieden auf dem Kontinent das Hauptziel. Wie bekannt, haben wir den Vertrag über das allgemeine Verbot von Atomtests, den Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen, die Konvention über das Verbot von biologischen Waffen sowie das START-II-Abkommen ratifiziert. Leider folgten nicht alle NATO-Länder unserem Beispiel.

Terroristische Anschläge in USA und Russland

Da wir angefangen haben, von der Sicherheit zu sprechen, müssen wir uns zuerst klar machen, vor wem und wie wir uns schützen müssen. In diesem Zusammenhang kann ich die Katastrophe, die am 11. September in den Vereinigten Staaten geschehen ist, nicht unerwähnt lassen. Menschen in der ganzen Welt fragen sich, wie es dazu kommen konnte und wer daran schuld ist.

Ich möchte diese Fragen beantworten. Ich finde, dass wir alle daran schuld sind, vor allem wir, die Politiker, denen einfache Bürger in unseren Staaten ihre Sicherheit anvertraut haben. Die Katastrophe geschah vor allem darum, weil wir es immer noch nicht geschafft haben, die Veränderungen zu erkennen, die in der Welt in den letzten zehn Jahren stattgefunden haben.

Wir leben weiterhin im alten Wertesystem. Wir sprechen von einer Partnerschaft. In Wirklichkeit haben wir aber immer noch nicht gelernt, einander zu vertrauen. Trotz der vielen süßen Reden leisten wir weiterhin heimlich Widerstand. Mal verlangen wir Loyalität zur NATO, mal streiten wir uns über die Zweckmäßigkeit ihrer Ausbreitung. Wir können uns immer noch nicht über die Probleme im Zusammenhang mit dem Raketenabwehrsystem einigen und so weiter.

Tatsächlich lebte die Welt im Laufe vieler Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts unter den Bedingungen der Konfrontation zweier Systeme, welche die ganze Menschheit mehrmals fast vernichtet hätte. Das war so furchterregend und wir haben uns so daran gewöhnt, in diesem Count-Down-System zu leben, dass wir die heutigen Veränderungen in der Welt immer noch nicht verstehen können, als ob wir nicht bemerken würden, dass die Welt nicht mehr in zwei feindliche Lager geteilt ist. Die Welt ist sehr viel komplizierter geworden.

Wir wollen oder können nicht erkennen, dass die Sicherheitsstruktur, die wir in den vorigen Jahrzehnten geschaffen haben und welche die alten Bedrohungen effektiv neutralisierte, heute nicht mehr in der Lage ist, den neuen Be-drohungen zu widerstehen. Oft streiten wir uns weiterhin über Fragen, die unserer Meinung nach noch wichtig sind. Wahrscheinlich sind sie noch wichtig. Aber währenddessen erkennen wir die neuen realen Bedrohungen nicht und übersehen die Möglichkeit von Anschlägen – und von was für brutalen Anschlägen!

Infolge von Explosionen bewohnter Häuser in Moskau und in anderen großen Städten Russlands kamen Hunderte friedlicher Menschen ums Leben. Religiöse Fanatiker begannen einen unverschämten und großräumigen bewaffneten Angriff auf die benachbarte Republik Dagestan, nachdem sie die Macht in Tschetschenien ergriffen und einfache Bürger zu Geiseln gemacht hatten. Internationale Terroristen haben offen – ganz offen – ihre Absichten über die Schaffung eines neuen fundamentalistischen Staates zwischen dem Schwarzen und Kaspischen Meer angekündigt, des so genannten Kalifat oder der Vereinigten Staaten des Islam.

Ich will gleich hervorheben: Ich finde es unzulässig, über einen Zivilisationskrieg zu sprechen. Fehlerhaft wäre es, ein Gleichheitszeichen zwischen Moslems im Generellen und religiösen Fanatikern zu setzen. Bei uns zum Beispiel sagte man im Jahre 1999: Die Niederlage der Aggressoren beruht auf der mutigen und harten Antwort der Bewohner Dagestans – und die sind zu hundert Prozent Moslems.

Kurz vor meiner Abfahrt nach Berlin habe ich mich mit den geistlichen Führern der Moslems in Russland getroffen. Sie haben die Initiative ergriffen und eine internationale Konferenz in Moskau unter der Losung durchgeführt: Islam gegen Terror. Ich finde, wir sollten diese Initiative unterstützen.

