Russlands demokratische Fassade bröckelt
Putin sitzt fest im Sattel, doch das Pferd, das er reitet, lahmt
Russland ist ein Scheinriese – aus der Ferne besehen verfügt der flächenmäßig größte Staat der Welt über reiche Rohstoffvorkommen und übt Einfluss auf der Weltbühne aus. Der Kreml setzt alles daran, Russland als attraktive „einzigartige Zivilisation“ zu positionieren.
Bei näherem Hinsehen ergibt sich allerdings ein anderes Bild: Die russische Wirtschaft ist in absoluten Zahlen nur wenig größer als die spanische, beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf wird Russland schon von Rumänien deutlich geschlagen.
Auf dem diplomatischen Parkett ist Putin weitgehend isoliert. Russlands Stärke beschränkt sich wie schon unter Zar Alexander III. auf die eigene Armee und die Flotte. Mit China und der Türkei teilt Russland punktuelle Interessen, bildet aber keine Wertegemeinschaft. Seit der Annexion der Krim verfügt Russland nicht mehr über eine international anerkannte Außengrenze.
Auch im Land selbst ist das Unbehagen groß: Offiziell leben 13 Prozent der Bevölkerung unter dem Existenzminimum, laut unabhängigen Umfragen bezeichnen sich aber bis zu 40 Prozent als „arm“. Das politische Leben liegt am Boden – wer an unbewilligten Demonstrationen teilnimmt, muss mit hohen Strafen rechnen, regierungskritische Nichtregierungsorganisationen (NGO) fristen nur noch ein Nischendasein oder haben sich selbst aufgelöst, um ihre Mitarbeiter vor Strafverfolgung zu schützen.
Mittlerweile möchte die Hälfte der jungen Erwachsenen zwischen 18 und 24 Jahren lieber im Ausland leben. Die Kluft zwischen Sein und Schein tut sich immer weiter auf.
Nawalny: Putins Dilemma
Niemand hatte im Kreml damit gerechnet, dass der „Berliner Patient“ – wie ihn Putin ausweichend nannte – im Januar 2021 nach Russland zurückkehren würde. Alexei Nawalny tat das Undenkbare und begab sich sehenden Auges in die Klauen des Leviathans. Seither wird er in einer Strafkolonie festgehalten. Wegen angeblicher Fluchtgefahr wird er jede Nacht mehrmals aufgeweckt und fotografiert.
Das Gefangenendilemma ist ein Gefangenenwärterdilemma: Ab welchem Punkt zerstört das rücksichtslose Vorgehen gegen die Opposition die Illusion der Rechtsstaatlichkeit?
Nawalnys Martyrium hat sich bisher für ihn nicht ausgezahlt: Seine Popularitätswerte stiegen kurzfristig auf fünf Prozent, dümpeln aber jetzt wieder bei zwei Prozent (Putin erreicht in dieser Umfrage einen Wert von 33 Prozent). Nawalnys derzeitige Haftstrafe endet im Herbst 2023 – also im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2024.
Der Kreml wird niemals zulassen, dass Nawalny zu diesem Zeitpunkt in irgendeiner Form in der politischen Öffentlichkeit präsent sein kann. Deshalb überzieht der Staat seinen berühmtesten Gefangenen mit immer neuen Gerichtsverfahren. Die Vorwürfe reichen von Richterbeleidigung über Aufruf zu zivilem Ungehorsam bis hin zur Unterschlagung von Spendengeldern.
Das schreiende Unrecht, das Nawalny widerfährt, löst in Russland wenig Empörung aus. Nur 15 Prozent mochten in einer Umfrage Nawalnys Vergiftung trotz erdrückender Beweislage den russischen Geheimdiensten anlasten. Immerhin hat Nawalnys Rückkehr einen Paradigmenwechsel in der offiziellen Berichterstattung ausgelöst – zuvor wurden seine Aktionen totgeschwiegen, nun wird er als „Marionette des Westens“ und als „Provokateur“ diffamiert.
