Kampf gegen Putins Spießer

Die widerständige Zivilgesellschaft hat einen mächtigen Gegner: die Konformisten, Menschen der Mitte

Die Frage aller Fragen: Wir sind alle Russen, aber welches Russland wollen wir?

Russlands Zivilgesellschaft befindet sich in einer merkwürdigen Situation: Je mehr Druck die Behörden auf sie ausüben, desto aktiver werden jene Menschen, die im wahrsten Wortsinn als Bürgerinnen und Bürger bezeichnet werden können. Ihnen sind die in der Verfassung verankerten Bürgerrechte nicht egal. Die Proteste im vergangenen Januar und Februar zeigten nicht nur ihre Bereitschaft, ihre Unzufriedenheit mit den Aktionen des Kremls und der "Silowiki" (Militär, Geheimdienst, Polizei, Innenministerium) auszudrücken, sondern auch ihre Fähigkeit zur Solidarität. Jedenfalls blieben die während der Proteste Festgenommenen nicht ohne Hilfe.

Früher haben die Behörden nur die politische Aktivität der Opposition kriminalisiert, also derjenigen, die wie Alexei Nawalny offen um die Macht kämpften. Nun erklären sie auch den Protest der Zivilgesellschaft für kriminell.

Dabei gibt es immer noch einen bedeutenden Unterschied zwischen der politischen Opposition und der Zivilgesellschaft in Russland. Die Zivilgesellschaft kämpft nicht um Macht, sie fordert die Wiederherstellung der Gerechtigkeit und der verfassungsmäßigen Rechte: vom Umweltschutz bis zu den Wahlrechten, wie es bei den Protesten im vergangenen Jahr in Chabarowsk der Fall war, wo die Menschen gegen die Absetzung des gewählten Gouverneurs protestierten.

Demonstranten sind Feinde Russlands

Die hochrangigsten russischen Politiker wie Außenminister Sergei Lawrow lenken die Aufmerksamkeit gern darauf, wie brutal die Polizisten in westlichen Ländern angeblich Demonstranten behandeln. Dies ist gegenüber dem Ausland eine Strategie des Whataboutism: "Sagt uns nicht, wie wir leben sollen, schaut, die Situation bei euch ist noch schlimmer."

Dies ist jedoch ein falscher Vergleich. Die russischen wie auch die belarussischen Demonstrationen zeichnen sich durch ihre hohe politische Kultur aus.

Es handelt sich um einen friedlichen, gewaltfreien Protest, das Recht darauf ist im Artikel 31 der Verfassung der Russischen Föderation verankert. Niemand zerbricht Schaufenster, niemand verbrennt Autos, niemand stürmt den Kreml oder das Parlament.

Trotzdem gelten die Demonstranten nun als offene Feinde des Regimes, als Ausgestoßene, die nicht mehr der Rechtsstaatlichkeit unterliegen. Polizisten, Ermittler und Richter lassen eine offene, zynische Willkür walten.

Kampf an zwei Fronten

Die putinkritische Zivilgesellschaft ist gezwungen, an mehreren Fronten zu kämpfen. Erste Front: Es besteht faktisch ein offener Bürgerkrieg mit dem Staat. Die Behörden haben ein für alle Mal ihre Strategie gewählt – eine offene Unterdrückung der Zivilgesellschaft durch Polizei und Gesetzgebung.

Sie beschränken sich dabei nicht auf die Unterdrückung von öffentlichen Protesten. Hinzu kommen die Einschränkungen des Internets und der sozialen Netzwerke, die Kennzeichnung von Bürgerorganisationen und inzwischen auch Einzelpersonen mit dem demütigenden Status "ausländische Agenten" sowie Beschränkungen im Bildungsbereich.

Die zweite Front besteht in der Konfrontation mit der sogenannten konservativen Zivilgesellschaft. Das sind die aggressiven Loyalisten, die bei Protesten für Provokationen sorgen und im Internet trollen.

Die dritte Front ist der Kampf gegen die russische Ausprägung des Spießers, den all diese Proteste und jede Aktivität der Zivilgesellschaft aus dem Gleichgewicht bringen. Der "Mensch der Mitte" blendet schlechte Nachrichten über die russische Führung aus – ein psychologischer Schutzmechanismus.

