Ukraine

Ukraine: Krieg oder Frieden?

Russlands revisionistische Agenda gefährdet auch die europäische Sicherheitsordnung

Sorgen über Putins Politik in ganz Osteuropa: Demonstration pro Ukraine am 17. April 2021 in Vilnius

Kann Russland es akzeptieren, friedlich neben einer souveränen, unabhängigen und ungeteilten Ukraine zu leben? Oder ist offener Krieg unvermeidlich? Dies ist in Osteuropa seit langem die größte Frage, und mit dem massiven Aufgebot russischen Militärs an der Krim und entlang der ukrainischen Ostgrenze rückt sie abrupt wieder in den Vordergrund.

Die ukrainische Unabhängigkeit war das Thema, das definitiv vor drei Jahrzehnten zur Auflösung der Sowjetunion geführt hat. Der Abschied anderer Sowjetrepubliken war nicht unbedingt eine existenzielle Bedrohung, aber die ukrainische Unabhängigkeitserklärung auf jeden Fall. Sie besiegelte das Schicksal der Sowjetunion – einen Zusammenbruch, an den sich der russische Präsident Wladimir Putin als an „die größte geopolitische Katastrophe“ des zwanzigsten Jahrhunderts erinnerte.

Über zwei Jahrzehnte nach dem sowjetischen Zusammenbruch hinweg konzentrierte sich Russland in erster Linie darauf, den Staat aufzubauen und eine eigene Identität zu finden. Dies änderte sich, als Putin 2012 seine dritte Amtszeit als Präsident antrat (nach einer Amtszeit als Ministerpräsident, während der sein Genosse Dmitri Medwedew Präsident war, bis Putin laut Verfassung erneut antreten konnte). Nun schlug er einen revisionistischen Kurs ein, um eine sogenannte Eurasische Union zu bilden.

Die Ukraine entwickelte unterdessen großes Interesse, sich ihren zentraleuropäischen Nachbarn anzuschließen. Und obwohl diese Länder der Europäischen Union beigetreten waren, gab es keinen Grund, warum engere Verbindungen zu ihnen die historischen und kulturellen Beziehungen der Ukraine zu Russland schwächen sollten.

Unter diesen Umständen war die EU-Ostpartnerschaft, die zu einer tiefen und umfassenden Freihandelszone mit der Ukraine führte, Teil eines größeren Versuchs, der Ukraine auf halbem Wege entgegenzukommen. Nichts an diesen Handelsabkommen zwischen der EU und der Ukraine war mit denjenigen zwischen der Ukraine und Russland unvereinbar.

Ukraine ist für Putin schwach und gespalten

Aber der Kreml sah die Sache anders: Er konnte diese Vereinbarung nicht akzeptieren und begann, den schwachen und wankelmütigen ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch zu zwingen, sich von der EU abzuwenden. Dies führte zu einem Volksaufstand, der Janukowitsch aus dem Land (nach Moskau) trieb und die Bühne für den Krieg bereitete, der 2014 begann.

Der Kreml sah die Ukraine als schwachen und gespaltenen Staat, der unter stetigem Druck einknicken würde. Um den russischen Revanchismus zu rechtfertigen, belehrten die russischen Beamten die restliche Welt darüber, dass die Ukraine lediglich eine Sammlung von Überbleibseln vergangener Reiche sei. Auch wenn dies stimmen mag, kann man dasselbe auch über Russland und jeden anderen modernen Nationalstaat sagen – je nachdem wie weit man zurückblickt.

Entsprechend seiner Ansicht, die Ukraine sei kein richtiges Land, scheint der Kreml sich selbst davon überzeugt zu haben, die Eroberung der Krim Anfang 2014 werde den ukrainischen Zusammenbruch einleiten. Die Hoffnung war, Russland könnte sich dann ein sogenanntes Neues Russland (Novorossiya) im Süden und Osten der Ukraine heraustrennen und eine Art „Westgalizien“ außerhalb seines Kontrollbereichs übrig lassen.

Mit diesen großen Ambitionen begann Russland, Aufständische, „Freiwillige“ und Waffen zu mobilisieren, die von einer massiven Desinformationskampagne begleitet waren, um die Ukrainer gegeneinander aufzubringen. Aber dieser Versuch ist gescheitert.

Der Kreml hat die Ukrainer geeint

In andere Länder einmarschieren ist selten eine gute Methode, sich Freunde zu machen, und diesmal war es nicht anders. Statt die Ukraine zu teilen, hat es der Kreml geschafft, die ukrainische Bevölkerung so stark zu vereinigen wie nie zuvor. 2014 musste Russland reguläre Armeebataillone einsetzen, um zu retten, was von seinem separatistischen Keil in der ukrainischen Donbass-Region noch übrig war.

Seitdem sind die Versuche gescheitert, mittels der beiden Minsker Abkommen eine politische Einigung zu erreichen. Der anhaltende niedrigschwellige Konflikt hat 14000 Todesopfer gekostet und Millionen dazu gezwungen, ihre Heimat zu verlassen.

Auch wenn es der ukrainischen Öffentlichkeit schwergefallen wäre, einige der Kompromisse einer solchen Einigung zu akzeptieren, war die wirkliche Fortschrittsbremse die Weigerung des Kremls, seine Enklaven in der Ukraine aufzugeben. Der nationalistische Teil der öffentlichen russischen Meinung, der Putins stärkste Unterstützerbasis darstellt, hätte an einer „Niederlage“ in der Ukraine schwer zu schlucken.

Spiel mit dem Feuer

Jetzt hat Russland laut seinem Verteidigungsminister östlich und südlich der Ukraine zwei vollständige Armeen und drei Lufteinheiten zusammengezogen – angeblich, um Militärübungen abzuhalten. Aber Übungen wofür? Die Mobilmachung richtet sich ganz klar gegen die Ukraine. Putins eigener Sprecher hat dies mit seiner Aussage, notfalls werde Russland eingreifen, um Angriffe auf russische Muttersprachler in der Ukraine zu verhindern, explizit bestätigt.

Unabhängig davon, ob dieses Spiel mit dem Feuer in den kommenden Wochen oder Monaten zu einem offenen Konflikt führt (worüber sich wahrscheinlich sogar die Entscheidungsträger im Kreml nicht sicher sind), wird die Lage gefährlich bleiben, bis Russland seine revanchistischen Ambitionen aufgibt. Es geht letztlich um Krieg oder Frieden. Bevor Russland Seite an Seite mit einer souveränen, demokratischen Ukraine leben kann, kann es keinen stabilen Kompromiss geben.

Diese Entwicklung hat Folgen, die weit über Russland und die Ukraine hinausreichen. Kann Russland Kiew erobern, hätte es von seiner erfolgreichen revisionistischen Agenda noch nicht genug, sondern würde versuchen, die gesamte europäische Sicherheitsordnung nach dem Kalten Krieg aufzulösen. Dies wäre für alle, und nicht zuletzt für Russland selbst, enorm gefährlich. Solange der Kreml in seiner Konfrontation mit dem Rest Europas gefangen bleibt, kann er sich nicht auf den Aufbau einer demokratischen und wohlhabenden Zukunft konzentrieren, die die russische Bevölkerung verdient.

Was auch immer geschieht: Das Schicksal der größeren Region ist nun untrennbar mit dem der Ukraine verbunden.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff. Copyright: Project Syndicate, 2021. www.project-syndicate.org

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