Ökologie versus Ökonomie

Ein Themenheft der Zeitschrift Osteuropa informiert umfassend und kenntnisreich über die russische Umweltpolitik

von Roland Götz
Alarm in der arktischen Region Norilsk: ausgelaufenes Öl nach dem Bruch eines Dieselöltanks

In Russland ist eine wechselhafte Beziehung zwischen Politik und Natur zu beobachten: In der Stalinzeit ging es nur darum, die Natur rücksichtslos den Planzielen zu unterwerfen. Doch in der „Tauwetterperiode“ unter Chruschtschow erlaubte die Partei erstmals abweichende Ansichten: Literaten, Journalisten sowie regionale Parteiführer durften Einwände gegen von Moskau geplante Industrieansiedlungen am Baikalsee vorbringen.

In den 1970er- und 1980er-Jahren wandte sich die literarische Bewegung der „Dorfschriftsteller“ gegen die Pläne zur Umleitung nordsibirischer Flüsse nach Süden. Nachdem die KPdSU 1987 ihr Machtmonopol aufgegeben hatte, entstanden in der Sowjetunion mehrere Tausend Umweltinitiativen. Diese weiteten sich zu einer breiten Umweltbewegung aus, die eine der Triebkräfte der Perestroika wurde.

Die krisenhafte Wirtschaftstransformation in den 1990er-Jahren ließ Umweltprobleme zunächst hinter den Sorgen um den Lebensunterhalt zurücktreten. Seit sich die Wirtschaftslage nach der Jahrtausendwende stabilisierte, gewannen Umweltthemen in der Bevölkerung erneut größere Aufmerksamkeit.

Im heutigen Russland geraten Umweltschützer zunehmend in Konflikt mit den Staatsorganen, die dabei oft Interessen der Großunternehmen vertreten. Organisationen und Einzelpersonen, die sich für Umweltschutz engagieren und Spenden aus dem Ausland erhalten, müssen sich als „ausländische Agenten“ registrieren lassen, weil ihre Tätigkeit von den Behörden als „politisch“ deklariert wird.

Osteuropa

Im Fluss: Umweltpolitik in Russland, Berlin 2020

336 Seiten
Mit 19 Karten und 63 Abbildungen
28 Euro
ISBN 978-3-8305-5018-1
Zum Verlag

Über den aktuellen Stand der Umwelt, der Umweltbewegungen und der staatlichen Umweltpolitik in Russland informiert ein im Dezember 2020 erschienenes Themenheft der Zeitschrift Osteuropa in 18 Beiträgen deutscher, russischer, australischer und US-amerikanischer Autoren.

Russlands Wälder

In einem ersten Themenblock werden Russlands Wälder in den Blick genommen. Stand und Perspektiven der Forstwirtschaft Russlands behandeln ein deutscher und ein aus St. Petersburg stammender Autor; ein Mitarbeiter des World Wide Fund schildert die prekäre Situation der Waldbewirtschaftung im Fernen Osten Russlands, wo illegaler Holzeinschlag und Zerstörung alter Baumbestände und mangelhafte Wiederaufforstung an der Tagesordnung sind, auch weil die Forstbehörden chronisch unterbesetzt sind.

Im zweiten Themenblock beschreiben Fachleute aus Australien und Russland Umweltauswirkungen der Kohle- und Metallurgiewirtschaft. Russlands Kohleförderung, von der die Hälfte exportiert wird, ist seit 2000 stetig gestiegen. Ebenso nahmen die ökologischen und gesundheitlichen Schäden zu, die nicht nur bei der Kohleverbrennung in Kraftwerken, sondern auch durch den Kohlestaub bei der Förderung in Tagebauen, beim Eisenbahntransport in offenen Wagen und bei der Verladung auf Schiffe verursacht werden.

Besonders stark leidet die Bevölkerung im südsibirischen Kusnezker Becken, der größten Kohleförderregion Russlands, wie Forscher aus Australien und Russland nachweisen. Ebenso katastrophale Folgen haben Bodenzerstörung und Luftverschmutzung bei der Förderung von Erzen und deren Verhüttung. Die Unternehmen des Metallurgiesektors wehren sich erfolgreich gegen staatliche Auflagen und behindern Umweltaktivisten, wie das Beispiel der letztlich erfolglosen Protestbewegung gegen den Bau eines unweit der Stadt Tscheljabinsk gelegenen Kupferkombinats zeigt, welches die Trinkwasserversorgung der Region gefährdet.