Ganz anders sieht es im Westen aus: Hier besteht der Eindruck, der autoritäre Staat habe im Fall Nawalny endgültig seine demokratische Maske fallen lassen. Die zynische Sprachregelung der Staatsmedien verfängt im Inland, aber nicht im Ausland. Das Gefangenendilemma ist in Russland ein Gefangenenwärterdilemma: Von welchem Punkt an zerstört das rücksichtslose Vorgehen gegen die Opposition die Illusion der Rechtsstaatlichkeit endgültig?
Nibelungentreue für abgehalfterte Diktatoren
Der russische Präsident macht keinen glücklichen Eindruck, wenn er mit Baschar al-Assad, Alexander Lukaschenko oder Nicolás Maduro auftreten muss. Bei solchen Presseterminen huscht jeweils ein säuerliches Lächeln über seine Gesichtszüge. Ganz anders bei den Granden dieser Welt: Mit Biden, Merkel und Macron präsentiert sich Putin gern, in dieser Liga sieht er auch sich selbst.
Er handelt bei seiner Unterstützung der abgehalfterten Diktatoren allerdings konsequent. Wie ein Mantra beschwört der Kreml den Grundsatz der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten und spricht dabei natürlich auch pro domo. Putin hält eine auffällige Nibelungentreue zu autoritären Machthabern – und seine Unterstützung scheint noch stärker zu werden, wenn Protestbewegungen einen Regimewechsel fordern.
Gerade im Fall von Syrien zeigt sich die Scheinheiligkeit dieser Politik allerdings offen: Nur durch die massive russische militärische Unterstützung konnte sich Assad überhaupt im Amt halten. Dass sich Moskau nun zum Garanten des politischen Status quo aufspielt, hat wenig mit Nichteinmischung, aber viel mit geopolitischem Engagement zu tun.
Wahlen ohne Auswahl
Bis zur Finanzkrise des Jahres 2008 galt in Russland ein einfacher Gesellschaftsvertrag. Der Kreml rief den Bürgern zu: „Enrichissez-vous, mais ne vous indignez pas!“ Solange die Zuwachsraten der Wirtschaft im zweistelligen Bereich lagen, willigte der sich neu bildende Mittelstand gerne in die politische Abstinenz ein. Das bisher schwerste Trauma für Putin waren die anhaltenden Demonstrationen des Winters 2011/2012, als in ganz Russland Hunderttausende auf die Straßen gingen, um gegen eine Wahl ohne Auswahl zu protestieren.
Der Kreml befindet sich in einer paradoxen Situation: Einerseits arbeitet er seit zwei Jahrzehnten auf eine Depolitisierung der Gesellschaft hin, andererseits muss er die Bürger in regelmäßigen Abständen an die Urnen rufen, um eine demokratische Fassade aufrechtzuerhalten. Wahlen werden auf diese Weise zu Plebisziten über das System Putin. Die Schere zwischen gesellschaftlicher Unterstützung und politischer Repräsentation öffnet sich immer weiter. Gegenwärtig würden laut Umfragen 28 Prozent die Regierungspartei Einiges Russland wählen, in der Duma hält dieselbe Partei aber 67 Prozent der Sitze.
In aller Deutlichkeit zeigte sich der plebiszitäre Charakter der russischen Urnengänge im Referendum über die Verfassungsänderung von 2020: Die Bestätigung durch das Volk war vom Verfahren gar nicht notwendig, sondern diente nur der Stabilisierung eines Systems, das an einem demokratischen Legitimitätsdefizit leidet.
Glanz und Elend der Ministerpräsidenten
Der russische Präsident kann seinen Regierungschef von heute auf morgen entlassen. Als Boris Jelzin sich in den späten neunziger Jahren kaum mehr selbst auf den Beinen halten konnte, schasste er in immer kürzeren Zeitintervallen den Ministerpräsidenten, um seine eigene politische Handlungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Putin behält dagegen seine Ministerpräsidenten lange im Amt – am längsten natürlich Dmitri Medwedew, der eine wichtige Sündenbockfunktion ausübte und damit Kritik vom Präsidenten fernhielt.
