Russland: Schuld und Sühne
Masha Gessen über Russen, die über Verantwortung sprechen und das neue Russland suchen, The New Yorker 9.10.2022
Während Wladimir Putin danach trachtet, Russland wieder groß zu machen, und gegen angebliche westliche Versuche kämpft, Russland zu zerstören, hat Masha Gessen ein Phänomen beobachtet: Russen im Exil und auch einige im Land gebliebene setzen sich in Essays, Gedichten, Facebook-Posts und Podcasts damit auseinanderzusetzen, „Bürger eines Lands zu sein, das einen genozidalen Kolonialkrieg führt“.
Ukrainer mögen über deren Seelenpein spotten, räumt sie ein. Schließlich hätten sie größere und unmittelbarere Probleme. „Aber sie haben auch Gewissheit“, schreibt Gessen. „Sie wissen, wer sie in der Welt sind, während für die Russen nichts so ist, wie es einst schien.“
Sie zitiert aus mehreren dieser Veröffentlichungen, darunter eine des Schriftstellers Alexey Oleynikov: „Wir werden die Scham nicht bis ins hohe Alter abwaschen, bis wir sterben / Es gab schlimmere Zeiten, aber nie eine lächerlichere Zeit.“ Das ging im März viral.
Im Mai postete die Schauspielerin und Poetin Zhenya Berkovich auf Facebook die Geschichte eines jungen Russen, den der Geist seines Großvaters besucht, der im Zweiten Weltkrieg gekämpft hat. Der Geist bittet seinen Enkel, ihn zu vergessen, damit die Erinnerung an seine Tapferkeit nicht dazu benutzt wird, den aktuellen Krieg zu rechtfertigen.
Nach der Aufzählung weiterer Quellen der Reflektion schreibt Gessen: Das letzte Mal, dass russischschreibende Menschen sich so intensiv mit Fragen der individuellen und kollektiven Verantwortung beschäftigten, sei Ende der achtziger Jahre gewesen. Jetzt seien die Schriftsteller im Exil zwar aus dem Land geflohen (wie auch ein Großteil der Führung von Memorial), aber sie versuchten, ihren Weg in ein neues Russland zu finden. „Ihre Vorstellungskraft reicht weit über die russische Verfassung hinaus in eine Welt, die radikal anders ist und nicht nur besser ist als Putins revanchistische russische Welt, sondern auch die Welt, in der wir derzeit leben.“ PHK