Russlands Politik der selektiven Expansion

Nato-Dominanz brechen: Wie Russland eine neue Sicherheitsordnung nach seinen Interessen anstrebt

Was will Russland: Krieg oder Frieden?
Was will Russland? Wandgemälde der Künstlerin "Laika" in Rom, Februar 2022

Der Zusammenbruch der Sowjetunion lag im Dezember 2021 genau 30 Jahre zurück. Zur Erinnerung: Die Gründung jenes Staats wird im Dezember 2022 genau ein Jahrhundert zurückliegen.

In der Realität war die Auflösung der Sowjetunion kein singuläres Ereignis, sondern ein längerer Prozess – der noch immer anhält. Währenddessen verändern neue Realitäten die geopolitische Landkarte in Eurasien.

In den meisten Fällen hat der Begriff „post-sowjetisches Gebiet“ seine Bedeutung verloren, so sehr haben sich die früheren Mitglieder voneinander entfernt. Allein in der Diskussion um Russlands Außenpolitik ist es noch sinnvoll, sich auf post-sowjetische Gebiete zu beziehen. Denn alle früheren Randgebiete werden für Russland immer sein „nahes Ausland“ bleiben.

Russlands Einstellung zu seiner geografischen Peripherie hat sich allerdings in letzter Zeit wesentlich verändert. Nahezu gleichzeitige Entwicklungen an unterschiedlichen Orten – in der Ukraine und in Belarus in Osteuropa, im Südkaukasus und in Zentralasien – machen das Wesen und die Richtung dieser Veränderungen deutlich. Der Verdacht, Moskau wolle die Sowjetunion unter einem neuen Namen wiederherstellen, ist haltlos.

Tatsächlich setzt Russland alles daran, sich selbst als vorherrschende und konsequenteste Macht entlang seiner neuen Grenzen zu etablieren. Die Tage eines Reichs werden nicht zurückkehren. Aber die Großmacht Russland arbeitet entschlossen daran, seine Interessen voranzubringen und zu beschützen.

Ukraine: Abschreckung

Die Krise, die Anfang 2022 als Folge von Russlands militärischem Aufmarsch an der ukrainischen Grenze entstanden ist, wird in westlichen Medien als Krise zwischen Russland und der Ukraine interpretiert. In Moskau hingegen sieht man das ganz anders. Durch Demonstration seiner militärischen Fähigkeiten und der politischen Entschlossenheit, zu intervenieren, beabsichtigt Russland, die gegenwärtige europäische Sicherheitsordnung zu ersetzen, die auf der Dominanz der USA und der Nato basiert. An deren Stelle soll eine neue Zwei-Säulen-Architektur treten, die auf einer Vereinbarung zwischen Russland und den Vereinigten Staaten fußt.

Die Ukraine liegt an der Frontlinie dieser Krise. Indem Russland massiv Truppen an der ukrainischen Grenze zusammenzieht, will es die Vereinigten Staaten abschrecken, die Ukraine in die Nato aufzunehmen oder Angriffswaffen wie Raketen auf ukrainischem Territorium zu stationieren.

Sicherheit ist Russlands wichtigstes Anliegen, aber nicht sein einziges. Kiews westliche Orientierung birgt die Aussicht in sich, dass dieses Herzstück des historischen russischen Staats sich für immer von Russland entfremdet. Nicht jedermann in Moskau kann sich damit abfinden – und deshalb wird die Ukraine noch lange auf der Agenda des Kremls bleiben.

Die Ukraine-Krise hat – zum ersten Mal seit dem Ende des Kalten Kriegs – Russlands Bereitschaft gezeigt, militärische Gewalt zu gebrauchen, um eine weitere Ausweitung der westlichen Allianz auf früheres sowjetisches Territorium zu verhindern. Dies ist eine riskante Strategie, aber eine, die funktionieren könnte, zumindest teilweise: Angesichts Moskaus heftigem Widerstand hat Washington weder das Interesse noch die Absicht, mit Russland um die Ukraine zu kämpfen oder Russland zu sehr zu provozieren, indem US-Raketen in der Ukraine aufgestellt werden.

