Wie die Mongolen Russland prägten
Die Mongolen sorgten dafür, dass Russland seit 750 Jahren eine „orientalisache Despotie“ ist
Der Schock, der sich tief in die kollektive Psyche des russischen Volkes eingraben sollte, ereignete sich vor ungefähr 750 Jahren, als die ersten mongolischen Reiter in den verschneiten russischen Wäldern auftauchten. Im Winter 1237/38 wurde Russland von den Mongolen erobert und verwüstet.
Das nächste Ziel des Mongolensturms war Mitteleuropa. 1241 wurden in der Schlacht bei Liegnitz, das heute in Polen liegt, ein schlesisches Ritterheer und in der Schlacht am Sajo-Fluss ein ungarisches Heer vernichtet. Der militärischen Macht der Hirtennomaden aus der asiatischen Steppe, die über die beste Kavallerie der Welt verfügten, hatte der Westen wenig entgegenzusetzen.
Wahrscheinlich hätten sie ganz Europa erobert, wenn nicht am 11. Dezember 1241 der Groß-Khan Ögödäi, Sohn des legendären Dschingis Khan, gestorben wäre. Dies veranlasste den mongolischen Heerführer Batü zum Rückzug.
Europa blieb verschont. Russland aber sollte 250 Jahre von den Mongolen beherrscht bleiben.
Hat das noch etwas für das heutige Russland zu bedeuten? Haben die Zaren, haben Lenin, Stalin und Putin etwas mit Dschingis Khan zu schaffen? Ja, sogar sehr viel, wenn man dem deutschen Sozialwissenschaftler Karl August Wittfogel (1896 – 1988) Glauben schenkt.
Wittfogel war zunächst Kommunist, emigrierte nach der Machtergreifung der Nazis in die USA und brach in der Zeit des Hitler-Stalin-Pakts mit der kommunistischen Bewegung. Er vertrat die These, Russland sei eine „asiatische Despotie“.
Darunter ist eine despotische Herrschaftsordnung zu verstehen, die folgende Merkmale aufweist: Individuelle Eigentumsrechte spielen nur eine geringfügige Rolle. Der größte Teil von Grund und Boden gehört dem Staat. Die herrschende Klasse definiert sich aufgrund ihrer Stellung im Staatsapparat und nicht durch Privateigentum an Produktionsmitteln. Separate Machtzentren außerhalb von Herrscherhaus und Staatsapparat, etwa ein selbstbewusster Adel, autonome Städte oder eine unabhängige Kirche, existieren nicht.
Russland und die „asiatische Despotie“
Der Begriff der „asiatischen Despotie“ ist sehr alt. Schon Herodot beschrieb die Macht- und Prachtentfaltung der persischen Gottkönige als eine den Griechen wesensfremde politische Ordnung. Aristoteles war der Ansicht, dass Asiaten eher als Europäer eine despotische Herrschaft ertragen würden. Ähnliche Gedanken finden sich bei Hobbes, bei Machiavelli, bei Montesquieu und bei Hegel.
Doch im Großen und Ganzen stammt Wittfogels Konzept von Karl Marx. Dieser hatte mit dem Begriff der „asiatischen Produktionsweise“ eine despotische politische Ordnung beschrieben, in der der Staat das ganze Wirtschaftsleben beherrscht. Marx begründete diese Staatsform mit den geografischen und klimatischen Bedingungen des Orients, die eine großräumige künstliche Bewässerung erforderlich machten. Nur ein zentralistisch-despotischer Staat sei imstande, solche Projekte durchzuführen. Klassische Beispiele sind das pharaonische Ägypten mit seiner Nil-Regulierung, das mesopotamische Zweistromland und das alte China.
Doch solche despotischen Ordnungen hat es auch in Ländern ohne zentralistische Bewässerungssysteme gegeben. Sowohl Marx als auch Wittfogel betrachteten Russland als „asiatische“ beziehungsweise „orientalische“ Despotie. Und beide führten ihre Entstehung auf die Mongolenherrschaft zurück.
