Zusammengeschweißt: Die Trassniks der Druschba
Was tausende DDR-Brigadiere beim Bau der Gaspipeline „Trasse der Freundschaft“ erlebten
Die Arbeit an der Trasse ist hart. Schichten von zehn Stunden oder länger sind die Regel, an sechs Tagen in der Woche – im Sommer bei sengender Hitze, im Winter bei klirrender Kälte. Dazu die Abgeschiedenheit irgendwo in der Ukraine, in einem Niemandsland aus Wäldern, Sümpfen und einsamen Dörfern. Heimaturlaub gibt es höchstens alle drei oder vier Monate und auch nur, wenn der Plan stimmt.
Dennoch ist die Zeit an der „Trasse der Freundschaft“ für die meisten Brigadiere aus der DDR ein riesiges Abenteuer: Die anspruchsvolle Aufgabe, der Zusammenhalt unter den „Trassniks“, die Begegnung mit einer fremden Kultur – für viele sind diese Erfahrungen prägend für ihr Leben.
Der Beschluss über die Druschba-Trasse fällt im Juni 1974 auf einer Tagung des „Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (RGW) der damaligen Ostblockstaaten. Um die gigantischen Erdgasvorkommen bei Orenburg jenseits des Urals in die sozialistischen Bruderländer zu leiten, wird eine 2750 Kilometer Erdgasleitung bis an die Westgrenze der Ukraine bei Ushgorod erdacht. Der Deal: Die DDR, Ungarn, die CSSR, Bulgarien und Polen übernehmen in Eigenregie und auf eigene Kosten einen jeweils etwa 550 Kilometer langen Bauabschnitt der Trasse.
Im Gegenzug liefert die Sowjetunion einen Teil des geförderten Erdgases umsonst. Die DDR bekommt die Strecke von Krementschuk am Dnepr bis nach Bar in der Westukraine zugeteilt.
Nach mehrmonatiger Vorbereitung schickt die Freie Deutsche Jugend, vom SED-Politbüro mit der Durchführung des „Freundschaftsprojekts“ betreut, vom Frühjahr 1975 an tausende meist junge Männer und einige wenige Frauen an die Baustelle im Nirgendwo. Doch nicht nur Schweißer, Maschinisten und Elektriker machen sich auf den Weg; die FDJ schickt von Beginn an auch Künstlerinnen und Künstler mit in die Ukraine. Sie sollen ihre Eindrücke vom sozialistischen Gemeinschaftsvorhaben festhalten und mit Bildern und Zeichnungen, Fotos und Filmen den „Schritt in das nächste Jahrtausend“ festhalten. Denn schließlich soll die Erdgastrasse nicht nur die Energieversorgung sichern. Sondern zudem die Jugend der beteiligten Länder im wahrsten Sinne zusammenschweißen – auch mit den Mitteln der Kunst.
Mühen und Entbehrungen
Eine kleine, aber sehr feine Ausstellung über diese „Kulturkampagne zum Bau der Erdgasleitungen“ ist aktuell in Eisenhüttenstadt zu sehen. Sie ist bestückt mit Arbeiten aus dem Kunstarchiv Beeskow, in dem nach dem Ende der DDR die Kunstbestände der Parteien und Massenorganisationen des ostdeutschen Staats zusammengeführt wurden – so auch der FDJ. Aus deren Nachlass stammen die meisten Werke, die nun noch einmal Arbeit und Leben an der Trasse in Erinnerung rufen – und den Mythos von einer internationalen Kollektivleistung im Geist des Sozialismus, möglich gemacht durch unerschrocken voranschreitende Arbeiter, die allen Widernissen der Natur trotzen.
Dieses Idealbild des sozialistischen Werktätigen aber kommt in der Ausstellung kaum vor. Gewiss: Aus den Portraits der Trassniks, egal ob in Ölgemälden, Zeichnungen oder Fotografien, sprechen Härte und Widerstandsfähigkeit, Wille und Ausdauer. Aber eine vordergründige Propaganda, wie man sie aus vielen monumentalen Werken der 1950er- und 1960er-Jahre kennt, ist in diesen Arbeiten nicht zu sehen.
Im Gegenteil: Insbesondere in den Fotoserien schwingt ein Hauch Wehmut mit. Man sieht den Gesichtern die Entbehrungen an, man spürt die Mühen in Schlamm und Schnee, man erahnt die in vielen leeren Bier- und Schnapsflaschen ertränkten Sehnsüchte.
Wie so oft in der DDR-Kunst der 1970er- und 1980er-Jahre entschlüsselt sich in den Werken eine zweite Ebene, wenn man genau hinsieht. Die Trasse fordert einen Tribut von jedem Einzelnen. Einen Preis, der mit Zulagen in DDR-Mark oft nicht zu begleichen ist.
