Marina Zwetajewa: Werden einer Dichterin
Ilma Rakusa legt den vorzüglich edierten zweiten Band von Marina Zwetajewas Gesammelten Werken vor
Es ist ein in jeder Hinsicht gewichtiger Band. Sein poetischer Titel, „Lichtregen“, ist einem Essay von Marina Zwetajewa entliehen, der hier erstmals in deutscher Sprache vorgelegt wird. Wenn Erkenntnisse mit „Licht“, „Erleuchtung“ in Verbindung gebracht werden können, so ist dies auch für uns, die wir diesen Band in Händen halten und lesen, die passende Metapher.
Ilma Rakusa, feinsinnige Sprachkünstlerin, kongeniale Übersetzerin und akribische Philologin gleichermaßen, legt nach ihrem fulminanten Auftakt mit dem ersten Band von Marina Zwetajewas „Gesammelten Werken“ („Ich schicke meinen Schatten voraus. Prosa“; 2018) nun den zweiten vor: „Lichtregen. Essays und Erinnerungen“. Mehr als 900 Seiten, sachkundig kommentiert und mit einem herausragenden Essay der Herausgeberin versehen, dem selbst literaturwissenschaftlicher und literarischer Rang zukommt.
Jahrzehntelang war das umfangreiche Werk Zwetajewas in Russland bzw. in der Sowjetunion -– wenn überhaupt – nur auf einer unzuverlässigen Textbasis zugänglich. Die Situation änderte sich erst mit der großen Werkausgabe im Verlag Ellis Lak Anfang der 1990er-Jahre. Zu diesem Zeitpunkt wurde klar, welche Texte und Textfragmente Zwetajewas in sowjetischer Zeit der Zensur zum Opfer gefallen waren – eine Tatsache, die bei einer so eigenwilligen Dichterin kaum zu verwundern mag. Weder von ihrer familiären Herkunft her noch durch ihre Emigration, ihr tragisches Lebensschicksal oder gar angesichts der Ästhetik ihrer Werke war sie mit der sowjetischen Ideologie kompatibel. Verfehlt wäre aber, Zwetajewa mit ihren Texten überhaupt in ein Kategoriensystem pressen zu wollen, am wenigsten in eines, das man als „antisowjetisch“ bezeichnet.
„Maßlos in einer Welt des Maßes“ leben und dichten zu wollen, ja offenbar zu müssen, heißt es in einem ihrer lyrischen Texte aus dem Jahre 1923. Zwetajewa lebt zu diesem Zeitpunkt in Prag. Sie ist 30 Jahre alt, eine ihre beiden Töchter ist in den Revolutionswirren verhungert, einige Monate Emigrationserfahrung in Berlin liegen bereits hinter ihr, die schwierigen Jahre in Paris stehen noch bevor, auch die dramatische Rückkehr in die Sowjetunion 1939, Verhaftung von Ehemann und Tochter, völlige Isolierung und schließlich 1941 die Flucht in den Tod.
Die Chronologie als Schlüssel zum Verständnis
Mit „Lichtregen“ werden nun in vorzüglich edierten Form Zwetajewas Essays und Erinnerungen dem deutschsprachigen Publikum präsentiert. Einige der Texte werden erstmalig in deutscher Sprache zugänglich gemacht, die anderen, bereits vorliegenden Übersetzungen wurden nach der unzensierten russischen Textausgabe ergänzt und insgesamt überarbeitet.
