Das Kriegsende feiern, nicht den Krieg
Markus Meckel zum Tag des Kriegsendes: Wir werden Putins Freunden nicht die Straße überlassen
Die sowjetische Armee hat gemeinsam mit den westlichen Alliierten die Nazis besiegt, Deutschland befreit. Am späten Abend des 8. Mai unterzeichnete eine deutsche Delegation unter dem Oberkommandierenden der Wehrmacht, Wilhelm Keitel, die Kapitulationsurkunde am 8./9. Mai im Hauptquartier der Roten Armee in Berlin Karlshorst. In Moskau war Mitternacht schon überschritten. Deshalb gilt bis heute in Russland der 9. Mai als Tag des Endes des Zweiten Weltkriegs.
Diesen Tag feierten die Menschen in ehemaligen sozialistischen Sowjetrepubliken jedes Jahr, auch in Berlin, im Tiergarten, in der Schönholzer Heide und vor allem und zu Tausenden am Ehrenmal im Treptower Park, wo 7000 der mehr als 80 000 bei der Befreiung Berlins gefallenen Soldaten bestattet sind, darunter auch Ukrainer, Belarussen und Angehörige anderer Nationen der UdSSR.
Der Theologe Markus Meckel, geboren 1952 in Brandenburg, war Mitglied der letzten Volkskammer der DDR und kurzzeitig Außenminister der DDR, dann Mitglied des Deutschen Bundestags von 1990 bis 2009. Mit Meckel sprach KARENINA über Hitlers Krieg und Putins Krieg, über das, was dieses Jahr am 8. und 9. Mai zu erwarten ist und was nicht geschehen darf.
KARENINA: Am 9. Mai feierten, demonstrierten oder gedachten in Berlin nicht nur Menschen aus Russland, sondern auch aus Belarus und der Ukraine des Endes des Zweiten Weltkriegs. Wie soll das dieses Jahr gehen? Was ist dieses Jahr zu erwarten?
Markus Meckel: Wir hatten schon seit 2015 in Berlin einen Streit um die Erinnerung zwischen Russland und der Ukraine. Seit der Annexion der Krim und dem verdeckten Krieg Russlands gegen die Ukraine gab es kein gemeinsames Gedenken der Ukraine und Russlands mit deutschen Institutionen mehr gegeben. Die Ukraine hat sich abgewandt von dem alleinigen Feiern des 9. Mai, weil sie selber als Ukraine eine doppelte Erfahrung hat.
Zum einen war die Ukraine als Teil der Sowjetunion in großer Weise beteiligt am Kampf gegen Hitler-Deutschland und auch am Sieg und damit an der Befreiung von Nationalsozialismus. Auf der anderen Seite war die westliche Ukraine früher ein Teil Polens. Das östliche Polen der Zweiten Polnischen Republik, in das auf der Grundlage des Hitler-Stalin-Pakts nach dem Überfall Hitler-Deutschlands die Rote Armee am 17. September 1939 einrückte und einen Großteil des polnischen Territoriums besetzte und dort eine Schreckensherrschaft errichtete. Diese doppelte Vergangenheit der Ukraine ist in Deutschland wenig bewusst.
Heute, mit Putins Krieg, ist die gesamte Nachkriegsordnung bedroht. Und nun stellt sich natürlich die Frage: Wie können wir heute an diesen Krieg erinnern und gleichzeitig die Gegenwart nicht aus dem Blick verlieren? Deshalb hat sich in Berlin ein Bündnis geschlossen von NGOs, die versuchen deutlich zu machen, dass wir nicht aus nationaler Perspektive allein auf diese Ereignisse blicken sollten, sondern aus der Perspektive der uns verbindenden gemeinsamen europäischen Werte, die dann auch eine klare Stellungnahme zu diesem Krieg und eine Ablehnung dieses Kriegs bedeuten.
Und ein solches klares Signal gegen die Aggression Putin-Deutschlands soll es auch dieses Jahr geben?
Ein solches klares Signal soll es geben, das gleichzeitig – anders als die russische Tradition – die Jahre 1939 bis 1941 nicht ausblendet. Das sind zwei Jahre, die in der russischen Erinnerung gar nicht mehr stattfinden. Dort denkt man immer nur an die Jahre 1941 bis 1945, also die Zeit, in der die Sowjetunion Opfer des Nationalsozialismus geworden ist, mit 27 Millionen Toten. Das sind allerdings nicht nur Russen, sondern alle Völker der Sowjetunion.