Für eine neue, universale Sicherheitsstruktur

Heutzutage verschärfen sich nicht nur die Probleme, die wir schon kennen, sondern es entstehen auch neue Gefahren. In der Tat baut Russland zusammen mit einigen GUS-Ländern eine reale Barriere gegen Drogenschmuggel, organisiertes Verbrechen und Fundamentalismus aus Afghanistan wie auch aus Zentralasien und dem Kaukasus in Richtung Europa auf. Terrorismus, nationaler Hass, Separatismus und religiöser Extremismus haben überall dieselben Wurzeln und bringen dieselben giftigen Früchte hervor.

Darum sollten auch die Kampfmittel gegen diese Probleme universal sein. Aber zuerst sollten wir uns in einigen grundlegenden Fragen einigen. Wir sollten uns nicht scheuen, die Probleme beim Namen zu nennen. Sehr wichtig ist es, zu begreifen, dass Untaten politischen Zielen nicht dienen können, wie gut diese Ziele auch sein mögen.

Natürlich soll das Böse bestraft werden; ich bin damit einverstanden. Doch wir müssen verstehen, dass Gegenschläge den vollständigen, zielstrebigen und gut koordinierten Kampf gegen den Terrorismus nicht ersetzen können. In diesem Sinne bin ich voll und ganz mit dem amerikanischen Präsidenten einverstanden.

Ich bin der Meinung, dass die Bereitschaft unserer Partner, gemeinsam Kräfte zu bündeln, um diese realen Gefahren, die nicht erdacht sind, zu bekämpfen, zeigt, wie ernst und zuverlässig unsere Partner sind. Diese Gefahren können von fernen Grenzen unseres Kontinents in die Mitte des Herzens von Europa stechen. Ich habe schon mehrmals darüber gesprochen. Aber nach den Ereignissen in den USA brauche ich es nicht mehr zu beweisen.

Was fehlt heute, um zu einer effektiven Zusammenarbeit zu gelangen? Trotz allem Positiven, das in den vergangenen Jahrzehnten erreicht wurde, haben wir es bisher nicht geschafft, einen effektiven Mechanismus der Zusammenarbeit auszuarbeiten. Die bisher ausgebauten Koordinationsorgane geben Russland keine realen Möglichkeiten, bei der Vorbereitung der Beschlussfassung mitzuwirken. Heutzutage werden Entscheidungen manchmal überhaupt ohne uns getroffen. Wir werden dann nachdrücklich gebeten, sie zu bestätigen.

Dann spricht man wieder von der Loyalität gegenüber der NATO. Es wird sogar gesagt, ohne Russland sei es unmöglich, diese Entscheidungen zu verwirklichen. Wir sollten uns fragen, ob das normal ist, ob das eine echte Partnerschaft ist.
Die Verwirklichung demokratischer Prinzipien in den internationalen Beziehungen, die Fähigkeit, richtige Beschlüsse zu fassen, und die Bereitschaft zu einem Kompromiss – das ist eine schwierige Sache.

Es waren aber ausgerechnet Europäer, die als Erste verstanden haben, wie wichtig es ist, nach einheitlichen Beschlüssen zu suchen und nationalen Egoismus zu überwinden. Wir sind einverstanden; dies sind gute Ideen. Die Qualität der Beschlussfassungen, deren Effizienz und letzten Endes die europäische und die internationale Sicherheit hängen im Großen und Ganzen davon ab, inwiefern wir diese klaren Grundsätze heute in praktische Politik umsetzen können.

Noch vor kurzem schien es so, als würde auf dem Kontinent bald ein richtiges gemeinsames Haus entstehen, in welchem Europäer nicht in östliche und westliche, in nördliche und südliche geteilt werden. Solche Trennungslinien bleiben aber erhalten, und zwar deswegen, weil wir uns bis jetzt noch nicht endgültig von vielen Stereotypen und ideologischen Klischees des Kalten Kriegs befreit haben.

