Empathie für Russland
Gregor Schöllgen und Gerhard Schröder kritisieren den Westen und zeigen viel Verständnis für Russland
Es ist ja bekannt, dass Russlands Regierende alternative Ansichten auf die Krisen des Kontinents hegen; und das Volk auf seinem Biedermeiersofa folgt ihnen mehrheitlich, irregeleitet und eingelullt von Faktenverdrehern und Meinungsmachern. Auch das Publikum im weisen Westen, das – kommod auf dem Kanapee kuschelnd – die Nachrichten in der Glotze einschaltet oder eine Zeitung studiert, wird mit unumstößlichen Wahrheiten versorgt, westlichen. Auf dem europäischen Diwan werden, so scheint’s, Ost und West nie zueinanderkommen.
Sowieso ist die Welt so kompliziert geworden, sie „liegt im Koma“. Eine „epidemisch Zunahme von Krisen, Kriegen und Konflikten“ wollen Gregor Schöllgen und Gerhard Schröder feststellen. Und der Westen verharrt in Agonie.
Schluss mit dieser selbstsicheren Schläfrigkeit, rufen der ehemalige Bundeskanzler und dessen Biograf, von Beruf Historiker. „Letzte Chance“ nennen sie ihr Buch, mit dem sie sich nicht weniger zur Aufgabe gestellt haben als „eine neue Weltordnung“ zu skizzieren. „Wir sagen, wie es weitergehen muss“, steht ganz vorn sehr ambitioniert und selbstbewusst im elf Zeilen kurzen Vorwort.
Zuerst wird ordentlich ausgeteilt, durchaus wortgewaltig, hin und wieder boulevardesk. Die USA wird abgewatscht, und zwar nicht wegen Trump. Ihre Schelte grenzt manchmal an das, was von Transatlantikern Antiamerikanismus genannt wird. Auch die EU kriegt ihr Fett ab, Brüsselbashing ist heutzutage wohlfeil. Dann folgen die Bedrohung China, Analysen über Asien, Nahost, die Kurden und Afrika; nichts wird ausgelassen. Und im Mittelpunkt aller Konflikte steht so etwas wie die Mutter aller Weltenkonflikte, das gute alte Europa und die ebenfalls alte NATO. Und natürlich Russland. Für Russland gibt‘s enorme Empathie.
Die EU: "politischer Autismus"
Beginnen wir mit der Europäischen Union: In der EU sei alles „politischer Autismus“, „fauler Kompromiss“, ein „Sammelsurium partikularer Interessen und Ausnahmeregelungen“, „Stückwerk“, ein Haus ohne Fundament, konstatieren die Autoren. Während die drängendsten Probleme „in den Akten der Brüsseler Amtsstuben Staub ansetzen“.
Kernthema ist die angestrebte gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Europa sei noch immer von der NATO und den USA abhängig, gefangen in einem Bündnis, dessen Sinn und Zweck nach dem fast geräuschlosen Verschwinden der Sowjetunion erfüllt waren, so die Autoren. Dass die NATO 1991 bestehen blieb, sich sogar ausdehnte, habe „weitreichende Folgen“.
Das betrifft vor allem das Verhältnis der EU zu Russland. Dem Westen, so die Autoren, habe sich schon vor Jahrzehnten das „genuin defensive Motiv“ der Sowjetunion nie erschlossen – nämlich die Installierung eines Cordon sanitaire aus westlichen Sowjetrepubliken und Satellitenstaaten, die Aufrüstung (bis zum erzwungenen Ruin) und die laute Rhetorik. Schöllgen und Schröder verstehen das als „Reaktionen auf eine Serie offensiver Maßnahmen des Westens“, beginnend mit der eigenen Währung, der Gründung der DDR und des Warschauer Pakts.
Am Ende siegten die USA und der Kapitalismus, die Sowjetunion schrumpfte zu Russland, eine Verzwergung in jeglicher Hinsicht: an Fläche, an Bevölkerung, wirtschaftlich, militärisch, politisch. Der Einfluss der USA dehnte sich nach Osten aus, bis 200 Kilometer vor Sankt Petersburg und – gegen deutschen Rat – bis in die Ukraine und Georgien.
Das überholte Feindbild des Westens: Russland
Deutschland und die EU hätten die „militärische Vorherrschaft“ sowie „politische Vormundschaft“ der USA auch nach der Umwälzung im Osten hingenommen, beklagen die Autoren. Hingenommen hat auch Russland etwas, nämlich die Expansion des US-Einflussbereichs. Zunächst wehrlos habe Moskau der „Eskalation“ gegenübergestanden, auch einem überholten Feindbild des Westens insgesamt: Bis heute bleibe Russland „der potentielle Gegner, der die Sowjetunion bis zu ihrem Untergang tatsächlich gewesen war“.
Dass die Amerikaner nicht wie die Russen abzogen, sei eine der „folgenreichsten Entscheidungen der jüngsten Geschichte“. Bis heute verfolge die USA mit der NATO, was deren erster Generalsekretär in den fünfziger Jahren als deren Zweck definierte. Sie sei gegründet worden, „to keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down”.
Noch immer verteidigten die USA – „die Vorhut von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten“, spotten Schröder und Schöllgen – ihre Wirtschafts- und Handelsinteressen kompromisslos und mit alle Mitteln, auch militärischen, und wenn nötig auch gegen die Vereinten Nationen. In der eigenen Hemisphäre, auch in Ostasien und Westeuropa, hätte Washington immer klar gesagt, „wer der Vormund war und wer das Mündel“.
