Leben zwischen zwei Kulturen

Auch in ihrem neuen Roman „Der verlorene Sohn“ sucht Olga Grjasnowa den Ort, der Heimat genannt wird

Olga Grjasnowa

Bereits in ihrem ersten Roman „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ heißt es: „Wonach ich mich sehnte, war ein vertrauter Ort.“ Darin erzählt Olga Grjasnowa die Geschichte von Maschas Suchen und Finden ihrer Heimat.

Sie ist ein Sprachtalent, arbeitet als Übersetzerin für die Vereinten Nationen. Fünf Sprachen spricht sie fließend, aber in keinem Land fühlt sie sich zuhause. Die Frage, wo ist Heimat, was bestimmt sie, ist das Thema, das Olga Grjasnowa von ihrem bisherigen Leben gestellt bekommen hat. Um sie zu beantworten, hat sie auch ihren jüngsten Roman verfasst: „Der verlorene Sohn“.

Die Autorin ist 1984 in Aserbaidschans Hauptstadt Baku als Tochter russisch-jüdischer Eltern geboren. 1996 verließen die Eltern ihre Heimat und gingen als Kontingentsflüchtlinge nach Hessen. Ihr Ausbildungsweg führte Olga Grjasnowa über die Literaturinstitute in Leipzig und Moskau zur Literatur. Es scheint, als hätte sie sich zuerst das nötige Handwerkszeug holen wollen, um über ihr Thema zu schreiben.

Überraschend an ihrem neuen Roman ist, dass er eine Geschichte aus dem 19. Jahrhundert erzählt, deren Protagonisten historisch belegt sind. Die drei vorangegangenen Bücher lebten von der Gegenwärtigkeit und Direktheit.

In ihrem Roman "Gott ist nicht schüchtern“ von 2017 hat sie Teile der Biografie ihres syrischen Ehemanns verwendet. Sie erzählt von zwei Syrern, sie: Schauspielerin, er: Arzt, die der Bürgerkrieg in ihrer Heimat um alles gebracht hat. Sie müssen in lebensbedrohlicher Situation von vorn anfangen.

Geisel der Russen

Ein ähnliches Schicksal hat auch Jamalludin in „Der verlorene Sohn“. Er ist der älteste Sohn des mächtigen Imam Schamil, der von 1797 bis 1871 ein charismatischer Führer muslimischer Völker im Nordostkaukasus war. Im Kaukasischen Krieg kommt Schamil nach nahezu dreißig Jahren andauernder Expansionspolitik der Russen in schwere Bedrängnis. Seine Truppen sind geschwächt, die Kämpfer müde. Der Vater muss für die Zeit der Friedensverhandlungen seinen Sohn als Geisel den Russen übergeben.

Olga Grjasnowa

Der verlorene Sohn

Aufbau Verlag
383 Seiten
Hardcover
22 Euro
ISBN 978-3-351-03783-3
Zum Verlag

Doch die haben kein Interesse, Jamalludin wieder zurück zu seiner Familie zu lassen. Ihr Plan ist ein anderer. Sie wollen den Neunjährigen zu einem Russen machen, ihn so erziehen, dass er seine Heimat, seine Eltern, seinen Glauben mehr und mehr vergisst. Zar Nikolai selbst nimmt sich seiner an und sorgt dafür, dass es Jamalludin am Hof in St. Petersburg an nichts fehlt. Der Junge erlernt zunächst die russische Sprache, dann Französisch und Englisch. Als Kadett wird er im Kriegshandwerk unterwiesen. Er gibt nach anfänglicher Zurückhaltung den Widerstand auf und nimmt alle Angebote an, die ihm erreichbar sind. Hat er sich in der ersten Zeit noch gegen die Russifizierung gewehrt, kann er sich bald das Bild seiner Mutter nicht mehr vor Augen führen, entfernt sich von der Autorität seines Vaters und von seinem muslimischen Glauben.