In seiner Schrift „Enthüllungen zur Geschichte der Diplomatie im 18. Jahrhundert“ schreibt Marx: „Der blutige Schlamm mongolischer Sklaverei und nicht die rüde Herrlichkeit der Normannenzeit war Moskaus Wiege, und das moderne Russland ist nur eine Metamorphose dieses mongolischen Moskaus.“
Was ist von dieser These zu halten? Antworten auf diese Frage finden sich in den historischen Konstellationen, die ein Blick auf das Geschehen in Russland vom Mongoleneinfall bis heute zeigt.
Unter dem Joch der Invasoren mussten die russischen Fürsten den Mongolen-Khanen huldigen und waren ihnen tributpflichtig. Die Mongolen ernannten einen russischen Fürsten ihres Vertrauens zum Großfürsten, der die Oberaufsicht über die anderen Fürsten auszuüben hatte und an den später auch die Tributeinziehung delegiert wurde.
Dabei nutzten sie geschickt die internen Streitigkeiten innerhalb des russischen Adels für ihre Zwecke aus. Gelegentliche Strafexpeditionen reichten aus, um die mongolische Herrschaft zu sichern, ohne dass Russland dauerhaft militärisch besetzt werden musste.
Der kulturelle Einfluss der Mongolen auf Russland war äußerst begrenzt. Die Mongolen haben auch nicht versucht, den Russen ihre politischen Institutionen aufzuzwingen.
Die Mongolen und die russischen Großfürsten
Da die Mongolen im Gegensatz zum katholischen Westen, der den Russen kurze Zeit nach der Mongoleninvasion in den Rücken gefallen war, religiös tolerant waren und die russische orthodoxe Kirche protegierten, mögen sie vielen Zeitgenossen als das kleinere Übel erschienen sein. Man darf nicht vergessen, dass Großfürst Alexander Nevskij, der die in Russland eingedrungenen Deutschen Ordensritter 1242 auf dem Eis des zugefrorenen Peipus-Sees schlug und damit zum russischen Nationalhelden avancieren sollte, gleichzeitig eine Erfüllungspolitik gegenüber den mongolischen Herren im Osten betrieb.
Doch langfristig sollte sich die Herrschaft der Mongolen als verhängnisvoll für die weitere Entwicklung Russlands erweisen. Vorher hatte es föderalistische Strukturen und stabile Eigentumsverhältnisse gegeben. Unter den Mongolen hingegen wurden die Grundlagen für die spätere Machtposition der russischen Großfürsten und damit für ein zentralistisches Herrschaftssystem mit allen seinen Konsequenzen gelegt, wie es nie zuvor in Russland bestanden hatte. Damit wurden die Weichen für die weitere russische Geschichte gestellt.
Die despotische Macht des russischen Zentralstaats in Gestalt der Moskauer Großfürsten konnte sich erst nach dem Ende der mongolischen Vorherrschaft entfalten. Im 14. und 15. Jahrhundert wurde allmählich die Freizügigkeit der altrussischen Aristokraten – der Bojaren – eingeschränkt. Während ein Adeliger im alten Russland das Recht hatte, seinen Fürsten zu verlassen und seine Dienste einem anderen anzubieten, wurden diese Rechte unter den Moskauer Großfürsten allmählich ganz abgeschafft. Zudem wurden die Bojaren aus den von Moskau eroberten Gebieten häufig in andere Regionen verschickt, gleichzeitig aber Moskauer Bojaren in den eroberten Gebieten angesiedelt. Damit wurde eine lokale Verwurzelung des Adels verhindert und regionales Eigenleben erstickt.
Vom Staat kontrolliert: Adel, Kirche, Städte
Auch die Kirche wurde dem Moskauer Staat untergeordnet. 1459, sechs Jahre nach der Eroberung von Konstantinopel durch die Osmanen, beschloss eine Moskauer Bischofssynode, dass der Metropolit als der höchste Würdenträger der Russischen Orthodoxen Kirche nach seiner Wahl nicht mehr der Zustimmung des ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel bedürfe, sondern allein der Zustimmung des Moskauer Großfürsten. Fortan sollte, anders als in Westeuropa, die Kirche in Russland völlig von der Staatsmacht abhängig sein.