Russlands „Flucht nach vorn“
Für Russland heiße das: „Weil die NATO bestehen bleiben musste, hatte Russland weiter den Gegner abzugeben, der die Sowjetunion einmal gewesen war; und damit Deutschland beobachtet und Russland kontrolliert werden konnten, mussten die USA in Europa bleiben.“ Als Zeuge für diese These wird Emmanuel Macron aufgerufen. Er sei 2019 der erste führende Repräsentant des Westens gewesen, der darauf hingewiesen habe.
Der Kreml sehe sich durch diese Kontinuität sowie eine „massive politische, wirtschaftliche und militärische Offensive seitens der NATO und der EU“ in die Defensive gedrängt. Putin, zunächst auch im Westen als Reformer und Modernisierer angesehen, habe sich dagegen gewehrt. Er habe die „Flucht nach vorn“ als Ausweg gesucht, nicht nur in der Ukraine als „Reaktion auf die westlichen Offensiven vor der russischen Haustür“, sondern auch im „Schulterschluss“ mit China.
Ukraine, Pipeline und Sanktionen
Die Annexion der Krim und die Abtrennungen in der Ostukraine nennen die Autoren zurecht völkerrechtswidrig. Zu erwarten, dass Russland seine Außenpolitik wegen Sanktionen ändern könnte, sei „weltfremd“. Wirtschaftssanktionen seien ebenso sinn- wie wirkungslos, sie beeindruckten Russland nicht. Aufzulösen sei nur der Konflikt im Osten; dort gebe es Verhandlungspotenzial. Die Krim werde Putin nicht abgeben. Wie auch in Belarus wäre eine Preisgabe ein Beleg der Schwäche. Wer Schwäche zeigt, sei angreifbar. Um das zu kontern, gehe Putin in die Offensive – bis nach Syrien.
Für den Streit um die Pipeline Nord Stream 2 haben Schröder und Schöllgen kein Verständnis: Die USA seien schon bei früheren Gasverträgen, vereinbart ebenfalls in Zeiten weltpolitischer Verwerfungen – Opposition gewesen: wie heute wegen der angeblichen Abhängigkeit von Russland und weil Russland die Einnahmen für Aufrüstung nutzen könnten. Unternehmen zu drohen, die Rohre verlegen, widerspreche den Spielregeln des freien Markts. Und schließlich: Förderer und Lieferanten von Gas, Öl und anderen Rohstoffen seien häufig „in ausgesprochen unsicheren Weltgegenden beheimatet“.
Der Plan: NATO weg, EU neu bauen
Schließlich kehren wir zurück zu den Krisen und Kriegen auf dieser Welt. Wie also wollen die Autoren, wie eine schlichte Übersetzung aus dem US-amerikanischen es formuliert, die Welt zu einem besseren Ort machen? Nun, wo die Not am größten ist, da wächst das Rettende auch, heißt es. Und wo ist die größte Not? In Europa, dem Zentrum der Erde. Von dort soll Rettung ausgehen.
Um es kurz zusammenzufassen: Die Nato muss aufgelöst werden, in der sich ohnehin etliche Mitglieder als Gegner betrachten. Die EU muss eine „mit eigenen Ressourcen einsatzfähige, umfassend integrierte europäischen Armee“ aufbauen, die bei globalen Einsätzen „die Sprache der Macht sprechen“ kann (Josep Borrell). Eine Europäische Armee sei das „Gebot der Stunde“. Eine „lebendige Partnerschaft“ mit den USA darf gern erhalten werden. Und die EU braucht eine „grundlegende Reform“ – ein Widerspruch in sich.
Der Weltrettungsplan von Schröder und Schöllgen ist wenig konkret, eine Auflistung von Schlagworten, über Jahre gehört, das Schlusskapitel noch einmal mehr Befund als Blick nach vorn. Vermutlich ist es nicht so einfach, den grassierenden Nationalismus zu brechen, den „Neubau Europas“ zu bewerkstelligen („erst das Fundament, dann das Haus“) und eine „neue Weltordnung“ aufzubauen, eine „Solidargemeinschaft der globalen Welt“. Europazentrisch wie die Ideen sind, werden dafür vermutlich nicht alle zu gewinnen sein.
Und was sollen wir mit Russland machen? Voraussetzung für Dialog sei es, den Partner nicht an den Pranger zu stellen und überheblich zu behandeln, was die USA und die EU nicht nur gegenüber Russland getan hätten. „Ohne ein belastbares Verhältnis zu Russland“, schreiben die Autoren, „hat Europa keine Zukunft.“ Noch so ein Satz aus dem Setzkasten der Diplomatie.
Und doch: Man mag die Argumente und Schlüsse der Autoren bezüglich Russlands einseitig nennen. Aber als Gegengewicht zur gängigen Ignoranz in der Berichterstattung taugen sie doch.
Die OSZE hat sich 2015 einmal die Mühe gemacht, die grundlegend unterschiedlichen Narrative Russlands, des Westens und der Staaten dazwischen über die Entwicklung seit dem Fall des Eisernen Vorhangs bis zur Annexion der Krim und der Unterstützung von separatistischen Kräften in der Ostukraine durch Russland aufzuzeichnen. Ein erhellender Bericht, der geeignet gewesen wäre, Licht auf die selbstgewisse Sichtweise des Westens zu werfen. Aber dieser Bericht fand in den deutschen Medien keinen Niederschlag.
Das verständlich geschriebene Buch von Schröder und Schöllgen fasst den russischen Blick auf die Dinge zusammen. Was sollte daran falsch sein? Wer sich für Russland interessiert, sollte das Buch lesen. Einen verregneten Sonntag auf dem Sofa ist es allemal wert.
Letzte Chance
Warum wir jetzt eine neue Weltordnung brauchen