Nawalny stört das Weltbild der Konformisten

Vermutlich deshalb stieg nach den jüngsten Protesten der Anteil der Menschen, die Nawalnys Widerstand missbilligen, von 50 auf 56 Prozent; das sagen jedenfalls die Zahlen des Lewada-Zentrums, eines unabhängigen Meinungsforschungsinstituts. Der wichtigste Oppositionelle stört offenbar das Weltbild der Konformisten, die sich als Mitte der Gesellschaft verstehen. Es kommt auch vor, dass sich ein gleichgültiger Konformist in einen aggressiven Loyalisten verwandelt.

Es gibt noch ein interessantes Phänomen: Laut Umfragen sehen die meisten Russen den Protest gegen die Verhaftung des Gouverneurs in Chabarowsk positiver als die Demonstrationen zum Schutz Nawalnys in Moskau, St. Petersburg und anderen Städten.

Woran das liegt? Vor allem daran, dass dort eine andere soziale Zusammensetzung der Demonstranten vermutet wird. Der durchschnittliche Befragte ist davon überzeugt, dass in Chabarowsk, an der Grenze zu China gelegen, durchschnittliche Menschen auf die Straße gingen, in den großen Städten dagegen eine vom Westen bezahlte obere Mittelschicht.

Das stimmt natürlich nicht, ist aber ein wichtiger Faktor: Ein Protest im Zeichen von Nawalny wird schlechter angesehen als Demonstrationen und Kundgebungen ohne Anführer in den Provinzen. Nawalny wird von "Menschen der Mitte" oft als Agent des Westens eingeschätzt.

Solch ein "Mensch der Mitte", der die Behörden nicht mag, aber ihnen gehorcht und sein Misstrauen gegenüber allem Liberalen äußert, widersetzt sich der modernen Zivilgesellschaft. Er bleibt die Stütze der Mächtigen, weil er, wenn er ins Wahllokal kommt, mechanisch das Ritual der Loyalität erfüllt und für die regierende Klasse stimmt.

Solange der Kreml eine solche Stütze hat, wird er in Zusammenarbeit mit den Silowiki bei seiner Strategie bleiben: strengste Unterdrückung der Minderheit, also der Vertreter der Zivilgesellschaft und der politischen nicht-parlamentarischen Opposition.

Wer gegen Putin ist, ist gegen Russland

Die Staatspropaganda und die Staatsmänner wiederholen immer wieder das Mantra: Jede gegen den Präsidenten gerichtete Aktion ist eine Aktion gegen Russland; sie ist vom Westen inspiriert und bezahlt. Am häufigsten werden abstrakte "Geheimdienste" und ein vermeintliches Symbol der westlichen Macht – das US-Außenministerium – genannt.

Die massive Gehirnwäsche entfaltet ihre Wirkung, auch wenn sie im Gegensatz zu früheren Jahren nicht mehr die Menschen mobilisiert, sich um die russische Flagge zu versammeln. "Der westliche Einfluss" und "die Untergrabung der Souveränität" bleiben Begriffe, die in den Köpfen der durchschnittlichen Russen fest verankert sind, zumindest bei denen, die generell eine restriktive Gesetzgebung gegen "ausländische Agenten" billigen.

Deshalb macht jede – insbesondere finanzielle – Unterstützung für den russischen Zivilsektor seitens europäischer oder amerikanischer Organisationen oder Staaten jede Nichtregierungsorganisation (NGO) und jede Einzelperson zu einer Zielscheibe für Regulierungsorgane oder Strafbehörden. Den Organisationen, die als ausländische Agenten deklariert wurden, fällt es äußerst schwer, ihr ziviles Engagement in Russland fortzusetzen.

Manchmal schrecken potenzielle Partner deshalb zurück. Daher ist alles, was die westlichen Länder tun können, eine noch stärkere Öffnung von Bildungs- und Tourismusmöglichkeiten vor allem für junge Russen.

Die missliche Lage der Zivilgesellschaft wird noch lange bestehen bleiben. Unter Putin wird es keine Veränderungen, keine Liberalisierung geben.

Übersetzung: Irina Demina

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