Nach dem Fall Konstantinopels bildete das Moskauer Großfürstentum die wichtigste Macht der orthodoxen Kirche. Als Großfürst Iwan III. (1462 – 1505) die Nichte des letzten byzantinischen Kaisers heiratete, wurde in Moskau byzantinisches Hofzeremoniell eingeführt und der kaiserliche Doppeladler von Byzanz ins Wappen des Großfürsten aufgenommen. Iwan III., der als erster russischer Herrscher den Zarentitel führte, betrachtete Russland als Nachfolger des byzantinischen Reichs, als das – nach Konstantinopel – „dritte Rom“.
So bildete sich bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts in Russland eine autokratische Staatsform heraus, die in Europa ihresgleichen suchte. Ihren Höhepunkt erreichte sie unter der Herrschaft Iwans des Schrecklichen (1547 – 1584), der auf Russisch den Beinamen „der Gestrenge“ trägt. Er versuchte in einer blutigen „Revolution von oben“ eine ganze soziale Klasse – die Hocharistokratie – auszuschalten und sie durch eine neue, in völliger Abhängigkeit vom Staat befindliche soziale Schicht zu ersetzen.
In riesigen Gebieten des Russischen Reichs wurde der Grundbesitz des Adels konfisziert, die Bojaren wurden umgesiedelt oder ermordet. Die freigewordenen Ländereien wurden als Dienstgüter an Günstlinge des Zaren verteilt. Sie wurden zur dominierenden Form der Agrarstruktur in Russland.
Es handelte sich dabei um Gutswirtschaften, die vom Zaren für eine begrenzte Zeitdauer gegen meist militärische Dienstpflichten vergeben wurden und von ihm wieder zurückgefordert werden konnte. Mit dieser eigentümlichen Koppelung von Landbesitz und Dienstpflicht verschwanden die traditionellen Erb- und Eigentumsrechte der Adeligen. Sie waren nun völlig von der Gnade des Zaren abhängig.
Das russische Herrschaftssystem unterschied sich demnach grundlegend vom westeuropäischen Feudalismus, in dem die politische Macht dezentralisiert und durch Adel, Kirche und autonome Städte begrenzt war. In Russland wurden Adel, Kirche und Städte von einem Staat kontrolliert, der nach Wittfogel „stärker ist als die Gesellschaft“ und in dem die Schwäche des Adels und „schwaches Privateigentum“ die strukturelle Basis für das Regime der Zaren bildeten.
Autoritärer Staat und Privatvermögen
Der erste moderne Herrscher Russlands war Zar Peter der Große (1689 – 1725). Mit seinem Programm einer gewaltsamen Europäisierung wurden zwar Heer, Verwaltung und Erziehungswesen modernisiert. Der Charakter des Adels als Staatsdienertum wurde indes sogar noch stärker institutionalisiert, und die Leibeigenschaft wurde verschärft.
Auf Peters Herrschaft folgten dann jedoch instabile politische Verhältnisse. Die Thronfolge wurde nach und nach vom Adel und der Unterstützung der Garderegimenter abhängig. 1762 wurde die Befreiung des Adels von der Dienstpflicht verkündet, 1785 wurde der adelige Grundbesitz zum Privateigentum erklärt. Die beiden überaus mächtigen Zaren Alexander I. und Nikolaus I. scheiterten mit ihren Plänen, zugunsten der ökonomischen Entwicklung die Leibeigenschaft abzuschaffen, am Widerstand der erstarkten Aristokratie. Dies sollte erst 1861 unter Zar Alexander II. gelingen.
So wurden in den 99 Jahren zwischen 1762 und 1861 drei Säulen der alten Ordnung beseitigt: die Dienstpflicht des Adels, der Eigentumsanspruch des Staats auf das Land der Aristokratie und die Leibeigenschaft. Das waren wesentliche Voraussetzungen für die Modernisierung Russlands.
Trotzdem stößt man auch im Russland des 19. Jahrhunderts noch auf viele Merkmale des „orientalischen Despotismus“: Die Macht des Zaren blieb absolut. Die Unterordnung der Kirche unter den Staat blieb bestehen. An der mangelnden Autonomie der Städte änderte sich wenig. Ein Ständewesen im europäischen Sinne konnte sich nicht entfalten.
