Endlich Fakten zum Erdgasstreit
Der deutsch-russische Erdgashandel, Nord Stream 2 und die Ursachen der aktuellen Spannungen
Erdgas hat als Energieträger in Deutschland zunehmend an Bedeutung gewonnen. Sein Anteil am Primärenergieverbrauch hat sich von 15 Prozent im Jahr 1990 mittlerweile fast verdoppelt. Da die eigene deutsche Förderung von Erdgas von geringem Umfang ist und außerdem abnimmt, wird der größte Teil des Erdgasverbrauchs durch Importe gedeckt.
Bereits seit 1973 bezieht Deutschland über Pipelines Erdgas aus Russland (damals als Teil der Sowjetunion). Der Anteil der sowjetischen Erdgaslieferungen an den deutschen Importen stieg bis Ende der 1980er-Jahre auf 50 Prozent. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 ging der Anteil der russischen Erdgasexporte leicht zurück.
Stattdessen stiegen die Anteile von Norwegen und den Niederlanden. 2009 sank der russische Anteil erstmals seit 1983 wieder unter 40 Prozent. Da die Erdgasvorkommen in der Nordsee mittlerweile zunehmend erschöpft sind, profitierte anschließend vor allem Russland vom Anstieg des deutschen Erdgasverbrauchs. Seit 2017 liefert das Land erstmals mehr als die Hälfte der deutschen Importe.
Dieser Anstieg macht allerdings keine zusätzlichen Transportkapazitäten erforderlich. Russland hat nie mehr als 201 Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr nach Europa geliefert. Die russischen Lieferkapazitäten betrugen aber schon 2015 ohne Nord Stream 2 insgesamt 288 Milliarden Kubikmeter. Im nächsten Jahr soll die Kapazität mit Nord Stream 2 und der 2020 in Betrieb genommen TurkStream Pipeline insgesamt 378 Milliarden Kubikmeter betragen. Russland könnte seine Erdgasexporte nach Europa also fast verdoppeln. Das ist offensichtlich unrealistisch, da eine Steigerung der Nachfrage in Europa in dieser Form nicht zu erwarten ist.
Russlands aktuelle Energiestrategie, die im April 2020 veröffentlicht wurde, sieht zwar im optimistischen Szenario eine Verdoppelung der russischen Erdgasexporte bis 2035 vor, aber der Anstieg betrifft vor allem den Export von Flüssiggas per Schiff. Die Erdgasexporte durch Pipelines sollen maximal um ein Drittel steigen, und zwar durch Exporte nach China. Russland geht es
dementsprechend bei den neuen Pipelineprojekten nach Europa gar nicht um eine Ausweitung der Exportkapazitäten, sondern um eine Änderung der Transportwege.
Transportwege: Früher ein Monopol der Ukraine
Das sowjetische Pipelinesystem lieferte Erdgas aus Westsibirien durch die Belarussische und Ukrainische Sowjetrepublik in die sozialistischen Staaten Mittelosteuropas. Von dort wurden die Exporte ausgeweitet über Deutschland und Österreich nach Westeuropa sowie über Rumänien auf den Balkan. Diese Pipelines, mit einer Gesamtkapazität von 183 Milliarden Kubikmeter, liefen alle über das Territorium der Ukraine, so dass die Ukraine nach dem Zerfall der Sowjetunion ein Monopol auf den Transit russischer Erdgasexporte hatte.
Gleichzeitig war die Ukraine auch ein großer Abnehmer russischen Erdgases. Erdgas wurde zu einem zentralen Streitpunkt zwischen Russland und der Ukraine. Diese Konflikte führten bereits seit den 1990er-Jahren zu russischen Lieferstopps für die Ukraine. Als die Ukraine darauf 2006 und 2009 mit der Entnahme von für den Transit bestimmten Erdgases reagierte, um den Eigenbedarf zu decken, kam es auch zu einer vorübergehenden Einstellung der russischen Lieferungen in die EU.
Da einige der östlichen Mitgliedsstaaten der EU in ihrer Erdgasversorgung vollständig von Russland abhängen, führte der Lieferausfall vor allem im Januar 2009 zu akuten Problemen. Die EU reagierte darauf, indem sie die von Ost nach West verlaufenden Erdgaspipelines so aufrüstete, dass die Fließrichtung umgekehrt werden kann. Dementsprechend kann bei einem erneuten Lieferausfall Erdgas von Deutschland oder Österreich nach Osten geliefert werden.
