Viktor Jerofejew sucht die russische Seele
Viktor Jerofejew wirft den Russen Scheißegalismus vor, aber auch Eigenmächtigkeit. Frage: Was wird siegen?
Natürlich will der Staat Viktor Jerofejew eine Lektion erteilen. Er muss sich gegen Klagen wegen Russophobie wehren. Das war 1999, nach Erscheinen eines Buchs in Russland. Damals endete eine derartige Anklage noch nicht zwangsläufig in Verurteilung und Haft.
Tatsächlich finden sich in „Enzyklopädie der russischen Seele“ – sagen wir – meinungsstarke Passagen, die nervenschwache Staats- und selbsternannte Menschenschützer zu Maßnahmen veranlassen könnten. Jerofejew selbst nennt den Titel im Vorwort „mein skandalösestes Buch“. Dafür gibt es Gründe.
Jerofejews Roman – er spricht von einer „lyrischen Erzählung über Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion“ – widmet sich den 1990ern in Russland. Er nennt diese Zeit die „geilen russischen neunziger Jahre“, in denen seine Protagonisten „Hunderte von Lebensformen ausprobiert hatten“. Es sei das „Jahrzehnt des russischen Körpers“ gewesen. „Der Verlust des Materialismus führte zur Entdeckung des Materiellen. Mädchen wurden zu Jungen und umgekehrt. Die Bedürfnisse tendierten zu geschmeidigem Unisex.“
Die eigentliche Handlung ist schnell erzählt, weil es keine gibt – jedenfalls nicht im klassischen Sinn und allenfalls in homöopathischer Dosierung: Die Silowiki verlangen vom Ich-Erzähler, den Grauen zu finden, den Freund blutrünstiger Bücher. Der vom Verlauf der vergangenen brutal-kapitalistischen Jahre desillusionierte „Held“ soll diese ominöse Entität finden und ihnen bringen, zwecks Zusammenarbeit.
Das ganze Buch versammelt in vier Kapiteln, die wiederum in kurze und kürzeste unzusammenhängende Fragmente gespalten sind, Statements aus dem Zettelkasten und Gedankenschnipsel, Analysen und Aphorismen. Das Buch liest sich nicht weg, immer drängt, ja zwingt Jerofejew mit tiefgründigen Sätzen zur Reflexion.
„Russland ist introvertiert in seinen Möglichkeiten und extrovertiert in seiner Hilflosigkeit“, lautet solch ein Satz. Da darf, wer Russland und die Russen kennt (und die Führung und deren Absichten zu kennen glaubt), schon mal das eigene Russlandbild daneben legen. Oder: „In Russland existiert eine positive Unfähigkeit zu einem sogenannten normalen Leben.“ Interessant ist hier welches Wort? Außerdem sei es so, dass die Russen „die Eigenverantwortung mit Eigenmächtigkeit verwechseln“. Ein Klischee?
Mit Blick auf die ältere Geschichte Russland urteilt der Erzähler, das Land sei „geschaffen für Gebet, Schwermut und Unglück“. Und das, obwohl der Stalinismus die Gesichter der Russen in „Fressen“ verwandelt hat und vom russischen Wesen der Zarenzeit und der großen Literaten nichts mehr übrig sei.
Bis heute gilt aber offenbar: „Russland gehört nicht zu den Kulturen, die zur Selbstbestimmung fähig sind.“ Und weil das so ist – oder wegen all der anderen Klischees und Halbwahrheiten – fehlt auch nicht der Satz: „Die Hoffnung stirbt in Russland zuerst.“
Das Buch ist „in formaler Hinsicht ungewöhnlich: fragmentarisch, mosaikhaft ‚zerrissen‘, streckenweise scheinbar formlos“, räumt Jerofejew selbst ein. „Doch es ist eine trügerische Formlosigkeit. In Wahrheit reflektiert die Form des Buches den Aufstand des Autors gegen seine Illusionen.“
Alles dabei: Nutten, Juden, Hitler
Seine Suche nach der russischen Seele unternimmt Jerofejew mit großer Lust und Sprachgewalt, und es bedarf sicherer Geschichtskenntnis, um die vielen Bezüge zu entdecken und zu verstehen. Der Übersetzerin Beate Rausch dürfte das hin und wieder schlaflose Nächte bereitet haben, sie hat aber ein sehr überzeugendes Ergebnis geliefert.