Heute müssen wir mit Bestimmtheit und endgültig erklären: Der Kalte Krieg ist vorbei. Die Welt befindet sich in einer neuen Etappe ihrer Entwicklung. Wir verstehen: Ohne eine moderne, dauerhafte und standfeste internationale Sicherheitsarchitektur schaffen wir auf diesem Kontinent nie ein Vertrauensklima und ohne dieses Vertrauensklima ist kein einheitliches Großeuropa möglich. Heute sind wir verpflichtet, zu sagen, dass wir uns von unseren Stereotypen und Ambitionen trennen sollten, um die Sicherheit der Bevölkerung Europas und die der ganzen Welt zusammen zu gewährleisten.

Russlands schmerzhafter Weg der Reformen

Liebe Freunde, Gott sei Dank wird Russland in Europa heutzutage nicht nur im Zusammenhang mit Oligarchen, Korruption und Mafia erwähnt. Aber nach wie vor herrscht ein großer Mangel an objektiver Information über Russland. Ich kann mit Zuversicht sagen: Das Hauptziel der Innenpolitik Russlands ist vor allem die Gewährleistung der demokratischen Rechte und der Freiheit, die Verbesserung des Lebensstandards und der Sicherheit des Volkes.

Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich einen Rückblick auf die jüngsten Ereignisse werfen: Russland ist den schmerzhaften Weg der Reformen gegangen. Zu den Maßstäben und Aufgaben, die wir zu lösen hatten, gibt es in der Geschichte keine Analogien. Natürlich wurden viele Fehler gemacht. Nicht alle Probleme sind gelöst. Aber zurzeit ist Russland ein äußerst dynamischer Teil des europäischen Kontinents. Dabei ist das Wort „dynamisch“ nicht nur im politischen, sondern auch im wirtschaftlichen Sinne gemeint, was besonders hoffnungsvoll zu sein scheint.

Die politische Stabilität in Russland wird dank mehrerer Wirtschaftsfaktoren sichergestellt, nicht zuletzt auch dank eines der liberalsten Steuersysteme in der Welt. Mit einer Einkommensteuer von 13 Prozent und einer Gewinnsteuer von 24 Prozent ist das wirklich so!

Das Wirtschaftswachstum betrug im vorigen Jahr 8,3 Prozent. Für dieses Jahr ging man von nur 4 Prozent aus. Herauskommen wird höchstwahrscheinlich ein Wachstum von ungefähr 6 Prozent; sagen wir 5,5 bzw. 5,7 Prozent, mal sehen.
Gleichzeitig bin ich davon überzeugt: Nur eine umfangreiche und gleichberechtigte gesamteuropäische Zusammenarbeit kann einen qualitativen Fortschritt bei der Lösung solcher Probleme wie Arbeitslosigkeit, Umweltverschmutzung und vieler anderer bewirken. Wir sind auf eine enge Handels- und Wirtschaftszusammenarbeit eingestellt. Wir haben die Absicht, in unmittelbarer Zukunft zum Mitglied der Welthandelsorganisation zu werden. Wir rechnen damit, dass uns die internationalen und die europäischen Organisationen dabei unterstützen.

Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf solche Dinge lenken, die Sie als Abgeordnete dieses Parlaments sicher besser einschätzen können und die nicht in den Bereich der Propaganda gehören. Im Grunde genommen hat sich in unserem Staat ein Prioritäten- und Wertewandel vollzogen. Im Haushalt 2002 nehmen die Sozialausgaben den ersten Platz ein. Ich möchte besonders betonen, dass zum ersten Mal in der Geschichte Russlands die Ausbildungsausgaben die Verteidigungsausgaben übertreffen.

Deutsch-Russische Beziehungen

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, erlauben Sie mir, ein paar Worte zu den deutsch-russischen Beziehungen zu sagen – ich möchte das gesondert betrachten: Die russisch-deutschen Beziehungen sind ebenso alt wie unsere Länder. Die ersten Germanen erschienen Ende des ersten Jahrhunderts in Russland. Am Ende des 19. Jahrhunderts lag die Zahl der Deutschen in Russland an neunter Stelle.

Aber nicht nur die Zahl ist wichtig, sondern natürlich auch die Rolle, die diese Menschen in der Landesentwicklung und im deutsch-russischen Verhältnis gespielt haben: Das waren Bauern, Kaufleute, die Intelligenz, das Militär und die Politiker. Zwischen Russland und Amerika liegen Ozeane. Zwischen Russland und Deutschland liegt die große Geschichte. Das schrieb der deutsche Historiker Michael Stürmer. Ich möchte dazu feststellen, dass die Geschichte genauso wie die Ozeane nicht nur trennt, sondern auch verbindet.