In den Jahren davor war die Sowjetunion Bundesgenosse Hitlers. Der Hitler-Stalin-Pakt hatte das in diesen beiden Jahren Geschehene vorbereitet: Die deutsche Armee ist einmarschiert in Polen am 1. September, die Rote Armee vom Osten her am 17. September. Die baltischen Staaten wurden nach dem geheimen Protokoll 1940 okkupiert von der Sowjetunion und Zehntausende deportiert, gegen Finnland wurde Krieg geführt. Und mit dem Namen Katyn verbindet sich der Mord an mehr als 22 000 polnischen Offizieren.
Auch diese Zeit darf aus dem Gedenken an den Zweiten Weltkrieg nicht ausgeblendet werden, so wie es die Sowjetunion tat und Russland tut.
Nicht nur die Ukraine feiert ja inzwischen, wie Polen, den 8. Mai. Ist das der „Versuch, das Gedenken zu europäisieren oder zu verwestlichen“, wie Mischa Gabowitsch es nennt. Oder doch eine Abwendung von Russland?
Die Polen, die baltischen Staaten gedenken ganz anders an den Zweiten Weltkrieg als die Deutschen. Wir denken an das, was wir in Polen und anderswo angerichtet haben. Das sind furchtbare Verbrechen. Aber in Deutschland scheint es die Sorge zu geben, dass wenn man die Stalinschen Verbrechen benennt, man in den Geruch kommen könnte, die deutschen Verbrechen zu bagatellisieren. Das ist mitnichten der Fall.
Sogar für den Massenmord in Katyn tragen wir eine Mitverantwortung, denn ohne den Pakt wäre Stalin in dieser Zeit nicht vorgedrungen in diesen Teil Europas. Deshalb darf man die Geschichte nicht einteilen in verschiedene voneinander getrennte Rubriken, sondern muss die gegenseitigen Erinnerungen wachhalten oder sogar erst einmal wahrnehmen. Aber nicht, indem man europäische Geschichte vereinheitlicht, sondern sich gegenseitig zuhört und nicht gegenseitig aufrechnet.
Damit gehört der Tag des Sieges, der 9. Mai, Putins Russland, oder?
Nein. Der Tag wird mitbegangen in Deutschland, weil auch viele Russen in Deutschland leben. Und er wird auch begangen von Ukrainern und anderen ehemaligen Völkern der Sowjetunion.
Aber wir sollten darauf bestehen, dass die ganze Geschichte in den Blick genommen wird. Für die Zeit von 1939 bis 1941 haben wir gemeinsam mit Russland einen Grund, um uns bei den Polen und den baltischen Staaten zu entschuldigen.
Dieser Prozess, die ganze Geschichte in den Blick zu nehmen, hat in Russland nur bei wenigen wie Memorial und anderen demokratischen Kräften begonnen. In der Öffentlichkeit noch überhaupt nicht. Das gilt es einzuklagen.
Jetzt könnte es allerdings passieren, dass dieser 9. Mai sich weniger mit der Vergangenheit beschäftigt und mehr mit der Gegenwart. Es könnte sein, dass die Feierlichkeiten in Treptow, im Tiergarten und anderswo genutzt werden für eine Demonstration für Putins Politik.
Diese Gefahr besteht. Dem müssen wir entgegentreten. Deshalb haben wir das Bündnis „Gedenken gegen den Krieg“ geschaffen. Wir werden an den Gedenkorten präsent sein, um den beschriebenen Gesamtzusammenhang herzustellen.
Konkret heißt das für die Gegenwart was?
Die UN-Charta war eine ganz wesentliche Lehre aus den Schrecken der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Darin sind Grundregeln der internationalen Ordnung geschaffen, man hat sich auf gemeinsame Werte und Verfahrensregeln geeinigt, die durch Putins Krieg untergraben und zerstört werden. Für eine solche, auf Recht gegründete internationale Ordnung im Gedenken an das Kriegsende von 1945 einzutreten ist gerade heute von zentraler Bedeutung, dies Gedenken muss verbunden sein mit einer Verurteilung dieses Angriffskrieges Putins gegen die Ukraine.
Dieses Jahr aber ist anzunehmen, dass nun auch Sympathie für Russlands Krieg in der Ukraine gezeigt werden könnte. Zum Beispiel durch das Z-Zeichen und das schwarz-orange Georgsbändchen. Was kann man dagegen tun? Soll man etwas dagegen tun?
Das ist schon sinnvoll. Dagegen vorzugehen ist den in Berlin dafür zuständigen Institutionen zu überlassen. Es ist legitim, an die Opfer der Sowjetunion zu erinnern, das ist auch unser Anliegen. Die russische Botschaft und in Berlin lebende Russen werden das tun, aber auch viele Deutsche. Doch sind wir der Überzeugung, dass dies nicht mit Symbolen verbunden werden darf, die eine Unterstützung von Putins Krieg darstellen.