Diese umgekehrte Fließrichtung wird auch bereits seit 2016 genutzt, um die Ukraine vor allem aus der Slowakei mit Erdgas zu versorgen. (Die Bedeutung des russischen Erdgastransits für die Ukraine wird in den Ukraine-Analysen Nr. 258 ausführlicher betrachtet.) Russland reagierte auf die Erdgaskrisen mit der Ukraine mit dem erklärten Ziel, die Ukraine als Transitland auszuschalten.
Die ersten post-sowjetischen Pipelineprojekte Russlands, die Jamal-Pipeline (1999) durch Belarus und Polen sowie die Blue Stream Pipeline (2005) durch das Schwarze Meer in die Türkei dienten zwar vorrangig der Expansion der Exportkapazitäten nach Westeuropa und der Erschließung des türkischen Marktes, sie umgingen aber schon bewusst die Ukraine. Die folgenden Projekte, Nord Stream 1 und 2 (2011 bzw. 2021) durch die Ostsee sowie TurkStream (2020) durch das Schwarze Meer, sollten den Erdgastransit durch die Ukraine weitgehend überflüssig machen.
Dies wurde sowohl von Vertretern der russischen Regierung als auch Vertretern des russischen, staatlich kontrollierten Erdgaskonzerns Gazprom mehrfach explizit erklärt. Mit dem Bau der Pipeline durch internationale Gewässer konnten auch weitere Transitländer umgangen werden.
Wie wichtig dieses Ziel genommen wird, zeigt sich auch darin, dass sich Russland trotz massiven Drucks von Seiten der EU 2019 geweigert hat, mit der Ukraine einen Transitvertrag abzuschließen, der über das Jahr 2024 hinausgeht. Bereits jetzt ist der Erdgastransit durch die Ukraine auf ein Minimum reduziert worden. Selbst die gestiegene europäische Nachfrage im Herbst 2021 wurde dementsprechend von russischer Seite nicht mit Hilfe zusätzlicher Lieferungen durch die Ukraine gedeckt.
Aus russischer Sicht war es nur logisch, die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 als Lösung für erhöhte Gaslieferungen nach Deutschland zu präsentieren. In Zukunft könnte Gazprom seine in Deutschland erworbenen Gasspeicherkapazitäten nutzen, um auf kurzfristige Nachfragespitzen zu reagieren.
Die deutschen Speicher können Erdgas im Umfang von einem Viertel des Jahresverbrauchs aufnehmen. Gazprom kontrolliert fast ein Drittel der Gasspeicher in Deutschland, Österreich und den Niederlanden.
Hier wirtschaftliche, dort geopolitische Interessen
Das russische Interesse an der Vermeidung von Transitländern hat einen wirtschaftlichen Hintergrund. Transitgebühren werden gespart und das Risiko von Lieferausfällen wird reduziert. Im Fall der Ukraine kommt aber verstärkt seit der Ukraine-Krise 2014 ein geopolitisches Motiv hinzu, da die Ukraine – oder zumindest die ukrainische Regierung – als Gegner wahrgenommen wird.
Dieses geopolitische Motiv beunruhigt die Transitländer, insbesondere die Ukraine und Polen. Dabei geht es nicht nur um den Wegfall von Transiteinnahmen, sondern auch um den Verlust einer strategischen Absicherung gegen russischen Druck.
Genau dieses geopolitische Motiv ist auch die Ursache für die amerikanischen Sanktionen gegen Nord Stream 2, denn ohne Nord Stream 2 muss der entsprechende Transit durch die Ukraine erfolgen. Die in deutschen Medien oft geäußerte Behauptung, die USA wollten ihr eigenes Flüssiggas nach Deutschland verkaufen, macht hingegen keinen Sinn. Denn es geht ja gar
nicht um eine Reduzierung russischer Erdgaslieferungen, sondern nur um den Transportweg. Wenn das Erdgas nicht durch die Ostsee, sondern durch die Ukraine nach Deutschland kommt, ergibt sich keine zusätzliche Nachfrage für amerikanische Lieferungen.
