Forschung ohne Russland
Seit dem Krieg in die Ukraine haben viele Forschungsprojekte die Kooperation mit Russland eingestellt
Eine Eiszeit wie derzeit hat der internationale Großforschungsbetrieb selbst in den Hochzeiten des kalten Kriegs nicht erlebt. Selbst das europäische Forschungszentrum Cern bei Genf, wo man die Neutralität der Wissenschaft immer hochgehalten hat und Physiker aus rund 85 Nationen stets einträchtig kooperiert haben, hat nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine jegliche Kooperation mit Russland gekappt.
Kein russischer Physiker forscht derzeit am Cern. Nicht einmal der Beobachterstatus ist Moskau geblieben. Cern hat ihn ausgesetzt und wird ihn Ende 2024 auslaufen lassen und nicht weiter verlängern.
Ähnlich entschieden sind die Reaktionen am Forschungszentrum Desy in Hamburg und am Hamburger Röntgenlaser XFEL sowie bei der Gesellschaft für Schwerionenforschung GSI in Darmstadt und der dort im Aufbau begriffenen internationalen Beschleunigeranlage FAIR.
Auch in Darmstadt waren russische Institutionen und Forschungseinrichtungen traditionell wichtige Partner. Russlands Anteil an dem internationalen FAIR-Projekt, dessen Kosten mittlerweile auf rund 3,1 Milliarden Euro gestiegen sind, belaufen sich auf 17,45 Prozent. Seinen Verpflichtungen sollte Russland vor allem mit Sachmitteln nachkommen. Zudem sollten eigens in Russland gefertigte Komponenten geliefert werden, darunter ein supraleitendes Magnetsystem für das Herzstück, den 1100 Meter langen Ringbeschleuniger SIS100.
So bleibt der bereits fertiggestellte Beschleunigertunnel fürs Erste „leer“. Die neue Lösung lautet: ohne Russland. „Alle russischen Bauteile können von erfahrenen Firmen in der westlichen Welt hergestellt werden, so dass keine technische und strukturelle Abhängigkeit mehr von Russland besteht“, sagt Pressesprecherin Berit Paflik. Allerdings bedeute das auch, dass es teurer wird und der Zeitplan kaum eingehalten wird. „Entsprechende Abschätzungen werden zurzeit evaluiert“, so Paflik.
Ausnahmen für junge und verfolgte Forscher
Damit jungen Forschern durch die Sanktionen keine Nachteile entstehen, wenn etwa Projekte wegfallen oder Publikationen nicht mehr fertiggestellt werden können, ist man in Darmstadt um Sonderregelungen bemüht. Eine eigens eingerichtete Taskforce kümmert sich um Härtefälle.
Auf der FAIR-Baustelle wie in den Büros und Experimentierhallen der benachbarten GSI sucht man heute vergeblich nach Physikern aus staatlichen russischen und weißrussischen Institutionen. Zugleich will man weiterhin die Türen für politisch verfolgte russische Forscher offenhalten. Den Menschen, die GSI und FAIR langjährig verbunden waren, wird beigestanden, betont man in Darmstadt.
Für viele deutsche Physiker ist es im Sinne der offenen Forschung bedauerlich, dass sie die Zusammenarbeit und den Kontakt zu allen russischen Forschern einstellen mussten. Haben sie doch mit russischen Kollegen seit Jahren vertrauensvoll zusammengearbeitet. „Gerade die betroffenen Nachwuchswissenschaftler sind in schwierige Situationen geraten, etwa Doktoranden, die an Experimenten beteiligt waren, die sie nun nicht mehr auswerten und abschließen können“, sagt ein Physiker der GSI im Gespräch.
Russen im Fusionsreaktor ITER
Bei der noch im Bau befindlichen Fusionsanlage ITER im südfranzösischen Cadarache ist die Situation eine ganz andere. Hier pflegt man die Zusammenarbeit mit Russland. Neben den USA, China, Japan, Südkorea, Indien und der EU war Russland von Anfang an fester Vertragspartner.
Derzeit wolle keines der Mitglieder ernsthaft den Vertrag kündigen, erklärt Hartmut Zohm vom MPI für Plasmaforschung in Garching. Würde man Russland verlieren, hätte man ernste Schwierigkeiten. Denn Russland muss gemäß der Absprachen noch eine der großen Poloidal-Magnetfeldspulen für den Fusionsreaktor liefern.
Ohne das Bauteil lässt sich der Tokamak-Reaktor, in dem Deuterium- und Tritiumkerne zu Heliumkernen verschmelzen sollen, nicht betreiben. Ersatz ist schwer zu beschaffen. Eine ausbleibende Lieferung würde den Zeitplan weiter verzögern.
Für ITER, der in drei Jahren betriebsbereit sein und zeigen soll, dass man mit kontrollierter Kernfusion Energie gewinnen kann, wäre das ein Katastrophe, so Zohm. Die Haltung zu Russland sei konsistent mit der Linie der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), die regelmäßig zu Expertentreffen einlädt und den Dialog offenhalten will. „Das führt zu der paradoxen Situation, dass westliche Wissenschaftler zwar offiziell den Kontakt mit Russland einstellen sollen, andererseits aber auf Expertensitzungen mit russischen Kollegen zusammentreffen“, sagt Zohm.
Niemand könne wissen, wie sich Russland künftig verhalten werde und ob nicht doch plötzlich jegliche Kooperation aufgekündigt werde – so wie das bei der Internationalen Raumstation angekündigt wurde. Ein solches Szenario will sich in Cadarache niemand vorstellen.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 9.9.2022 erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.