Verlust der Erinnerung

Die Jahre vergehen. Als er herangewachsen ist, wird die Heirat mit der Tochter einer reichen russischen Familie geplant. Es kommt der Tag, da besitzt er kaum noch Erinnerungen an sein Zuhause, obwohl er sie in der ersten Zeit in seinem Herzen gehortet hat, damit sie möglichst lange reichen. Warum erfährt Jamalludin diese Extrabehandlung, warum wird seine Freilassung vom Zaren so lange hinausgezögert?

Im Roman heißt es bereits im Anfangsteil: „Jamalludin war bereits jetzt ein äußerst wertvolles Pfand, doch wenn der Zar es schaffen würde, ihn zu einem Verbündeten Russlands heranzuziehen, würde er ihn als einen der loyalen Alliierten auf den kaukasischen Thorn setzen können. Der Plan war genial, befand der Zar.“

Weil die Strategie des russischen Hofs darin besteht, Jamalludin mit Glanz und Pomp zu bestechen, nimmt die Erzählung schnell märchenhafte Züge an. Olga Grjasnowa tauscht die Direktheit eines Stoffs aus der Gegenwart in diesem Roman gegen einen historischen ein. Sie hat ihrem Erzählen diesmal ein Kostüm angelegt, weil sie eine Parabel im Sinn hat, die über den Umweg von Geschichte auf Gegenwart zielt. Auch auf ihre eigene Vita. Wie lange lässt sich Herkunft als Heimat speichern, wie lange ist Olga Grjasnowa Tochter einer aserbaidschanischen Familie?

Vom Anfang ihres Schreibens an nennt sie sich berechtigt eine deutsche Schriftstellerin, denn ihre Literatur ist in deutscher Sprache verfasst, der Sprache des Landes, in dem sie nunmehr 25 Jahre lebt. Sie nimmt sich in ihren Romanen einer Frage an, die in unserer multiethnischen Welt die Existenz vieler betrifft. Was macht das Leben zwischen zwei Kulturen aus einem Menschen?

Die Befreiung?

Lange verharrt der Roman bei den Verführungskünsten, die aufgeboten werden, um Jamalludin auf die russische Seite zu ziehen. Dass Olga Grjasnowa dabei nicht immer den Abschweifungen ins Märchenhafte entgeht, beinah den Fortgang der Geschichte verpasst hätte, ist nicht zu übersehen: „Alles hier, die ganze Pracht, das ist so verführerisch, nicht wahr? Der Reichtum, die Etikette. Auch der Hof macht es einem leicht, und man bemerkt gar nicht, wie die Falle zuschnappt.“  

Aber sie schnappt nicht zu. Gerade als man sich als Leser zu fragen beginnt, wohin sich der Roman „Der verlorene Sohn“ noch wenden wird, nimmt die Handlung eine überraschende Entwicklung. Nachdem Jamalludins sich anscheinend ohne Rest in einen jungen Russen verwandelt hat, trifft die Nachricht ein, dass sein Vater Imam Schamil zwei georgische Prinzessinnen als Geisel zum Austausch gegen seinen Sohn genommen hat.

Plötzlich steht die Frage, als wen erhält der Vater seinen Sohn nach mehr als 15 Jahren Exil zurück? Kann Jamallludin jemals wieder zu einem muslimischen Kämpfer werden, der das Imanat seines Vaters gegen Russen verteidigt? Welche Werte, welche Kultur, welches Gefühl für Heimat führen ihn fortan durch sein Leben im Kaukasus?

Die Antwort, die Olga Grajasnowa auf diese Frage gibt, sei hier nicht verraten. Vielleicht hat sie am Ende des Romans auch keine überzeugende, aber es bleibt ihr Verdienst, diese überaus gegenwärtige Frage gestellt zu haben. In „Der verlorene Sohn" mit einem historischen Stoff.

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