Ukraine: Wie der Wiederaufbau gelingt
Kiew muss Reformversprechen halten, Wiederaufbau und EU-Anschluss sollten miteinander verbunden werden
Anfang dieses Monats trafen sich hochrangige Vertreter aus mehr als 40 Ländern im schweizerischen Lugano und versprachen, ehrgeizige Pläne zum Wiederaufbau der Ukraine zu unterstützen. Diese Wiederaufbau-Konferenz für die Ukraine war ein wichtiger Meilenstein zur Vorbereitung auf die Erneuerung des Lands. Sie lässt erwarten, dass dort nach dem Krieg erhebliche Ressourcen investiert werden. Aber wichtige Fragen wurden bei der Konferenz kaum geklärt: Wie soll der Wiederaufbau organisiert werden – und wer wird die Geldflüsse kontrollieren und lenken?
Das sind schwierige Fragen, die sorgfältig erwogen werden müssen, bevor erhebliche Finanzmittel in den Wiederaufbau gesteckt werden. Um optimal gestaltet werden zu können, sollte dieser Prozess mehrere Faktoren berücksichtigen:
Zunächst muss bestimmt werden, wie zentralisiert oder dezentralisiert der Wiederaufbau stattfinden soll. Ein extremes Beispiel bietet Gosplan, die sowjetische Behörde, die damals die Produktion bis in kleinste Details vorgegeben hat. Obwohl die zentrale Wirtschaftsplanung der Sowjetunion langfristig gescheitert ist, kann ein solcher Ansatz schnell Ressourcen mobilisieren. Aber diese kurzfristigen Vorteile haben einen hohen Preis: Die sowjetische Wirtschaft war von Ineffizienzen geplagt.
Das andere Extrem ist eine völlige Dezentralisierung, bei der sich einzelne Akteure unabhängig voneinander verpflichten. Beispielsweise gab Hamburg kürzlich bekannt, der Stadt Kiew humanitäre Hilfe gewähren zu wollen. Ein solcher Ansatz kann eine wichtige Rolle dabei spielen, dass der Wiederaufbau der Ukraine in lokaler Hand bleibt: Da Kiew selbst um Hilfe gebeten hat, ist es wahrscheinlicher, dass die Stadt sinnvollen Gebrauch davon macht. Andererseits kann Dezentralisierung zu Mehrfachbemühungen und mangelnder Koordination führen.
Ein ähnlicher Ansatz wäre, beim Wiederaufbau Projekte wie jene in den Mittelpunkt zu stellen, die die Entwicklungsbanken in den Entwicklungsländern verfolgen. Dies kann dazu dienen, gezielte Bedürfnisse zu erfüllen – beispielsweise die Stromversorgung in einer bestimmten Region zu verbessern.
Aber für den Wiederaufbau ganzer Länder ist dieser Ansatz nicht so gut geeignet. Die gescheiterten Wiederaufbauprogramme in Afghanistan und im Irak nach 2003 legen nahe, dass es für Geldgeber und -empfänger absolut entscheidend ist, sich bei den Projekten zu koordinieren.
Wiederaufbau kann Jahre dauern
Außerdem muss der Zeithorizont des Wiederaufbaus bestimmt werden. Ein solcher Prozess kann Jahre dauern, also ist eine mehrjährige Planung wichtig. Der Marshall-Plan für Europa nach den Zweiten Weltkrieg, der so gestaltet war und vier Jahre andauerte, wird häufig dafür gelobt, er habe die Grundlage für Europas schnelles Wachstum in der Nachkriegszeit geschaffen. Aber er trat erst drei Jahre nach Kriegsende in Kraft.
Gleichzeitig wurde Europa erheblich von den neu gegründeten Vereinten Nationen unterstützt. Im Gegensatz zum Marshall-Plan war die voraussichtliche Laufzeit der UN-Programme aber derart unsicher, dass sich die europäischen Regierungen nicht auf eine mehrjährige Fortsetzung verlassen konnten.
Dieses Risiko wird auch bei den Erfahrungen der Ukraine mit den Finanzhilfen zur Kriegsunterstützung deutlich. Sobald der unmittelbare Druck Russlands abflaut, könnten die Politiker in der Ukraine und im Westen ihre Prioritäten ändern. Um den Wiederaufbau von solchen Unsicherheiten abzuschirmen, muss er von einer stabilen, technokratischen Organisation geleitet werden, die sich um seine Planung und Ausführung kümmern und relativ frei vom politischen Alltagsgeschäft bleiben kann.