Belarus: Integration

Der August 2020 markierte einen Wendepunkt in der Außenpolitik von Belarus. Alexander Lukaschenkos Unterdrückung von Demonstranten, die ihm die Manipulation der Präsidentschaftswahlen vorwarfen, führte dazu, dass westliche Staaten sich weigerten, ihn als belarussischen Präsidenten anzuerkennen. Seither sind die Beziehungen zu Europa und den Vereinigten Staaten tiefgefroren. Deshalb musste Lukaschenko seine breitgefächerte Außenpolitik aufgeben und sich stattdessen ganz auf die Unterstützung und den Beistand Russlands verlassen.

Im Gegenzug hat Russland die Situation genutzt, Belarus unter wirtschaftlichen und militärischen Gesichtspunkten stärker an sich zu binden. Und zwar auf der Grundlage eines Staatenbunds, der trotz seiner Verkündigung von 1999 bis dahin eher virtuell als real bestanden hatte. Der Kreml hat überdies einen politischen Wechsel in Minsk angestrebt – hin zu einer vorhersehbareren und biegsamen Führung in der Nachfolge des trickreichen und unzuverlässigen Lukaschenko.

Aber das wird nicht einfach sein. Selbst wenn Lukaschenko von seiner Präsidentschaft zurücktritt, hat er keinerlei Absichten, die wirkliche Macht in Belarus aufzugeben. Vielmehr hat er die Krise in den westlich-russischen Beziehungen dazu genutzt, die Bedeutung von Belarus – und sich selbst – für Russland hervorzuheben.

Dennoch führt auch dieser Umstand zu einer deutlich engeren militärischen Verflechtung und diplomatischen Koordination der beiden Staaten. In einem erneut geteilten Europa steht Belarus eng an Russlands Seite.

Armenien und Bergkarabach: Vermittlung

Im Herbst 2020 flammte der Konflikt in Bergkarabach wieder auf, der zuvor für 26 Jahre eingefroren war – dank eines durch Moskau vermittelten Waffenstillstands. Nachdem es Russland nicht gelungen war, einen neuen Krieg zu verhindern, fand es sich selbst in einer unangenehmen Position wieder: zwischen seinem früheren Verbündeten Armenien und seinem geschätzten Partner Aserbaidschan.

Moskau gelang es, sich aus der Auseinandersetzung herauszuhalten, seine vertraglichen Beziehungen mit Eriwan schützten Bergkarabach nicht. Aber Russland musste zusehen, wie sein Verbündeter besiegt wurde und wie gleichzeitig sein eigenes Prestige sank. Genauso schmerzlich war der Umstand, dass Bakus Sieg möglich wurde durch das enge Bündnis mit der Türkei, Russlands historischem Rivalen in der Region.

Dennoch schaffte es Russland, den Schaden für sein internationales Ansehen zu begrenzen. Es konnte die Kämpfe beenden, nachdem der Sieg der Azari sich abzeichnete, aber bevor die Armenier vollständig aus der Enklave vertrieben wurden. Moskau verhandelte eine neue Vereinbarung zwischen den Konfliktparteien, die auch fünfzehn Monate nach Ende der Feindseligkeiten noch Bestand hat.

Damit gewann es seine Position als einziger Vermittler zurück und entsandte erstmals Truppen zur Friedenssicherung nach Bergkarabach. Moskau hat überdies seinen Einfluss auf die armenische Regierung deutlich erhöht, dessen breitgefächerte Außenpolitik ebenfalls einen betont russischen Akzent entwickeln musste.

