Not One Inch: Putin und die Nato-Osterweiterung
Joshua Yaffa über die historischen Gründe für Putins Aggressivität gegen Ukraine und Nato, The New Yorker, 25.1.2022
Joshua Yaffa beschäftigt sich noch einmal mit der Frage, ob westliche Politiker versprochen haben, dass die Nato sich nicht in Richtung Russlands Grenzen ausdehnen werde. Dass sie das tat, sehe Putin als Bedrohung von Russlands Sicherheit, eine mögliche Erweiterung um die Ukraine gar als „rote Linie“. Yaffa zitiert aus einer Rede Putins im Dezember 2021: „‚Kein Zoll nach Osten‘, sagten sie uns in den Neunzigern. Na und? Sie haben uns betrogen, uns nur schamlos ausgetrickst!“
Kein Zoll nach Osten. Der Moskauer Korrespondent des New Yorker widmet sich einem im November erschienenen Buch der Historikerin Mary Elise Sarotte: „Not One Inch: America, Russia, and the Making of Post-War Stalemate“. Sarotte hält es für möglich, „dass wir 2022 einen massiven europäischen Landkrieg erleben könnten, der zumindest teilweise Ergebnis dessen ist, wie Russland den Umgang des Westens mit dem Ende des Kalten Kriegs betrachtet“.
Es geht um die Nato-Osterweiterung: Sarotte zitiert den damaligen Außenminister Genscher: „Eine Erweiterung des Nato-Territoriums nach Osten, also näher an die Grenzen der Sowjetunion, wird es nicht geben“, habe er mehrfach gesagt.
Helmut Kohl dachte allerdings anders, in etwa: Wir nehmen, was wir in dieser Situation bekommen können.
US-Außenminister James Baker habe in Moskau gefragt: Wollt ihr ein vereinigtes Deutschland außerhalb der Nato, unabhängig und ohne US-Soldaten, oder bevorzugt ihr ein vereinigtes Deutschland, das an die Nato gebunden ist, mit der Versicherung, dass die Zuständigkeit der Nato sich keinen Zentimeter östlich der gegenwärtigen Position verschiebt?“ Baker habe angenommen, „dass die sowjetischen Führer angesichts der Kriegsgeschichte Deutschland lieber in einem multilateralen Bündnis verankert sehen würden, als auf sich allein gestellt zu sein“.
Die Sowjets hätten das als Zusicherung verstanden. Präsident George Bush jedoch habe Bakers Vorschlag entschieden widersprochen. Es sei dann auch schnell kassiert worden.
Stattdessen habe Bush darauf gedrängt, dass Kohl in Moskau dafür werbe, dass nach dem Rückzug sowjetischer Truppen aus Ostdeutschland ganz Deutschland zur Nato gehören dürfe. So kam es, Gorbatschow stimmte zu. „Es sah so aus, als hätten die Vereinigten Staaten und Europa es geschafft, ihre Wünsche maximal und ohne oder nur geringe Kosten zu erreichen“, so Yaffa.
Das deutsche Außenministerium habe später einmal eingeräumt, dass russische Stellungnahmen zu der Frage eine „politische und psychologische Substanz enthielten, die wir ernst nehmen mussten“. Yaffa kommentiert das so: „In Wahrheit war Russlands Meinung zu diesem Zeitpunkt nicht mehr so wichtig.“
Es kam noch besser: Die USA hätten ihre ökonomische Macht eingesetzt, um ihre politisch-strategischen Ziele zu erreichen, Clinton habe Jelzin 1997 vier Milliarden Dollar für die Zustimmung der Nato-Erweiterung versprochen. Und Jelzin habe – trotz Bedenken, das könnte aussehen wie „eine Art Bestechung“ – zugestimmt.
Im Kleingedruckten des Abkommens sei lediglich festgelegt worden, dass die Nato „erhebliche“ („substantial“) Stationierungen in den neuen Mitgliedstaaten vermeiden solle; außerdem solle ein Forum geschaffen werden, „in dem Russland seine unverbindliche Meinung zu Nato-Angelegenheiten äußern könnte“.
Die US-Regierung konnte ihr Glück kaum fassen.
Heute wolle Putin die Debatte darüber wieder eröffnen – um historische Fehler seiner Vorgänger zu korrigieren. Millionen Ukrainer seien, ohne es zu wissen, zu Geiseln bei Putins Versuch geworden, einen besseren Deal auszuhandeln.
Sie wolle nicht sagen, dass der Westen Russland (oder dessen Schwäche) ausgenutzt habe, sagte Sarotte zu Yaffa, die Russen hätten gewusst, was sie unterschrieben. Aber westliche Mächte hätten gut daran getan, einen Aphorismus von Winston Churchill im Hinterkopf zu behalten: „Im Sieg: Großmut.“ PHK
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