Aufbau und EU-Beitritt verknüpfen
Dabei könnte der neue Status der Ukraine als Beitrittskandidatin zur Europäischen Union hilfreich sein. Wiederaufbau und EU-Anschluss sollten miteinander verbunden werden. Bei ersterem geht es nicht nur um die Erneuerung der physischen Infrastruktur, sondern auch um eine tiefgreifende Modernisierung von Institutionen und sozialer Infrastruktur. Der Wunsch des Lands, sich der EU anzuschließen, ist ein mächtiger Katalysator und kann dazu beitragen, Partikularinteressen zu überwinden.
Dass dies wichtig ist, zeigt die kontroverse Historie der Reformen im Land: Seit ihrer Unabhängigkeit im Jahr 1991 hat die Ukraine lediglich ein einziges Programm des Internationalen Währungsfonds abgeschlossen. Die anderen etwa zehn Programme wurden beendet, weil das Land seine Versprechen nicht erfüllen konnte. Ein großer Teil des zukünftigen ukrainischen Wirtschaftswachstums wird aus ausländischen Direktinvestitionen stammen, und die Zuflüsse werden davon abhängen, ob das Land die Regeln der Rechtsstaatlichkeit und andere EU-Standards erfüllen kann.
Entscheidend für den Erfolg des Wiederaufbauprozesses werden interne und externe Transparenz sein. Da ein Großteil der Finanzmittel aus der EU kommen wird, haben die europäischen Steuerzahler das Recht zu wissen, wie ihr Geld ausgegeben wird. Dies muss ein gemeinsames Projekt werden: Auch wenn die Ukraine für den Wiederaufbau hauptverantwortlich ist, ist die EU mitverantwortlich.
Und auch hier können Erfahrungen aus Afghanistan und dem Irak als schlechtes Beispiel dienen. Werden Geldgeber zu wenig – durch gemeinsame Entscheidungsfindung, lokale Beschaffung und gesellschaftliche Ideen – am Wiederaufbauprozess beteiligt, kann ihr mangelndes Engagement verheerende Folgen haben.
Verschwendung und Selbstbedienung vermeiden
Die wertvollste Rolle, die die EU in der Ukraine spielen kann, besteht darin, als institutionelle Stütze zu dienen. Enorme Haushaltsmittel müssen sinnvoll und transparent geplant, eingesetzt, veröffentlicht und verbucht werden. Obwohl die Ukraine – seit der „Revolution der Würde“ im Jahr 2014 – enorme Fortschritte bei der Korruptionsbekämpfung gemacht hat, bleibt noch viel zu tun.
So sind das Nationale Anti-Korruptions-Büro und das Büro des Sonderstaatsanwalts für Korruptionsbekämpfung seit 18 Monaten führungslos und damit in ihrer Effektivität begrenzt. Setzt sie ihre institutionellen Kapazitäten richtig ein und macht sie ihre Hilfe von sinnvollen Bedingungen abhängig, kann die EU der Ukraine dabei helfen, den Wiederaufbau nicht wieder zur Selbstbedienungsmöglichkeit der „richtigen Leute“ zu machen, wie es bei den Privatisierungen der 1990er der Fall war.
Die Economic Cooperation Administration (ECA), die US-Behörde zur Leitung des Marshall-Plans, kam der Erfüllung dieser Kriterien damals am nächsten. Sie war eine weitgehend technokratische Einrichtung mit einem mehrjährigen Planungshorizont. Sie arbeitete eng mit den örtlichen Behörden zusammen, um Redundanzen und Verschwendung zu vermeiden, und die Finanzierungsanträge wurden von den Lokalregierungen gestellt, wodurch sie am Wiederaufbauprozess beteiligt waren.
Wenn nötig, hat die ECA auch Bedingungen durchgesetzt, um zu gewährleisten, dass die kriegszerstörten Länder ihre Reformversprechen halten. Sie hat die amerikanische Verpflichtung zum Wiederaufbau Europas verkörpert, und ihre Verwalter haben sich für dieses Ziel verantwortlich gefühlt.
Seitdem haben wir natürlich eine Menge gelernt, und der ECA-Prototyp kann bestimmt noch verfeinert werden. Aber er liefert das Modell, an dem sich die Ukraine und ihre Partner bei ihrer Planung für den Wiederaufbau des Lands ausrichten sollten.
Juri Gorodnichenko ist Professor für Ökonomie an der University of California in Berkeley. Anastassia Fedyk ist Assistenzprofessorin für Finanzwesen an der University of California in Berkeley. Ilona Sologoub, Herausgeberin von VoxUkraine, ist Leiterin des Fachbereichs für Politische und Ökonomische Forschung an der School of Economics in Kiew.
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff. Copyright: Project Syndicate 2022.