Besonders deutlich wird das in dem Film „Begegnungen an der Trasse“ aus dem Jahr 1976. In bester DEFA-Dokumentartradition begleitet Regisseur Kurt Tetzlaff Arbeiter an der Baustelle, filmt ihre Arbeit, ihren Alltag, ihre Freizeitbeschäftigungen. Und fängt immer wieder Momente der Zerbrechlichkeit und Verwundbarkeit ein: Wenn Briefe aus der Heimat zu Tränen rühren, wenn Hunde, Katzen oder Kaninchen zu Gefährten gegen die Einsamkeit werden, wenn Ehen kaputt gehen und die Trasse zu einem Fluchtort wird.
Freundschaft und Kameradschaft
Doch natürlich versinkt auch dieser Film nicht in der Tristesse. Denn vor allem werden Geschichten von Freundschaft und Kameradschaft erzählt, von Erfolg und Bestätigung durch bewältigte Probleme, von Annäherungen an die Menschen vor Ort. Auch „Trassenehen“ gab es bis 1979 etliche. Was aus ihnen geworden ist, das muss sich jeder selbst in seiner Fantasie ausdenken.
In der künstlerischen Auseinandersetzung mit der Trasse geht es aber nicht nur um persönliche Geschichten. Sondern mit leise-kritischem Unterton auch um das Aufeinanderprallen von Mensch und Technik, von Individuum und Kollektiv.
Angesichts der gewaltigen Dimensionen des Druschba-Projekts wirkt der einzelne Arbeiter winzig und verloren neben schwerer Technik. Auch der Dauerstress zwischen körperlicher Anstrengung, Schlafmangel und Planerfüllung hinterlässt Spuren in den Gesichtern, die auf den Fotos leicht zu entdecken sind. Und noch etwas spiegelt sich in den Bildern und Zeichnungen aus der Ferne: Die Trasse reißt tiefe Furchen in die Weite der Landschaft.
Wo die Rohre verlegt werden, da zieht sich eine klaffende Narbe durch Wälder und Steppen, die nie mehr wirklich verheilt. Dass in jenen Tagen auf Umwelt und Natur oder kulturelles Erbe keine Rücksichten genommen werden, klingt ebenfalls in manchen der Arbeiten an – ohne dass solche Kritik vehement in den Vordergrund gestellt werden konnte.
Schwere Arbeit, wilde Feste
Für die DDR ist das Mammutprojekt „Trasse der Freundschaft“ am Ende ein Minusgeschäft: Milliarden an Devisen fließen in den Kauf von moderner Technik und Stahlrohren. Zudem werden bis zu 25 000 Männer und Frauen zwischen 1975 und 1979 über Monate und Jahre ins Ausland delegiert, dort bestens verpflegt und bei Laune gehalten. Und nebenbei verpflichtet man sich, entlang der Strecke in die Infrastruktur von Dörfern und Städtchen zu investieren, baut Wohnblöcke und Kindergärten, wo es nötig ist.
Bis zum Ende der DDR haben sich diese Kosten noch lange nicht amortisiert. Manch einem Arbeiter geht überdies bei seinem Einsatz für den Großen Bruder Sowjetunion ein Licht auf: Was vor Ort an Unzulänglichkeiten und Rückständigkeit zu erleben ist, trägt nicht unbedingt dazu bei, an die dauerhafte Überlegenheit des Sozialismus zu glauben.
Dennoch sind die persönlichen Erinnerungen an schwere Arbeit und wilde Feste, an einprägsame Begegnungen und solidarische Kameradschaft für viele Trassniks zu einem wichtigen Abschnitt ihrer Biografie geworden. In Zeiten, in denen der Eiserne Vorhang den Weg in die weite Welt zu großen Teilen versperrte, war der Einsatz an der Trasse die Chance, der Enge der DDR für einige Zeit zu entfliehen und den eigenen Horizont zu weiten. Die oftmals hohlen Losungen im Arbeiter- und Bauerstaat von Leistungskraft und Planerfüllung schienen sich beim Bau der Erdgasleitung zumindest teilweise zu erfüllen.
Die Vision einer langfristig sicheren Energieversorgung aber wurde schon bald durch die Zeitläufe eingeholt: Aufgrund der Spannungen zwischen Russland und der Ukraine fließt heute nur noch ein geringer Teil russischen Gases durch die einstige Freundschaftsrohre gen Westen. Mit North Stream 1 und 2 versucht Russland längst, sich von aus seiner Sicht unkalkulierbaren Transportwegen unabhängig zu machen.
„Druschba! Die Kulturkampagne zum Bau der Erdgasleitungen“. Projektraum des Museums Utopie und Alltag in Eisenhüttenstadt, bis 3. Oktober, Di. – So. 11-17 Uhr; www.utopieundalltag.de