Linke gegen den Kreml? Eher divers
Seongcheol Kim: „Die Linke in Russland und der Krieg in der Ukraine“, Russland-Analysen, Nr. 424, 28.10.2022
Es gibt noch Opposition in Russland? Ja, aber, meint Seongcheol Kim, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Interkulturelle und Internationale Studien sowie assoziierter Wissenschaftler an der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Zumindest könnten linke Gruppierungen „innerhalb der russischen Oppositionslandschaft ein vergleichsweise bedeutsames Gewicht vorweisen“.
Er nennt die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF), die seit Putins Machtübernahme stets die größte Partei der „systemischen Opposition“ bilde, sowie linksradikale Vereinigungen wie die Linksfront (LF) und die Russische Sozialistische Bewegung (RSD) als „sichtbare protestorientierte Kräfte der außerparlamentarischen (‚außersystemischen‘) Opposition“.
Die „systemischen Opposition“ unterstützte die Annexion der Krim im Frühjahr 2014 weitreichend, während die Linksfront noch unter der Repression litt. Ihr Koordinator Sergej Udalzow war verhaftet und 2014 zu viereinhalb Jahren Strafkolonie verurteilt worden.
Die LF verabschiedete allerdings im August 2014 „eine kämpferische Antikriegserklärung unter dem Slogan ‚Krieg dem Kriege‘, die zu einer Friedenskampagne beiderseits der russisch-ukrainischen Grenze für eine Beendigung des militärischen Konflikts aufrief“, so der Autor.
Linkspatriotismus pro „Volksrepubliken“
Drei Jahre später, Udalzow war aus der Haft entlassen, erstarkte die LF wieder und richtete sich neu aus: hin zum „Linkspatriotismus“ und an die Seite der KPRF. Die LF wandte sich nun gegen die Oligarchen und unterstützte den Krieg in den sogenannten Volksrepubliken im Donbas. Dem Kreml warf die LF nun mangelnde Unterstützung vor. Sie sei das „strategische Wagnis“ eingegangen, „mit einer freundlichen Haltung zu den Separatistenrepubliken oppositionelle Politik gegenüber dem Kreml zu betreiben“.
Im Februar 2022 befürwortete die LF die Resolution zur Anerkennung der selbsternannten Donezker und Luhansker Volksrepubliken und forderte eine „Wende hin zum Sozialismus“ sowie die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien, „um den Kampf um die Separatistengebiete in ein gesamtgesellschaftliches Projekt der sozioökonomischen Transformation auszuweiten“, so Seongcheol Kim.
Die KPRF begrüßte fast geschlossen am 24. Februar den Einmarsch in die Ukraine, um „Frieden“ zu schaffen und das ukrainische Volk von „Faschismus“ und „Oligarchie“ zu befreien.
Udalzow dagegen nannte die „militärische Invasion in andere Regionen der Ukraine“ neben dem Donbas „falsch“. Er rief allerdings die Ukrainer auf, das „den Nazismus unterstützende und die Ukrainer in den Krieg hineinziehende politische Regime“ der Ukraine zu stürzen. Darüber kam es laut Kim zu Streit. Ein Gründer der LF erkannte in der Stellungnahme eine „Unterstützung für diesen kriminellen Krieg“. Anders als dieser wagte es offenbar eine relevante Zahl von LF-Mitgliedern nicht, ihre Antikriegsposition offenzulegen.
Klar gegen die „russische Invasion“ stellte sich laut Kims Recherchen die Russische Sozialistische Bewegung, die den sofortigen Rückzug forderte.
Innerhalb der Mitgliedschaft der KPRF analysiert Kim „das größte Ausmaß an internem Antikriegsdissens unter allen Parteien der ‚systemischen Opposition‘“. Auch bei kommunistischen Kleinparteien sei es zu Austritten – wegen Propagandaveranstaltungen pro Krieg – und Ausschlüssen von Dissidenten gekommen.
Im Lauf des Kriegs stellt Kim „ein Spektrum an Kommunikationsmustern und ‑strategien fest, die sich von Befürwortung des Kriegs durch die KPRF bis zur „konsequenten Oppositionshaltung der RSD“ bewege, die „ihre Antikriegsbotschaften fast ausschließlich auf soziale Medien und ins Englische umgestellt“ habe.
Die LF nehme zum Krieg ambivalent Stellung: „Sie vermeidet tendenziell direkte Kritik an der Kriegsführung einerseits, beharrt aber andererseits auf ihrer zentralen Forderung nach einer ‚Wende hin zum Sozialismus‘, um ihre Oppositionshaltung gegenüber dem Kreml zu untermauern.“
Die künftigen Positionierungen der LF seien ein Gradmesser dafür, wie weit der Kreml soziale Unzufriedenheit auffangen und Widerstandspotenziale gegen die Kriegsführung im Keim ersticken kann, so Kim. Er bescheinigt dem „linkspatriotischen Lager“ allerdings eine „erhöhte Anfälligkeit für die Kooptationslogik des Regimes“, und zwar „vor allem dann, wenn diese auf antiwestlich-sozialprotektionistische Gesten zurückgreift“. Die LF weise „im Kontext des Krieges eine markante Angepasstheit auf, die es ihr aber andererseits ermöglicht, unter Vermeidung von Antikriegsbotschaften weiterhin Straßenaktionen durchzuführen“. Ob es damit gelinge, sozialen Protest gegen den Kreml zu richten, bleibe abzuwarten. PHK