Es ist wichtig, diese Geschichte richtig zu deuten. Wie ein guter westlicher Nachbar verkörperte Deutschland für Russen oft Europa, die europäische Kultur, das technische Denkvermögen und kaufmännisches Geschick. Nicht zufällig wurden früher alle Europäer in Russland Deutsche genannt, die europäische Siedlung in Moskau zum Beispiel „deutscher Vorort“.

Natürlich war der kulturelle Einfluss beider Völker gegenseitig. Viele Generationen von Deutschen und Russen studierten und genießen auch heute Werke von Goethe, Dostojewski und Leo Tolstoi. Unsere beiden Völker verstehen die Mentalität des jeweils anderen Volkes sehr gut.

Ein gutes Beispiel dafür sind fabelhafte russische Übersetzungen deutscher Autoren. Diese sind sehr nahe an den Texten, erhalten den Rhythmus, die Stimmung und die Schönheit der Originale. Boris Pasternaks Übersetzung des „Faust“ ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen.

Meine Damen und Herren, in unserer gemeinsamen Geschichte hatten wir verschiedene Seiten, manchmal auch schmerzhafte, besonders im 20. Jahrhundert. Aber früher waren wir sehr oft Verbündete. Die Beziehungen zwischen unseren beiden Völkern wurden immer durch enge Abstimmung und durch die Dynastien unterstützt.

Überhaupt spielten Frauen in unserer Geschichte eine besondere Rolle. Erinnern Sie sich zum Beispiel an die Tochter Ludwigs IV., des Fürsten von Hessen-Darmstadt: Sie ist in Russland als Fürstin Elisabeth bekannt. Sie hatte ein wirklich tragisches Schicksal. Nach dem Mord an ihren Mann gründete sie ein Nonnenkloster. Während des Ersten Weltkrieges pflegte sie russische und deutsche Verletzte. Im Jahre 1918 wurde sie von Bolschewisten hingerichtet. Ihr galt eine allgemeine Verehrung. Vor kurzem wurde ihr Wirken anerkannt und sie wurde heiliggesprochen. Ein Denkmal für sie steht heute im Zentrum Moskaus.

Vergessen wir auch nicht die Prinzessin von Anhalt-Zerbst. Sie hieß Sophie Auguste Friederike. Sie leistete einen einzigartigen Beitrag zur russischen Geschichte. Einfache russische Menschen nannten sie Mutter. Aber in die Weltgeschichte ging sie als russische Zarin Katharina die Große ein.

Das gemeinsame europäische Haus

Heutzutage ist Deutschland der wichtigste Wirtschaftspartner Russlands, unser bedeutsamster Gläubiger, einer der Hauptinvestoren und maßgeblicher außenpolitischer Gesprächspartner. Um ein Beispiel zu nennen: Im vorigen Jahr erreichte der Warenumsatz zwischen unseren Staaten die Rekordhöhe von 41,5 Milliarden DM. Das ist vergleichbar mit dem Gesamtwarenumsatz zwischen den beiden ehemaligen deutschen Staaten und der Sowjetunion. Ich glaube nicht, dass man sich damit zufriedengeben kann und hier Halt machen darf. Es bleibt noch genug Spielraum für die deutsch-russische Zusammenarbeit.

Ich bin überzeugt: Wir schlagen heute eine neue Seite in der Geschichte unserer bilateralen Beziehungen auf und wir leisten damit unseren gemeinsamen Beitrag zum Aufbau des europäischen Hauses.

Zum Schluss will ich die Aussagen, mit denen Deutschland und seine Hauptstadt vor einiger Zeit charakterisiert wurden, auf Russland beziehen: Wir sind natürlich am Anfang des Aufbaus einer demokratischen Gesellschaft und einer Marktwirtschaft. Auf diesem Wege haben wir viele Hürden und Hindernisse zu überwinden. Aber abgesehen von den objektiven Problemen und trotz mancher – ganz aufrichtig und ehrlich gesagt – Ungeschicktheit schlägt unter allem das starke und lebendige Herz Russlands, welches für eine vollwertige Zusammenarbeit und Partnerschaft geöffnet ist.

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