Lichtregen
Essays und Erinnerungen (Gesammelte Werke Band 2)
Herausgegeben von Ilma Rakusa
Übersetzt von Nicola Denis, Elke Erb, Rolf-Dietrich Keil, Hans Loose, Angela Martini-Wonde, Olga Radetzkaja, Ilma Rakusa und Ilse Tschörner
Texte, die zerstreut in zum Teil vergriffenenen älteren Ausgaben vorhanden waren, liegen nun also als Einheit vor, ganz im Sinne Zwetajewas Diktum: „Die Chronologie ist der Schlüssel zum Verständnis.“ Oder, dem Absolutheitsanspruchs einer Marina Zwetajewa folgend: „Kein Recht, über einen Dichter zu urteilen, hat der, der nicht jede Zeile von ihm gelesen hat. Schaffen ist Kontinuität und Allmählichkeit.“
Aus der Abteilung „Erinnerungen an Zeitgenossen“ sollen nur zwei Texte herausgegriffen werden, beide zum ersten Mal ins Deutsche übertragen und Größen des Silbernen Zeitalters gewidmet: Valerij Bjrusow und Konstantin Balmont. Die „Notizen“ über Brjusow, mit kaum verhüllter Ironie als „Held der Arbeit“ tituliert und zunächst eine „leidenschaftliche, kurze Liebe“ Zwetajewas, sind vor allem ein Text über Poesie: „Um es klar zu sagen, Brjusows ganzer Anschlag auf die Poesie war ein Versuch mit untauglichen Mitteln. Ihm fehlte die Grundlage, um Dichter zu werden (nämlich: als solcher geboren zu sein); er ist Dichter geworden. Überwindung des Unmöglichen.“ Und an anderer Stelle: „Ein Dichter des Willens.“
An diesem Brjusow, „Wille, Ochse, Wolf“, entfaltet Zwetajewa ihr eigenes Sein als „Dichter“, das sie als Existenzform begreift – in der Realität des Literaturbetriebs kritisch bewertet von Brjusow, der Zwetajewa mit herablassenden Rezensionen („Gedichte […] ohne aktuellen Bezug und Nutzen“) das Gefühl vermittelt, „ein Dummchen“ zu sein, und von dem sie sich mit beeindruckendem Mut freischreibt:
Ich vergaß: Ihr Herz ist ein kleines Licht,
Kein Stern! Eine Funzel!
Ihre Verse bestehen aus Nichts als Papier,
Uns aus Missgunst Ihre Kritik.
Früh vergreist, erschienen Sie einmal doch mir
Als großer Dichter, als Wunder!
Konstantin Balmont, dem Gegenpol zu Bjrusow („Man braucht nur auf den Klang der Namen zu hören. In Balmont schwingt etwas Offenes, Sperrangelweites. In Bjrusow dagegen: Knappheit […], Geiz, das auf sich beschränkte Selbst“), scheint Zwetajewa zunächst fast hilflos gegenüber zu stehen. Für „Ein Wort über Balmont“, schon vom Umfang nur ein Bruchteil der „Notizen über Brjusow“, ist nur eines zentral: „Balmont ist Dichter, und sonst nichts. Balmont = Dichter: die Gleichung geht auf.“ Von ihm aus werden Gedanken zu Kunst und Künstlerexistenz entfaltet und mit geradezu spühender Erzähllust Dialoge, Begegnungen, Erinnerungen präsentiert.
Bekenntnisse zum Leben in der Kunst
Beide Texte zeugen von der Zwetajewa-typischen Radikalität, sind entblößend und selbstentblößend gleichermaßen, tabulos und stellenweise verstörend. Es lässt sich das Werden einer Dichterin erahnen, die – obwohl auf ihrer Selbstbezeichnung als „Poet“ beharrend – ein Bewusstsein entfaltet, das man heute als feministisch bezeichnen würde.
Unter den „Essays“ ist der titelgebende Text „Lichtregen. Poesie des ewigen Wagemuts“ eine Hommage an die Lyrik Pasternaks, „den einzigen Zeitgenossen, für den mein Brustkorb nicht ausreicht.“ Für Pasternak-Liebhaber sind hier viele seiner von Rakusa übertragenen Gedichte zu entdecken – in der kongenialen Interpretation Marina Zwetajewas.
Erinnerungen und Essays – Texte über Natalja Gontscharowa, Mandelstam, Woloschin, Belyj, Kusmin, Gumiljow, Rilke, auch über Puschkin, Goethe; Schukowski… Immer verbunden mit Autobiographischem und radikal Subjektivem, leidenschaftlichen Reflexionen über zeitlose poetologische Fragen. Bekenntnissen zu einem Leben, das nur in der Kunst lebbar scheint und dadurch zutiefst im Leben verhaftet ist.
Keine einfachen Texte, oft in aphoristischer Weise verdichtet, und doch Texte, die man nicht nur allen an russischer Literatur und Kultur Interessierten ans Herz legen möchte, sondern vor allem den Studierenden der Literaturwissenschaft: Sie können mehr über Literatur daraus lernen als aus den meisten wissenschaftlichen Arbeiten. Nicht zuletzt darüber, wie man Textausgaben gestalten sollte: so wie Ilma Rakusa.
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Elisabeth Cheauré: Liebe und Leidenschaft: kompromisslos. Ralph Dutlis kongeniale Übertragung von Gedichten Marina Zwetajewas
dies.: Der Roman einer Liebe. Zeitdokument und grenzenlose Intimität: Der Briefwechsel zwischen Boris Pasternak und Marina Zwetajewa