Ukrainerin in Berlin: „Bin nicht russophob“

Werden Russen in Berlin diskriminiert? Nein, aber sie müssen die Last der Schuld mittragen

von Kateryna Shved
Kateryna Shved ist Ukrainerin und lebt in Berlin. Sie sagt, das Konstrukt von den „Bruderländern“ stamme aus der sowjetischen Propaganda.

Seit Beginn des Kriegs in der Ukraine berichten Russen und Russinnen auf der ganzen Welt über antirussische Diskriminierungen, die sie erlebt haben. Auch Ukrainern im Ausland wird vorgeworfen, sie seien „russophob“. Doch was heißt das überhaupt, wie wird dies begründet?

Viele Blogger erzählen im Internet, dass sie angegriffen wurden, weil sie Russisch sprechen. Auch in Berlin soll das passiert sein. Ich selber bin russischsprachige Ukrainerin und habe noch nie irgendeine Art von Kritik erlebt, wenn ich mich mit meinen Freunden in der Öffentlichkeit auf Russisch unterhalte. Schwer vorstellbar, dass ein Deutscher oder irgendein anderer Berliner, der kein Wort Russisch spricht, überhaupt einen Unterschied zwischen Ukrainisch, Russisch oder Polnisch erkennen könnte.

Entsprechend entsteht eine Verwirrung, weil es in Russland und in der Ukraine eine Menge von Dialekten gibt. Sogar die Aussprache einiger Wörter ist unterschiedlich. Als Ukrainerin kann ich sofort eine Person aus Moskau erkennen, weil in der Stadt der Vokal „A“ stark betont wird. Gleichzeitig benutzen Menschen aus den Grenzgebieten von Russland oft „Ukrainismen“. So kann man eigentlich nur aus dem Verhalten und dem Gesprächskontext erkennen, aus welchem Land die Person stammt oder welche Position sie vertritt.

Das Erbe der Sowjetunion

Ich bin auf der Krim geboren und in Sewastopol aufgewachsen. Nach meiner Herkunft bin ich Viertelrussin, weil meine Oma väterlicherseits aus der Region um Kursk in Russland kommt. Ich bin auch einer von wenigen Menschen, die sich zu den „ursprünglichen“ Krim-Bewohnern zählen können.

Meine Oma mütterlicherseits stammt aus einem Minderheitsvolk von der Halbinsel. Die Krimtschaken, auch Krim-Juden genannt, wurden im Holocaust fast völlig ausgelöscht. Ich bin Ukrainerin, weil meine Familie eine reiche Geschichte hat, die bis zu den Kosaken zurückgeht und zu der auch Dissidenten gehörten. Trotzdem sprach meine Familie immer Russisch und das wurde nie infrage gestellt.

Dies sei das Erbe der Sowjetunion, hieß es. In meiner Heimatstadt wurde Russisch als Hauptsprache verwendet, auch wenn wir in der Ukraine lebten. Ein Verbot, Russisch zu sprechen, existierte niemals, ganz im Gegenteil. Jahrelang wurden alle Mittel benutzt, um Ukrainisch herabzuwürdigen und Menschen, die sich offen als proukrainisch positionierten, zu unterdrücken.

Die Lehrer in meiner Schule richteten sogar eine Beschwerde an das ukrainische Bildungsministerium, weil unsere Lehrbücher in der achten Klasse auf Ukrainisch verfasst waren. Journalisten vom lokalen Fernsehkanal kamen in unsere Klasse und interviewten uns. Wir wurden befragt, ob wir unsere Bücher lesen und verstehen können. Meine Mitschüler (mindestens die Hälfte von ihnen) und ich, erklärten, dass wir eigentlich sehr gut Ukrainisch könnten.

Wir lernten Ukrainisch seit der ersten Klasse, einige von uns sprachen Ukrainisch mit Großeltern und Verwandten. Komischerweise wurden solche Aussagen aus dem Beitrag geschnitten. Seit Jahren, noch vor der Annexion, haben russische Offiziere und Touristen die Ukrainer und ukrainische Sprache belächelt. Wenn man die Ukraine liebte, sei man ein Wahnsinniger und Nationalist. Gleichzeitig hatte jeder einen ukrainischen Pass.

2015 zog ich aufgrund der politischen Lage auf der Krim mit meiner Familie nach Kyjiw (Kiew). Auch dort habe ich im Alltag vor allem Russisch gesprochen, so wie die Hälfte der Bevölkerung in der Stadt. Heute bemühe ich mich jede Möglichkeit zu nutzen, um Ukrainisch mit meinen Freunden zu sprechen.

„Ich spüre keinen Hass auf Russen“

Es stimmt mich jedoch nachdenklich. Warum spreche ich als Ukrainerin, geboren in der unabhängigen Ukraine, besser Russisch als unsere eigene Sprache? Warum sollten die Ukrainer überhaupt Russisch lernen und sprechen?

