Selensky hat die Chance verpasst
Zwischenfazit: Zwei Jahre Selenskyj, Ukraine-Analysen, Juni 2021
Nach zwei Jahren an der Macht stellt die neue Ausgabe der Ukraine-Analysen Wolodymyr Selensky mit mehreren Beiträgen ein Zwischenfazit aus. Es fällt nicht gut aus.
Kseniia Gatskova (Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung, Regensburg) urteilt, es fehle trotz ökonomischer Reformen eine Strategie in der Wirtschaftspolitik. „Durch ambitionierte Modernisierungen wollte Präsident Wolodymyr Selenskyj die ökonomische Lage der Ukraine deutlich verbessern. Doch nun, nach zwei Jahren im Amt, ist davon nichts zu spüren.“ Sie moniert eine „chaotische Finanzplanung“ und eine „schwer nachvollziehbare Personalpolitik“. Der Konflikt mit Russland bleibe bestehen, er drohe sogar zu eskalieren. Keine Erfolge gebe es auch bei der Bekämpfung der Korruption. Die Folge sei Vertrauensverlust. Das bedeute, dass der Präsident „die wahrscheinlich günstigste Gelegenheit für große Reformen verpasst hat“.
Verhältnis zu Russland wieder abgekühlt
André Härtel (Universität Hamburg / Friedrich-Schiller-Universität Jena) stellt fest, dass sich die Beziehungen zwischen Kiew und Moskau nach einer versuchten Annäherung „wieder abgekühlt“ haben. Verantwortlich dafür macht er Russland. Selensky jedoch habe mit der Schließung der drei prorussischen TV-Sender gezeigt, dass er „den naiven Ansatz der ersten Monate seiner Amtszeit abgelegt“ habe. Allerdings brauche die Ukraine eine „regionale Sicherheitsstrategie“ mit Partnern „jenseits von EU und NATO“, die keine zuverlässigen Garantien geben könnten. „Der schnelle Ausbau der eigenen militärischen Fähigkeiten“, so Härtel, „und eine noch dynamischere Entwicklung der staatlichen Kernkapazitäten der Ukraine sind ohne jede Alternative.“
Symbolpolitische antirussische Züge
Wolodymyr Ischtschenko (Technische Universität Dresden) ist enttäuscht von Selensky. Er habe sich nicht in der Lage gezeigt, „die Abhängigkeit der Ukraine vom Ausland zu beenden und die unpopuläre Agenda seines Vorgängers und der Zivilgesellschaft zu überwinden“. Stattdessen kompensiere er „die von den Interessen seiner oligarchischen Verbündeten verursachten Widersprüche ähnlich wie Poroschenko: durch symbolpolitische antirussische Züge und Unterdrückung der Opposition“. Die Hoffnung der Ukrainer auf sozialen Fortschritt bleibe unerfüllt. „Die Krise der politischen Repräsentation entwickelt sich weiter – mitsamt ihren tödlichen Gefahren in einem wirtschaftlich und geopolitisch so fragilen Land.“
Mehr Macht für regionale Eliten…
Oleksandra Keudel stellt eine zunehmende Einflussnahme der regionalen Eliten fest, die sich in schlechten Ergebnissen von Selenskys Partei Diener des Volkes bei den Regionalwahlen 2020 und dem Sieg regionaler wirtschaftspolitischer Gruppen manifestiert habe.
Das habe Bürgermeistern mehr Einfluss verschafft und verschiebe das Gleichgewicht zwischen nationalen und regionalen Eliten bei der laufenden Dezentralisierungsreform. Für die lokalen Selbstverwaltungsbehörden bedeute das mehr Rechte bei der Verteilung von Ressourcen und der Zuweisung von Kompetenzen, insgesamt eine fortschreitende Dezentralisierung. Keudel: „Dieser Trend zur Ermächtigung der lokalen Selbstverwaltung wird sich fortsetzen.“
… und die Oligarchen
Nachdem inzwischen mehr als zwei Drittel der Bevölkerung die Ukraine auf dem falschen Weg sieht, nennt Eduard Klein (Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen) „die diffusen und viel zu hohen Erwartungen“ an Selensky „naiv“. Aber Selensky müsse sich Fehler ankreiden lassen: Das Reformtempo habe „deutlich nachgelassen“, es gebe viele Rückschritte bei den Antikorruptionsmaßnahmen, aber keine Fortschritte beim Krieg im Donbass, und der Einfluss der Oligarchie sei ungebrochen. Im Zuge der De-Oligarchisierung bestehe der Verdacht, dass „vor allem politische Gegner ausgeschaltet werden sollen – während andere Oligarchen nicht behelligt werden“. Nach zwei Jahren im Amt schwinde Selenskys Rückhalt, „was seine Position schwächt und es zunehmend schwieriger macht, seine proklamierten Ziele zu erreichen“.
Außerdem bieten die Ukraine-Analysen Umfrageergebnisse: „Zwei Jahre Selenskyj aus Sicht der Bevölkerung“. PHK