Migranten zwischen den Welten
Füchse, Trinker, Prostituierte: Russische Migranten erzählen über das Leben in Berlin
In Berlin leben und arbeiten viele russischsprachige Schriftsteller, die nicht so gut bekannt sind wie ihre Landsleute, die auf Deutsch schreiben. „Berlin bez maski“ („Berlin ohne Maske“): So heißt der Sammelband von russischen Erzählungen aus Deutschland, der Ende 2021 im renommierten Moskauer Verlag „Inostrannaja literatura“ erschienen ist. Wer sind diese Schriftstellerinnen und Schriftsteller, was bewegt sie und wie sieht die Stadt Berlin von der anderen sprachlichen Perspektive aus?
Einer von ihnen ist Michael Schleicher. Er verbrachte die ersten zwölf Jahren seines Lebens in einer winzigen Stadt in der Nähe einer Urananreicherungsanlage im Ural, ganz in der Nähe von Jekaterinburg, der nach Katharina der Großen, russische Zarin aus dem deutschen Fürstentum Anhalt-Zerbst, genannten Stadt. Als Michael 1975 zur Welt kam, hieß Jekaterinburg Swerdlowsk. Der Ort, in dem er aufwuchs, hatte keinen richtigen Namen und hieß einfach so: Swerdlowsk 44.
Dann zog die Familie erstmal in die Stadt mit einem richtigen Namen: Saretschny. Dort stand das erste kommerzielle Kernkraftwerk Belojarsk.
Nach Deutschland zog Michael 1996 mit seinen Eltern: Sein Vater ist Russlanddeutsche.
„Ich wollte eigentlich nicht fahren, meine Eltern wollten es. Mir gefiel es im Ural. Ich verbrachte dort viel Zeit mit dem Kinderclub Karawella, da sind wir gesegelt, haben gefochten und Journalismus gemacht. Ich hatte dort meine eigene Zeitung, eine Kinder- und Jugendzeitung. Meine Freunde und ich schrieben Erzählungen über Punks und publizierten sie dort. Ich hatte da viele Freunde“, so Schleicher.
Eine literarische Rollbahn
Mit zwölf Jahren schrieb Schleicher seinen ersten Roman. Aber der erste „echte“ Roman entstand im Sommer 1996 in Deutschland. Es war eine fantastische Geschichte über den Weg, der wie eine Rollbahn zwei Welten verbindet: die Deutsche und die Russische.
Eine literarische Rollbahn verbindet zwei dieser Welten seit Jahrhunderten. Anfang der 1920er-Jahre war die Stadt in dieser Sicht besonders wichtig: Berlin war das Zentrum der russischen literarischen Emigration. Viele bedeutende Schriftsteller und Dichter besuchten Berlin und arbeiteten hier: Hier lebten die Eltern von Boris Pasternak, Maxim Gorki schrieb in Bad Saarow Biografien von Leo Tolstoi und Anton Tschechow.
Diese Tradition setzt sich fort. Berlin hat immer noch eine breite und bunte russischsprachige literarische Szene, wo für jeden Geschmack ein Trinkbruder und Gesprächspartner zu finden ist und russischsprachige Literaturschaffende angehört und verstanden werden.
Nun haben sich 14 Vertreterinnen und Vertreter dieser Szene zusammengemacht und den Sammelband veröffentlicht: „Berlin ohne Maske“. Das Buch enthält 14 Erzählungen.
Die Wege von den Autoren und Autorinnen nach Berlin sind unterschiedlich, so wie die Berufe: Es gibt Musiker, Informatiker und Journalisten. Gemeinsam ist ihnen allen der Wunsch, sich trotz ihres Lebens in Berlin auch auf Russisch zu äußern. Viele schreiben aber auch auf Deutsch.
Immer noch ein bisschen Ausländer
Wer die Erzählungen liest, wird feststellen, dass die Autorinnen und Autoren, obwohl sie schon lange in Berlin leben, innerlich immer noch ein bisschen Ausländer bleiben, der eine mehr, die andere weniger. Darauf weisen zahlreichen Zitate aus bekannten russischen Kinderbüchern hin, auch die Erinnerungen, die nur russischen Lesern bekannt sein können.
Eine Journalistin aus Russland, die seit Jahren in Berlin lebt, kann fast den Eindruck gewinnen, dass diese Erzählungen von Menschen auf einem anderen Planeten geschrieben worden sind. Auf einem Planeten zwischen zwei Welten – dem Deutschen und dem Russischen.
Es ist ein Planet, auf dem Füchse wie Fußgänger durch die Straßen von Berlin schlendern, betrunkene russische Nachbarn (in einem Mehrfamilienhaus in Berlin), Leergut sammeln und bei Kälte im Pyjama durch die Straße wandeln, und wo russische Sexarbeiterinnen auf der Oranienburger Straße stehen.
Außerdem ist es ein Planet, wo man ständig FFP-2-Masken trägt. Die Covid-Pandemie und die Bekämpfung in Deutschland sind das verbindende Thema des Sammelbands. Diese Zeit, die längst nicht vorbei ist, hinterlässt im Leben jedes Menschen Spuren und schafft Erinnerungen. Die sind nun in einem Buch genau protokoliert.
Einerseits ist „Berlin ohne Maske“ ein Blick russischer Migranten auf Berlin in Pandemie-Zeiten. Andererseits ist es ein Blick auf diese russischsprachigen Einwanderer selbst: Sie sind seit langem in Deutschland und haben sich gut angepasst, konnten sich aber nie richtig assimilieren und zu Deutschen werden.
Sie stehen auf einer Brücke zwischen zwei Welten und lesen nun nicht nur moderne russische Bücher oder die Gedichte von Ossip Mandelstam, sondern auch die Romane von Herta Müller oder Werke von Hannah Arendt. Und manchmal lästern sie auch: Mit den russischen Freunden über die Deutsche und mit den Deutschen – natürlich über die Russen.