Für die europäischen Energieunternehmen, die ihr Erdgas aus Russland beziehen, ist hingegen eine gute Beziehung zum Lieferanten zentral. Dementsprechend unterstützen sie die russischen Projekte. Die Bundesregierung hat sich hier eindeutig hinter die Interessen der deutschen Energieunternehmen gestellt. Das im Kompromiss mit den USA zur Umsetzung von Nord Stream 2 vorgesehene Versprechen, sich „zu bemühen“, dass das russisch-ukrainische Transitabkommen um weitere zehn Jahre verlängert wird, dürfte in Anbetracht der klaren russischen Haltung bedeutungslos sein.
Liberalisierung des europäischen Erdgasmarkts
Die Lieferverträge im russischen Erdgashandel hatten traditionell eine Laufzeit von mehreren Jahrzehnten und sahen eine jährliche Mindestabnahme vor, die auch bezahlt werden musste, wenn sie tatsächlich nicht bezogen wurde. Diese Bedingungen sollten die Rentabilität der Pipelineprojekte sicherstellen. Der Bau einer Erdgaspipeline kostet extrem hohe Summen, im Fall von Nord Stream 2 zum Beispiel mindestens 8 Mrd. Euro.
Solche Investitionen lohnen sich nur, wenn die langfristige Nutzung der Pipeline garantiert ist. Die Lieferverträge des deutschen Abnehmers E.ON Ruhrgas mit Gazprom hatten so bereits 2008 eine Laufzeit bis 2036.
Da Erdgas ursprünglich als Konkurrent zu Erdöl antrat, wurde im Interesse der Abnehmer der Lieferpreis für Erdgas über komplexe Formeln an den Preis für Erdöl gekoppelt. Im Falle sinkender Erdölpreise sank damit auch der Preis der Erdgasimporte, so dass Erdgas auf dem Importmarkt konkurrenzfähig blieb.
Zusätzlich sahen die Lieferverträge, offensichtlich im Interesse Russlands, ein Verbot des Weiterverkaufs an andere Großhändler vor. Die Verträge unterlagen der Geheimhaltung. Dementsprechend hatte Russland mit jedem einzelnen Energieunternehmen eigene, von der Konkurrenz isolierte Vertragsbeziehungen. Dies passte auch zu den regionalen Monopolen deutscher Energieversorger.
Solche Märkte, in denen die Beziehungen zwischen Produzenten und Abnehmern von teurer Transportinfrastruktur abhängen, wurden in der Wirtschaftswissenschaft als „natürliche Monopole“ bezeichnet. Ein Unternehmen, das diese teure Infrastruktur einmal gebaut hatte, konnte diese nutzen, um alle Kunden, die an diese Infrastruktur angebunden waren, exklusiv zu beliefern.
Für die Konkurrenz macht es keinen Sinn einen parallelen zweiten Transportweg zu bauen. So entsteht „natürlich“ ein Monopol des Unternehmens, welches als erstes den Kunden erreicht.
In den 1990er-Jahren begann die Wirtschaftspolitik in vielen Ländern, die entsprechenden Märkte zu liberalisieren. Zentral dafür war die Trennung von Produktion und Transport.
Im Extrem wurde eine strikte Trennung erwartet, so dass ein Produzent seine Transportinfrastruktur verkaufen musste. Als Kompromiss wurden Unternehmen gezwungen, der Konkurrenz gleichberechtigten Zugang zur Transportinfrastruktur zu gewähren.
Gleichzeitig wurden die Rechte der Kunden bei Vertragskündigungen und Anbieterwechseln gestärkt. Nach diesem Muster wurden in der EU die Telekommunikation (1998), der Strommarkt (1998) und die Eisenbahn (Güter 2007, Personen 2020) liberalisiert.
Die entscheidenden Regeln für die Liberalisierung des Erdgasmarkts wurden 2009 verabschiedet. Die Vorgaben für den Zugang von Drittanbietern zu Pipelinekapazitäten traten erst 2015 in Kraft und erfassten nicht bereits bestehende Lieferverträge. Die Trennung von Produktion und Transport betrifft auch Erdgasspeicher, so dass Gazprom als Produzent der Konkurrenz fairen Zugang zu eigener Speicherkapazität innerhalb der EU gewährleisten muss.
