Die adlige Genossin und Stalins Bauleiter

Svetlana Lavochkinas „Die rote Herzogin“ erzählt über den Schmelztiegel Ukraine in den 1920ern

Svetlana Lavochkina
Ihre Sprache verteidigt den Lebenswillen jeder Figur: Svetlana Lavochkina

Am Ende des Romans füllt der Hauptmann das Hinrichtungsprotokoll aus, und auch dem Leser erstirbt die Hoffnung, dass die Figuren des Romans dem Lagerleben entkommen könnten. Das Lager ist eine der größten Baustellen der Sowjetunion in den 1920er-Jahren. Gebaut wurde der Dnepr-Staudamm im ukrainischen Zaporoschje.

Dort in der Ostukraine kam 1973 Svetlana Lavochkina zur Welt. Sie lebt seit 1999 als Lehrerin und Übersetzerin in Leipzig. Als Jüdin durfte sie mit ihrem Mann nach Deutschland übersiedeln. Nach dem Roman „Puschkins Erben“, der in den 1970er-Jahren in Zaporoschje spielt, hat sie jetzt einen zweiten vorgelegt. Unter dem Titel „Die rote Herzogin“ geht die Autorin mit ihren Figuren zurück in die Zeit des Baus des Dnepr-Staudamms.

Der Roman der ihre Bücher auf Englisch schreibenden Autorin ist bereits 2018 in den USA erschienen. Er kann schon deshalb in keinen direkten Bezug zum Krieg Russlands gegen die Ukraine stehen. Aber er bietet dem Leser ein aufschlussreiches Bild von der ukrainischen Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Bereits der stofflich verbundene Roman „Puschkins Erben“ tat dies. Svetlana Lavochkina blickte darin auf die vor dem sowjetischen Antisemitismus versteckten Wurzeln ihrer jüdischen Herkunft und führte das Zusammenleben im melting pot von russischen, ukrainischen, jüdischen Kosaken- und Romafamilien vor. Ein Zusammenleben, das die sowjetische Gesellschaft der 70er-Jahre, in denen „Puschkins Erben“ spielt, nicht begünstigt hat.

Es fand aber statt und überwiegend friedlich. Bereits in „Puschkins Erben“ tauchte die Familie Katz als Teil der Familiensaga auf. Mit „Die rote Herzogin“ bekommt sie einen eigenen Roman. Handlungszeit sind die Jahre 1927 bis 1932, die Zeit des Baus des Dnepr-Staudamms.

Titelfigur ist Darja Katz, eine rothaarige Schönheit blaublütiger Herkunft, die sich jetzt hinter ganz anderer Tätigkeit versteckt. Sie residiert als oberste Direktorin für Personalfragen und Propaganda am Dnepr-Staudamm. Ihre Pflicht ist es, auf der Baustelle für gute Stimmung zu sorgen. Sie dichtet von Zeit zu Zeit schwungvolle Losungen und Lieder für die Arbeit.

Ein Wandel zum Überleben. Aber es gelingt der Herzogin, die jetzt mit Genossin angesprochen wird, nicht. Immer wieder machen sie Erinnerungen ans Leben am Hof in Petersburg und an Einkaufstouren in Paris mit der Mutter schwankend. Mal ist sie obenauf und dichtet einen Propagandaspruch, mal sehnt sie sich nach Samt und Seide und weichen Betten.

Männer, auf die sie scharf ist, macht sie gefügig mit schwarzen Flecken in deren Personalakte, die sie verwaltet. Tief unter ihrem Sexhunger liegt Verzweiflung.

Der Ekel vor den Lebensbedingungen auf der Riesen-Baustelle treibt sie auch von ihrem Mann weg, den Stalin höchstpersönlich zum Bauleiter ernannt hat: „Die Gegensätze zwischen Darja und ihrem Mann, unüberwindbar geworden im Laufe eines Jahrzehnts und nun gekrönt auf dieser Baustelle, haben die letzten Reste gegenseitigen Begehrens aufgeleckt.

Die Revolution hat Darja nicht nur Schmuck, Adelstitel und Vermögen geraubt. Sie hat offenbar auch den vom Schicksal für sie bestimmten Prinzen verschlungen, bevor sie die Gelegenheit hatte, ihm zu begegnen.“ In jedem Mann, dem sie sich ins Bett legt, sucht sie nach diesem Prinzen.

Der Roman berührt, aber nicht, weil er das strenge Regime glaubhaft macht, das bei der Arbeit am Staudamm geherrscht hat. Diese Seite der Arbeitslager bleiben Hintergrund. Svetlana Lavochkina schildert, wie mit Chuzpe und Widerstandsgeist überlebt wird. Dass da, wo es nichts gibt, plötzlich alles vorhanden ist.

Showdown im Roman ist das Weihnachtsfest, das die rote Herzogin nach christlicher Sitte am 24. Dezember feiert und es ausrichtet, als geschähe es am Hof ihres Vaters. Als man gerade als Leser aufatmen und lächeln will, zeigt sich Stalins Geist, der dafür sorgt, dass das Fest mit eiserner Faust beendet wird.

Dieses Wechselbad der Gefühle verdankt sich der Kunst der Autorin wie der Übersetzerin Diana Feuerbach. Die Sprache des Romans verteidigt den Lebenswillen jeder Figur, vermag ihn aber vor der historischen Wahrheit nicht zu schützen. Der dabei entstehende Schmerz schafft eine zutiefst berührende Atmosphäre.

Der Roman „Die rote Herzogin“ verschafft dem Leser eine Begegnung mit der Ukraine als Romanstoff. Ob er gegenüber der Gegenwart des Kriegs eine Erleichterung bedeutet? Ja, denn es ist ein Roman, der nach 130 Seiten eine letzte hat.

Svetlana Lavochkina

Die rote Herzogin
Übersetzt von Diana Feuerbach

Voland & Quist
130 Seiten
20 Euro
ISBN 978-3-86391-323-6
Zum Verlag

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