Schäden durch Staudämme und Ölförderung

Im dritten Themenblock geht es um die Umweltschäden, die Staudämme, Ölförderung und Plutoniumgewinnung anrichten. Zwar gelten Wasserkraftwerke als Produzenten „sauberer“ Energie, doch haben sie negative Auswirkungen auf Ökosysteme und Fischbestände, wie ein aus Russland stammender Experte für Wasserbau erläutert. In Russland ist ihr Neubau in den 1990er-Jahren aus Geldmangel zunächst zum Erliegen gekommen, doch wollen staatliche und private Konzerne die Stromgewinnung aus Wasserkraft für den Stromexport nach China und zur Erzeugung von „grünen“ Zertifikaten ausweiten.

Auf Umweltgefahren durch die Ölwirtschaft machte zuletzt im Mai 2020 der Bruch eines Dieselöltanks in der arktischen Region Norilsk aufmerksam, was zur Verseuchung von Flüssen und eines großen Sees führte und Präsident Wladimir Putin auf den Plan rief. Weniger Aufsehen erregt die fortwährende Kontamination von Böden und Gewässern in Russland durch viele Tausende schadhafte Ölfeldleitungen, die Fördertürme, Öltanks und Ölaufbereitungsanlagen verbinden und die weit über ihre Normbetriebsdauer hinaus benutzt werden, was von Greenpeace Russland dokumentiert wird.

Radioaktive Abwässer

Ein fortwährendes Umweltproblem bereitet nach dem Bericht einer aus dem betroffenen Gebiet stammenden Wissenschaftlerin, die 2015 wegen drohender Verfolgung aus Russland fliehen musste, die Plutonium-Anreicherungsanlage Majak im Gebiet Tscheljabinsk. Aus dem geheimen Kernwaffenkomplex wurden jahrzehntelang radioaktive Abwässer in Seen und Flüsse eingeleitet, ohne dass die Bevölkerung informiert war. Auch dass dort 1957 radioaktiver Abfall explodierte, wurde bis zum Ende der Sowjetunion verschwiegen. Mehrere hunderttausend Menschen erlitten Strahlenschäden.

Im neuen Russland werden an diesem Standort nun verbrauchte Kernbrennstoffe aus dem In- und Ausland wiederaufbereitet, wobei die radioaktiven Abwässer wie früher in die nun als „Rückhaltebecken“ deklarierten Gewässer geleitet werden. Im September 2017 kam es zum Austritt von radioaktivem Ruthenium, das in einer Wolke über Westeuropa zog, was die Werksleitung und die Atomenergiebehörde Rosatom bis heute bestreiten.

Entsorgung und Wiederverwertung von Müll

Im vierten Themenkomplex beschreiben ein deutscher und ein US-amerikanischer Beobachter die Bemühungen zu einer zeitgemäßen Müllentsorgung. Trotz einer Anfang 2015 verabschiedeten Änderung des Abfallgesetzes, das Mülltrennung anordnet, werden bislang rund 95 Prozent des Hausmülls auf Deponien gelagert, von denen allein die legalen eine Fläche der Schweiz einnehmen. Internationale Aufmerksamkeit fand 2018/19 das Müllproblem Russlands, als Aktivisten erfolgreich verhinderten, dass für den Hausmüll aus dem 1200 Kilometer entfernten Moskau im Gebiet Archangelsk eine riesige Deponie eingerichtet wird. Jetzt soll mit der Mülltrennung Ernst gemacht werden und die Deponiequote bis 2014 auf 64 Prozent sinken.

Viel größere Dimensionen hat allerdings das Problem der Entsorgung von Industrieabfällen, worunter allein die Gefahrenstoffe mit 100 Millionen Tonnen pro Jahr die des Hausmülls (70 Millionen Tonnen) übertreffen. Abraum der Rohstoffförderung sowie Bauschutt fällt sogar mit jährlich sieben Milliarden Tonnen an.

Die Wiederverwertung und sachgemäße Entsorgung aller Arten von Müll soll mit hohen Subventionen gefördert werden, was den Einstieg in dieses Geschäftsfeld sowohl für heimische Unternehmen als auch für Lieferanten von Ausrüstungen gerade aus Deutschland interessant werden lässt.

Siehe auch den Beitrag von Angelina Davydova über Russlands bescheidenen Beitrag zum Klimaschutz.

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