Die Regeln beziehen sich nur auf den EU-Binnenmarkt. Ursprünglich betrafen sie deshalb keine Pipelines, die nur bis zur Grenze des Binnenmarkts liefern. Die russische Exportpipeline Nord Stream 1, die von Russland durch die Ostsee nach Deutschland verläuft, war also nicht betroffen. Hier konnte Gazprom die volle Kapazität für eigene Lieferungen nutzen. Die Anschlusspipelines, die von der deutschen Ostseeküste bei Greifswald das Erdgas weitertransportieren sollten, fielen aber unter die Regeln, so dass Gazprom hier die volle Kapazität nicht nutzen konnte. Da der Weitertransport deshalb nicht in vollem Umfang gewährleistet war, blieben die ursprünglichen Lieferungen durch Nord Stream 1 auch unterhalb der Kapazität.
In Reaktion auf Nord Stream 2 einigte sich die EU 2019 darauf, dass die Binnenmarktregeln auch in den Hoheitsgewässern von EU-Mitgliedsstaaten gelten, so dass die deutsche Regulierungsbehörde, die Bundesnetzagentur, für den Schlussabschnitt von Nord Stream 2, und damit de facto für die Lieferkapazitäten der gesamten Pipeline, zuständig ist.
Da Gazprom seine Geschäfte nicht sofort an die neuen EU-Regeln anpasste, geriet es – wie z. B. auch aktuell amerikanische Internet-Unternehmen – in Konflikt mit EU-Recht. Die EU-Kommission eröffnete so 2012 ein Kartellverfahren gegen Gazprom. Ein polnisches Gericht nutzte den Vorwurf der marktbeherrschenden Vormachtstellung, um ein Urteil gegen die geplante
Nord Stream 2-Pipeline zu verhängen. In Reaktion auf dieses Urteil mussten sich europäische Energieunternehmen aus dem Pipeline-Konsortium zurückziehen.
Nord Stream 2 und die Geopolitik
Die viele Branchen und mächtige Wirtschaftsinteressen betreffende Liberalisierung, die bereits Anfang der 1990er-Jahre eingeleitet wurde, ist ein zentrales Ziel der EU. Im Fall des Erdgasmarkts wurde die Liberalisierung aber auch von Akteuren genutzt, die weniger den Wettbewerb als die Geopolitik im Blick haben. Dies hat sich insbesondere beim Konflikt um Nord Stream 2 gezeigt.
Die Liberalisierung, das heißt die Abkehr von langfristigen Preisbindungen und dem Verbot des Weiterkaufs, hat aber auch europäischen Energieunternehmen Vorteile gebracht. RWE erreichte so über ein Schiedsgerichtsurteil 2013 eine Aufhebung der Ölpreisbindung in den Lieferverträgen und erhielt von Gazprom Schadensersatz von mehr als einer Milliarde Euro für seit 2010 über dem Marktniveau gezahlte Preise.
Hintergrund war der Bedeutungsgewinn von Flüssiggas, das per Schiff transportiert werden kann und ähnlich wie Erdöl bei Lieferung auf Spotmärkten, also kurzfristig an den Meistbietenden, verkauft wird. Flüssiggas konnte so zu Beginn der 2010er-Jahre in Rotterdam unterhalb der von Gazprom gesetzten Preise gekauft werden und über niederländische Pipelines nach Deutschland transportiert werden.
Gazprom als Verkäufer hat logischerweise kein Interesse an niedrigen Preisen. Russland reagierte auf das Risiko stärker schwankender und vor allem fallender Preise bereits 2008 mit Plänen für eine Gas-OPEC.
Die Idee dahinter war, ähnlich wie bei der OPEC selber, dass Absprachen der größten Produzenten die Weltmarktpreise im eigenen Interesse beeinflussen können. So wurde mit Katar auch der größte Exporteur von Flüssiggas in die Gas-OPEC einbezogen. Das im selben Jahr in Russland gegründete Forum Gas exportierender Länder (Gas Exporting Countries Forum – GECF), wurde zwar von Russland als Gas-OPEC bezeichnet, konnte sich aber nicht auf eine Einflussnahme auf Fördermengen oder Preisgestaltung einigen.