Mir wird von Russen in Berlin oft erzählt, dass die Ukrainer aus dem westlichen Teil meines Lands die russische Sprache nicht benutzen. Somit würden Russen von Ukrainern in Berlin quasi ignoriert. Manche Russen halten Ukrainer, die nicht Russisch sprechen, sogar für russenfeindlich. Aber warum sprechen sie in Berlin nicht Deutsch oder Englisch miteinander?

Ich spüre keinen Hass auf Russen. Trotz aller barbarischen Ereignisse dieses Kriegs. ich kenne genug Russen, die vor ihrem eigenen Regime nach Berlin geflohen sind. Das ist nicht vergleichbar mit dem Schicksal von Kriegsflüchtlingen.

Andere Regimegegner leben noch in Russland. Ich habe Verwandte und Freunde dort, die an Protesten beteiligt waren. In den ersten Tagen des Kriegs verbrachte eine Kindheitsfreundin von mir drei Tage in einer Untersuchungshaftanstalt in Moskau. Aber es sind Minderheiten, die sich in Russland gegen der Krieg gestellt haben. Die Mehrheit bleibt leise.

Das russische Volk trägt die Last der Schuld für diesen Krieg mit, auch für die Kriege der Vergangenheit, in Tschetschenien, Georgien, Syrien. Meine russischen Freunde schämen sich für ihre Mitbürger. Russland hat seit Jahren eine Gesellschaft, die die Vernichtung von anderen Kulturen und Nationen unterstützt.

In der Sowjetunion war es eine Ehre, „Russe“ zu sein. Russen waren Helden, die Kultur von ihnen geprägt. Man denke an Tolstoi und russisches Ballett. Ukrainische Künstler wurden ermordet, ihre Werke ignoriert. Dass die sowjetische Armee, die den Zweiten Weltkrieg gewann, aus etlichen Nationalitäten bestand, geriet immer mehr in Vergessenheit. Inzwischen feiert Russland seinen Sieg über Deutschland in jedem Jahr am 9. Mai, als seien keine anderen Nationen beteiligt gewesen.

Vor einigen Jahren hatte ich eine Diskussion mit einem Freund, der aus Moskau kommt und seit Jahren in Berlin lebt. Er nahm an einem Aufzug zum 9. Mai teil, um an den großen Sieg zu erinnern und die Urgroßeltern zu ehren, sagte er.

Ich erinnerte ihn daran, dass die meisten Veteranen des Weltkriegs in Russland und im ganzen postsowjetischen Raum an der Armutsgrenze leben, ihre Renten miserabel sind, dass sie selbst und ihre Kinder nie psychologische Hilfe bekommen haben. Dass niemand über das Trauma spricht, dass der Krieg ein Trauma für jede Familie in unseren Ländern ist. Dass man nie von Menschen sprach, die nach dem Sieg nach Sibirien abgeschoben worden sind. Oder über die Kriegsverbrechen der sowjetischen Armee. Mein Freund und ich fanden in diesem Gespräch keine Verständigung. Für ihn war Russland ein Imperium, für mich eine Kolonialmacht.

Bruderländer? Sowjetische Propaganda

Jeder Ukrainer erkennt an, dass unsere Geschichte mit der des russischen Volks verbunden ist. Aber das Konstrukt, dass wir „Bruderländer“ sind, stammt aus der sowjetischen Propaganda. Wenn wir das jetzt sagen, gilt das schnell als „russophob“, ebenso, wenn wir es ablehnen, mit Russland in Freundschaft verbunden zu sein. Wie soll das gehen nach Irpin, Butscha, Mariupol?

Im März 2022 mietete eine Frau, die aus Charkiw geflüchtet war, eine Unterkunft über Airbnb in Berlin. Ihre Gastgeberin sagte erst nicht, dass sie Russin ist. Sie lebten zwei Wochen unter einem Dach. Die Gastgeberin erzählte, dass sie auf dem Hauptbahnhof helfe, Flüchtlinge aus der Ukraine in Empfang zu nehmen. Das ist ehrenwert.

Eines Tages fragte die Gastgeberin die Frau aus Charkiw, ob sie mit ihr zusammen im deutschen Fernsehen auftreten wolle. Die Ukrainerin sollte ein Interview geben, erzählen, dass nicht alle Russen schlechte Menschen sind. Aber die Wohnung wurde von einer NGO bezahlt, es war keine Wohltätigkeit. Als sie das Interview nicht geben wollte, warf ihr die Russin vor, sie sei „russophob“. So schnell kann das in diesen Wochen gehen.

Die Autorin lebt seit sechs Jahren in Deutschland. Sie hat an der Freien Universität Berlin und in Zürich Politikwissenschaften studiert und war in der ukrainischen Politik tätig. Sie arbeitet als Public Affairs Consultant in Berlin.

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 12.7.2022 im Rahmen der Open-Source-Initiative der Berliner Zeitung erschienen. Wir danken dem Verlag für die Erlaubnis, diesen Text auf KARENINA zu veröffentlichen.

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