Es gibt Sätze, die auch in meinungsführenden Kreisen in Deutschland zu Klagen führen können: „Die Nuttigkeit der russischen Frau, die Kehrseite ihrer Schamhaftigkeit, hat dieses grelle Buffet-Restaurant-Kolorit. Schenk ein, bring her, bedien mich. Nuttigkeit ist der Weißmeerkanal des russischen Lebens.“ Was an dieser Stelle bei sensiblen Wesen den Blutdruck in die Höhe zu treiben geeignet wäre, ist nicht die Erwähnung des Weißmeerkanals.
Auch Überlegungen zur Geschichte könnten, sogar eher in Deutschland als in Russland, zum Versuch führen, Kreativität und Freiheit der Kunst zu unterbinden: „Letzten Endes hat Hitler Russland geholfen. Er hat für Russland zwar keinen solchen Stahlbetonstatus moralischer Unantastbarkeit geschaffen wie für die Juden, aber nichtsdestoweniger – er hat einen geschaffen.“
Selbstverständlich finden sich auch Reflexionen zur Weltpolitik: „Die Chinesen stehen bald auf dem obersten Treppchen, sie überschwemmen die Märkte der Welt, und wir können rein gar nichts. Wir können bloß unser Inventar verkaufen, von Öl bis zu Prostituierten.“
Das allerdings hat offenbar auch zu Bedeutungsverlust bei den Verantwortlichen geführt: „Ein Russland, das seine Unantastbarkeit eingebüßt hat, flößt keinem Respekt ein.“ Wieder Respekt zu gewinnen hat ja der derzeitige Präsident offenbar zu seiner Aufgabe gemacht. Und so gilt auch folgender Satz heute wie vor zwölf Jahren:
„Die Neigung zur Selbstzerstörung, zur Selbstvernichtung ist weitaus bedeutsamer als alle andere volitiven Charaktereigenschaften des Grauen. Wenn man berücksichtigt, dass die Neigung zur Selbstzerstörung gefährlich für die Umgebung ist, genauer gesagt, für die ganze Welt, denn der Graue ist das Produkt der Fäulnis vieler Millionen, so gibt es einen Grund, sich auf ihn zu konzentrieren.“
Könnte aber auch sein, dass Russland „nicht vom Präsidenten, nicht von der Regierung und nicht, wie die Rentner behaupten, von der CIA regiert, sondern von eben jenem, wie soll ich mich ausdrücken, omnipräsenten Körper“. Insofern deutet die Figur des Grauen über den Staatschef hinaus, schließt alle ein, das ganze Volk – zumindest den Teil, der mit dem Grauen oder wem auch immer in die Schlacht um Respekt zieht.
Anklage und Liebeserklärung zugleich
Insgesamt ist das Buch eine Anklage gegen die Russen und ihr Land und eine Liebeserklärung zugleich: „Bekanntlich ist der Scheißegalismus die russische Nationalphilosophie“, heißt es. „Im Grunde ist uns wirklich alles egal. Das ist keine leere Phrase, sondern die Anleitung zum Nichthandeln.“ Das Ergebnis: „Zynismus oben und Scheißegalismus unten – so sieht der russische Tod aus.“ Und: „Der Scheißegalismus hat die russische Demokratie ‚kaltgemacht‘.“
Gibt es eine Zukunft, eine bessere gar? Der Erzähler ist offenbar skeptisch:
„Wir träumen Russland nur. Das ist die Quittung für den offenen Rassismus des russischen Durchschnittsbürgers, für den Zynismus von denen da oben und den Scheißegalismus von denen da unten, es ist die Vergeltung für unser ganzes auf ungeheuerliche Weise gelebtes Jahrhundert, von Lenin bis heute.“ Der Menschen in Russland haben uns immer der Illusion hingegeben: „Wird schon werden. Irgendwie werden wir uns schon durchwursteln. Mithilfe von Diebstahl, Gott und dem Westen. Wir waren im Sturzflug in den Abgrund unterwegs, taten aber so, als würden wir dahingleiten. Wir plusterten uns auf und markierten die Großmacht. Wir wollten niemals zugeben, wie tief wir gefallen waren.“
Und jetzt, im gegenwärtigen Russland, streben der Präsident, der Graue und die Silowiki wieder nach oben. Und sie tun viel dafür, dass das Volk mitmachen soll bei der Rückkehr zur Großmacht. Wer wird siegen: Scheißegalismus oder Eigenmächtigkeit? Selbstbestimmung oder Selbstvernichtung? Oder doch Zynismus?
Uns hilft nur beten.
Enzyklopädie der russischen Seele
Aus dem Russischen übersetzt von Beate Rausch