Allerdings war Medwedew nach Alexei Nawalnys Enthüllungsvideo über seine Privatvillen nicht mehr tragbar – nach einer Schamfrist von drei Jahren wurde er in den Sicherheitsrat abgeschoben. Mittlerweile ist der amtierende Ministerpräsident Mischustin zum wahrscheinlichsten Nachfolger Putins im Präsidentenamt aufgerückt.
Möglicherweise macht Putin 2024 von einer der zahlreichen Exit-Optionen Gebrauch, die er in den vergangenen Jahren für sich selbst geschaffen hat. In diesem Fall müsste er einen effizienten und loyalen Manager installieren, der das System modernisiert, ohne es grundsätzlich infrage zu stellen.
Covid-19 und die Entdeckung der Regionen
Putin setzte gleich zu Beginn seiner Präsidentschaft auf die sogenannte „Vertikale der Macht“. Die Regionen wurden weitgehend entmachtet, über der Ebene der Föderationssubjekte wurden acht sogenannte Föderationskreise geschaffen, die jeweils von einem Bevollmächtigten des Präsidenten geführt werden.
Damit kann Moskau direkt in die Regionen durchregieren. Mittlerweile aber betrachtet der Kreml die Regionen nicht mehr nur als Spielwiese, sondern nimmt ihre Ansprüche zur Kenntnis. Es ist wohl auch kein Zufall, dass Nawalny in Sibirien vergiftet wurde. Je größer die Distanz zu Moskau, desto fruchtbarer ist der Boden für alternative politische Projekte.
Nach welch autonomer Logik die Regionen funktionieren, konnte man kürzlich an der Protestbewegung im fernöstlichen Chabarowsk beobachten, das für „seinen“ verhafteten Gouverneur auf die Straße ging. Schließlich wurden die Regionen auch durch Covid-19 aufgewertet. Schon zu Beginn der Pandemie merkte Präsident Putin, dass es in der Bewältigung dieser Krise keine Lorbeeren zu gewinnen gab, und verwies – ganz untypisch – auf die Kompetenzen der Regionen. In den Hauptstädten Moskau und Petersburg gibt sich der Kreml schon keine Mühe mehr, die jungen Erwachsenen ideologisch auf seine Seite zu ziehen. Es reicht, dass es in den Machtzentren nicht zu Massenprotesten kommt.
Die Machtparadoxien des Kremls
Wie geht der Kreml mit den Paradoxien seiner Machtausübung um? Unmittelbar nach der Annexion der Krim oszillierte die Rhetorik zwischen blanker Lüge und zynischer Selbstermächtigung. Präsident Putin verneinte zunächst, dass er Soldaten ohne Hoheitszeichen auf die Halbinsel geschickt habe, lobte aber später seine Spezialtruppen für ihren „professionellen“ Einsatz.
Den verdeckten Militäreinsatz in der Ostukraine leugnet der Kreml nach wie vor. Die immer noch andauernden Kämpfe bei Donezk und Luhansk werden in den russischen Staatsmedien als ukrainischer Bürgerkrieg präsentiert.
Ähnliches gilt in der Geschichtspolitik: Präsident Putin hat ein Gesetz unterzeichnet, das die Gleichstellung von Nazi- und Stalin-Diktatur verbietet und die Leugnung der „humanitären Mission der Sowjetunion“ bei der „Befreiung“ Osteuropas nach dem Zweiten Weltkrieg unter Strafe stellt. Damit errichtet der Kreml sprachliche Tabuzonen im öffentlichen Diskurs – dieser geistige Belagerungszustand hat verheerende Folgen für die demokratische Meinungsbildung.
Die Fragmentierung der Wirklichkeit in wünschbare und zu verdeckende Elemente erzeugt ein informationelles Hintergrundrauschen, in dem die Machtparadoxien des Kremls mal in der einen, mal in der anderen Form aufblitzen. Davon sollte man sich nicht blenden lassen.