Russische Truppen sind nun die hauptsächlichen Beschützer von dem, was als armenische Enklave auf dem Territorium von Aserbaidschan übriggeblieben ist. Schließlich gelang es Russland, einen Zusammenstoß mit der Türkei zu vermeiden – durch Zusammenarbeit in einem gemeinsamen Beobachtungszentrum in Aserbaidschan und die Einladung zu armenisch-türkischen Gesprächen in Moskau.

Die Krise in und um Bergkarabach offenbarte, dass Russland seine nationalen Interessen über politische Emotionen stellt, ganz gleich ob es um seinen Verbündeten Armenien oder um seinen alten und neuen Partner-Rivalen Türkei geht. Außerdem stellte Moskau seine Fähigkeit unter Beweis, selbst in äußerst komplizierten Situationen eine Balance aufrecht zu erhalten und bereit zu sein, seine militärische Stärke für friedenserhaltenden Maßnahmen einzusetzen.

Kasachstan: Stabilisierung

Anfang Januar 2022 entwickelten sich in Kasachstan umfassende soziale Proteste, die rasch in gewaltsame und tödliche Unruhen umschlugen. Der zentralasiatische Staat hat eine 7500 Kilometer lange, zumeist ungesicherte Grenze zu Russland. Die Proteste wurzelten in öffentlichem Ärger über Ungleichheit, und die Unruhen, die viel mit internen Rivalitäten in der Führungsschicht zu tun hatten, drohten das Land ins Chaos zu stürzen.

Völlig überrascht von der Lage reagierte Russland dennoch unverzüglich auf das Hilfegesuch des kasachischen Präsidenten. Um Kasachstan zu helfen, die Ordnung wiederherzustellen, aktivierte Russland die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), eine zuvor eher schwache Sicherheitsvereinbarung zwischen sechs früheren Sowjetstaaten. Erstmals seit seiner Gründung 1999 installierte die von Russland geführte OVKS eine Friedensmission, die in der luftwaffengestützten Entsendung von 2500 Soldaten resultierte, die es den kasachischen Truppen erlaubte, gegen die Aufständischen vorzugehen.

Russland überraschte die Welt damit, wie rasch es seine Truppen nach Kasachstan entsandte, wie effektiv die Unterstützung war und wie das Risiko vermieden wurde, mit lokalen Aufständischen zusammenzustoßen. Ebenso rasch – nur zwei Wochen nach dem Start der Operation – zogen sich die OVKS-Kräfte vollständig zurück. Im Ergebnis beseitigte Russland nicht allein die Gefahr einer Desintegration Kasachstans, sondern stärkte auch seinen Einfluss vor Ort.

Alle diese neuen Elemente in Russlands Politik gegenüber früheren Sowjetstaaten deuten darauf hin, dass Russland seine geopolitische Position im nördlichen Eurasien verstärkt. Es hat seine militärische Stärke genutzt, um die Vereinigten Staaten und die Nato in der Ukraine abzuschrecken; es hat wirtschaftliche, finanzielle und politische Mittel eingesetzt, um die Integration in Belarus zu befördern; es hat sich diplomatisch und friedensstiftend im Südkaukasus engagiert und es hat eine multilaterale Mission der Stabilisierung in Kasachstan organisiert.

Bislang ist es Moskau gelungen, seine sicherheits- und geopolitischen Interessen mit vergleichsweise geringem Aufwand zu sichern und auszubauen. Aber das Vorhaben, Russland als die führende Großmacht – nicht als Reich – auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion wiederaufzubauen, erfordert anhaltende Anstrengungen über einen langen Zeitraum.

Eine Sache ist klar: Der geopolitische Rückzug, den Russland vor drei Jahrzehnten angetreten hat, ist beendet. Eine neue Politik der selektiven Expansion, begründet durch Russlands nationale Interessen, hat begonnen.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in englischer Sprache auf der Webseite des Carnegie Moscow Center erschienen. Wir danken dem Autor für die Erlaubnis, seinen Beitrag in deutscher Übersetzung auf KARENINA zu veröffentlichen.

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