Es ist offensichtlich, dass das russische Interesse in einer Maximierung der eigenen Einnahmen aus dem Erdgasexport besteht und nicht in einer möglichst günstigen und sicheren Versorgung der Abnehmerländer. Dementsprechend sah Russland auch keinen Grund, im Herbst 2021 mehr als die vereinbarten Mengen an Erdgas nach Europa zu liefern, um zu fallenden Preisen beizutragen.
Die globalen Verwerfungen infolge der Corona-Pandemie haben vielmehr dazu geführt, dass Russland vorübergehend allein erreichen konnte, was ihm die Gas-OPEC schon 2008 bringen sollte: steigende Preise durch ein reduziertes Angebot. Während vor zehn Jahren Gazproms Kunden die Vorteile der fehlenden Preisbindung nutzten, profitiert jetzt das russische Unternehmen selber.
Ausblick
Längerfristige Prognosen für die Entwicklung des Erdgasmarkts haben sich in der Vergangenheit regelmäßig als völlig falsch erwiesen. Das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage ist zu komplex. Auf der Angebotsseite gibt es zum Beispiel viele Produzenten und die Frage, wie schnell und in welchem Umfang Terminals für den Transport von Flüssiggas fertiggestellt werden.
Die Nachfrage wiederum hängt u. a. vom durch die Corona-Krise stärker als sonst schwankenden Wirtschaftswachstum sowie von den Plänen für die Energiewende ab, bei der Erdgas als fossiler Brennstoff an Bedeutung verlieren oder wegen seines vergleichsweise geringen CO2-Gehalts in einer Übergangsphase vermehrt zum Einsatz kommen kann.
Konkret für den russisch-deutschen Erdgashandel ist festzustellen, dass ehrgeizige russische Produktionsziele nicht immer erreicht wurden. Gleichzeitig ist der Bau von Anlagen für die Verschiffung von Flüssiggas in Russland noch im Anfangsstadium und in Deutschland sogar nur im Planungsstadium. Der Anteil von Erdgas am deutschen Energiemix hängt auch von politischen Entscheidungen im Rahmen der Energiewende ab, die gerade neu verhandelt werden.
Festzuhalten ist aber, dass Russland derzeit keine Pläne hat, seine Exporte durch Erdgaspipelines nach Europa auszuweiten. Für Deutschland bedeutet dies, dass der Erdgashandel mit Russland nur begrenztes Wachstumspotenzial hat. Falls der deutsche Gesamtverbrauch an Erdgas bis Ende des Jahrzehnts zurückgeht, dürfte aber der russische Anteil an den deutschen Erdgasimporten steigen, da russische Lieferungen konstant bleiben werden, während die Niederlande bis dahin ihre Erdgaslieferungen komplett einstellen werden.
Für eine Ausweitung seiner Exporte setzt Russland auf Flüssiggas. Da im Zusammenhang mit der Energiewende der Verbrauch von Erdgas noch schwerer vorherzusagen ist als bisher, ist diese Flexibilität wirtschaftlich sinnvoll, solange Erdgas trotz der Klimafolgen längerfristig genutzt wird.
Falls Deutschland in Zukunft Flüssiggas von Russland beziehen sollte, nachdem beide Länder die entsprechende Infrastruktur geschaffen haben, ergibt sich daraus keine größere Abhängigkeit, da hier Lieferanten – genau wie aktuell beim Erdöl – kurzfristig gewechselt werden können. Da die Zahl der Produzenten von Flüssiggas derzeit zunimmt und die USA und Australien zu den größten Exporteuren von Flüssiggas gehören, ist es schwer vorstellbar, dass doch noch eine Gas-OPEC entsteht. Entscheidend für die Bedeutung von Flüssiggas dürfte vielmehr die Klimapolitik sein.
Heiko Pleines leitet die Abteilung Politik und Wirtschaft der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Er beschäftigt sich seit den 1990er-Jahren mit der Energiewirtschaft. Er ist Mitglied der internationalen Studiengruppe „Energy Materiality: Infrastructure, Spatiality and Power“ am Hanse-Wissenschaftskolleg Delmenhorst.
Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen in: Russland-Analysen, 24.11.2021. Das gesamte Dokument mit weiteren Informationen über den Erdgasstreit können Sie hier herunterladen.