Bleibt die Frage, was man überhaupt ahnden kann. Das „Z“ zu zeigen gilt offenbar tatsächlich als Straftat: Verstoß gegen Paragraf 13 des Völkerstrafrechts und Paragraf 140 des Strafgesetzbuchs. Die russische Fahne darf jedoch gezeigt werden. Man könne eine Demonstration unter dem Motto „gegen die Diskriminierung russischsprechender Menschen“ nicht einfach verbieten, sagte die Regierende Bürgermeisterin Giffey. Das fällt unter die Versammlungsfreiheit.
Natürlich. Aber man muss verhindern, dass es zu Gewaltszenen auf den Straßen kommt. Hier ist sensibles Verhalten der Polizei nötig. Jedoch: Einer Propaganda für Putins Krieg muss man klar und öffentlich entgegentreten.
Möglicherweise wäre eine gute Antwort die zahlreiche Teilnahme an Demonstrationen, die sich gegen solche Provokationen und Putin-Russlands Krieg wenden?
Dazu rufen wir auf. Kommt zu unseren Veranstaltungen, nach Treptow, in den Tiergarten. Überlassen wir den Putin- und Kriegsfreunden nicht die Straße.
Mit den Russen sind nun aus den damaligen Befreiern die Besatzer der Ukraine von heute geworden. Ist es überhaupt noch angemessen, den 9. Mai zu feiern?
Dass die Sowjetunion uns gemeinsam mit den westlichen Alliierten von den Nazis befreit hat, gilt ja trotzdem noch. Und daran muss man erinnern. Für die DDR, wo ich aufgewachsen bin, galt allerdings auch, dass aus der Befreiung keine Freiheit wurde, sondern eine zweite Diktatur in Deutschland. Das konnte erst vor gut 30 Jahren überwunden werden.
Deshalb ist es so wichtig, an die Charta von Paris zu erinnern, in der auch die Sowjetunion sich diesen gemeinsamen Werten angeschlossen hat. Ich erinnere an die Rede Gorbatschows vor der Uno im Dezember 1988, in der er sich zu Menschenrechten, zur internationalen Ordnung, zu Gewaltlosigkeit bei der Bewältigung von Konflikten und zur gemeinsamen Aufgabe, den globalen Herausforderungen zu begegnen, bekannt hat. In der er gesagt hat: Jeder hat das Recht der Wahl des eigenen Systems. Er gestand den sowjetischen Satellitenstaaten zu, was Putin heute der Ukraine verweigert: Ihren eigenen Weg zu gehen, den demokratischen Weg Richtung Europa.
Wir Deutschen haben von dieser Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung profitiert und konnten uns vereinigen. Dies Recht können wir anderen Völkern heute nicht absprechen. Ukrainer, Georgier, Moldauer und andere haben das gleiche Recht und es darf Putin nicht zugestanden werden, es ihnen zu verweigern, um wieder ein russisches Imperium zu errichten.
Gorbatschow wird allerdings heute in Russland nicht als erfolgreicher Politiker gesehen wird, sondern als Zerstörer der Sowjetunion.
Für Putin ist er der Verursacher der größten Katastrophe des 20. Jahrhunderts, des Zerfalls der Sowjetunion. Aber was sagt Putin damit eigentlich? Nicht die 27 Millionen Opfer der Sowjetunion sind die größte Katastrophe, nicht die Millionen Opfer Stalins sind für Putin die größte Katastrophe, sondern der Zerfall des erst zaristischen, dann sowjetischen Imperiums ist es. Und deshalb versucht er, ein neues Imperium zu errichten. Das aber darf ihm nicht zugestanden werden.
Das geschieht ja nun auch. Es gibt aber Menschen, die meinen, bei den Debatten seien Russlands Sicherheitsinteressen – sprich: Pufferzonen zwischen Russland und der Nato – nicht ausreichend beachtet worden. Können Sie dem etwas abgewinnen?
Das hielte ich für eine Katastrophe. Es gehört zur Nachkriegsordnung (und gehörte dann auch zu den Prinzipien der KSZE von 1975), dass jeder Staat das Recht hat, die eigene Ordnung zu bestimmen, aber auch ein Bündnis selbst zu wählen. Das ist ein zentrales Prinzip, auf dieser Grundlage hat – wie gesagt – Gorbatschow die deutsche Vereinigung akzeptiert. Ein Russland, das die Souveränität der Nachbarn nicht akzeptiert, stellt sich außerhalb dieser internationalen Werteordnung. Und die steht nicht zur Disposition und muss verteidigt werden.
Die Fragen stellte Peter Köpf.