Das russische Erbrecht, das Fideikommiss und Erstgeburtsrecht nicht kannte, führte zu einer Zersplitterung des Privateigentums. Durch die Aufteilung des Landbesitzes auf alle Söhne wurden große Adelsvermögen in der Regel innerhalb weniger Generationen ruiniert. Und in der russischen Dorfgemeinschaft wurde das dem einzelnen Bauern zur Nutzung zugeteilte Land in regelmäßigen Abständen umverteilt, wobei die Landzuteilung jeweils von der Größe der Bauernfamilie abhing.
Zwar wäre es verfehlt, hier von einer „kollektivistischen“ Nutzung des Bodens zu sprechen. Aber um Privateigentum im westlichen Sinne handelte es sich nicht.
Die Instabilität der Eigentumsverhältnisse korrespondierte mit der dominierenden Stellung des Staats in der russischen Volkswirtschaft. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren ungefähr zwei Drittel der Industriearbeiter in staatlichen Betrieben beschäftigt. Das russische Bankensystem war überwiegend in staatlicher Hand. Die Steuerbelastung war hoch.
1917: Die nächste orientalische Despotie
Erst die allmähliche Herausbildung kapitalistischer Wirtschaftsformen sorgte für eine langsame Zersetzung dieser Strukturen. Vor allem zwischen 1906 und 1914 war eine rasante wirtschaftliche Entwicklung zu verzeichnen, die der russischen Volkswirtschaft eine der höchsten Wachstumsraten Europas bescherte und zu einer deutlichen Stärkung des privaten Unternehmertums führte.
Die politischen Strukturen blieben aber autoritär. Hinzu kam ein staatlich gelenkter Antisemitismus, wie es ihn damals nirgendwo in Europa gab. Die Machtposition des Herrschers blieb auch dann, als 1905 ein mit geringen Machtbefugnissen ausgestattetes Parlament samt politischen Parteien zugelassen wurde, noch ungleich größer als etwa im kaiserlichen Deutschland.
Die demokratische Februarrevolution von 1917 schien diese Strukturen zu überwinden. Doch erstanden sie schon ein halbes Jahr später mit der Oktoberrevolution in anderem Gewand wieder auf. Unter dem kommunistischen Regime entstand ein Staat mit einer Allmacht, der die meisten in der Geschichte bekannten orientalischen Despotien in den Schatten stellt.
Vor diesem Hintergrund erscheint die These von Russland als „orientalischer Despotie“, so alt sie ist, bis heute höchst plausibel. Russland steht damit nicht nur außerhalb der europäischen Geschichte, es ist in diesem Sinne sogar „asiatischer“ als viele Länder Asiens.
Putins unumschränkte Macht
Das Putin-Regime war bisher weniger autoritär als das der Zaren oder Kommunisten. Aber im poststalinschen kommunistischen Regime gab es stets ein relativ eigenständiges Politbüro, dem die Parteiführer Rechenschaft schuldig waren und das auch einen Parteiführer absetzen konnte. Kein sowjetischer Parteisekretär seit Chruschtschow verfügte über die absolute Macht. Anders Putin. Bei ihm gibt es kein Politbüro. Er hat die unumschränkte Macht. Russland erlebt eine Neuauflage der Autokratie der Zarenzeit.
Wer darauf setzt, dass Russland nach Putin dauerhaft eine demokratische Entwicklung nimmt, muss die 750 Jahre seit der Schlacht von Liegnitz weitgehend ausblenden. Wahrscheinlicher ist, dass der Westen langfristig mit einem von „asiatischen“ Strukturen geprägten Russland koexistieren muss. Das gilt ebenso für China, das klassische Land der „asiatischen Despotie“, dessen politisches System wesentlich totalitärer ist als Putins Russland – und ökonomisch ungleich erfolgreicher.
Hermann Reich wurde am Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie der Frankfurter Universität promoviert. Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 17.7.2022. Wir danken dem Autor für die Erlaubnis, seinen Text auch auf KARENINA zu veröffentlichen.