Die wahren Russlandversteher

Fantastischer Faktenfundus: Die Russland-Analysen veröffentlichen ihre 400. Ausgabe

Nichts gegen die Medien, aber einer wie Heiko Pleines kann damit nicht gänzlich zufrieden sein. „Beim Zeitunglesen denkt man manchmal: Meine Güte, da fehlt aber noch was.“ Neues findet der Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen selten. „Ich lese russische Zeitungen, da lerne ich mehr über Russland“, sagt er. In deutschen Medien poppe Russland immer wieder mal auf – wenn Nawalny zurückkehrt oder verurteilt wird. Aber dann sei das abgehakt und Russland „nicht mehr das Thema“.

Die Medien neigten zu verkürzter Darstellung. Die Erzählung über Nawalny habe gezeigt, dass in Bezug auf Russland gelte: Wer gegen den bösen Diktator ist, muss der Gute sein. „So aber“, sagt Pleines, „funktioniert Politik nicht.“

Was den 50-Jährigen „wirklich ärgert“, ist die Berichterstattung über Nord Stream 2. Die geplanten Exporte von Gazprom würden durch die neue Pipeline doch nicht steigen. „Hat da überhaupt mal jemand nachgekuckt?“ Russland werde lediglich die Transportroute ändern; das Gas komme nicht mehr durch die Ukraine, sondern über die Ostsee. Die eigentliche Frage ist also, wem der Wechsel der Transportroute nutzt. Die USA zum Beispiel betrifft er nicht direkt.

Wieso die Ukraine und Polen abhängig werden sollten von russischem Gas, ist Pleines aber auch schleierhaft. Das sei früher der Fall gewesen: „Wenn Russland nicht in die Ukraine oder nach Polen geliefert hat, dann hatten die kein Erdgas mehr. Jetzt können die aus westlicher Richtung beliefert werden.“ Was diese Länder verlieren, sind Transiteinnahmen und das Gefühl westlicher Solidarität.

Im Jahr 2003, Pleines war auf dem Weg zur Habilitation an der Universität Bremen, war Yukos das große russisch Thema. Die einen sahen in Chodorkowski den korrupten Steuerhinterzieher, die anderen in Putin den repressiven Herrscher, sagt Pleines. „Beides stimmte ja, aber es war nur ein Teil der ganzen Wahrheit.“ Damals entstand die Idee zu den Russland-Analysen.

Russland ist mehr als die Schlagzeilen

„Wir wollten zeigen, dass Russland mehr war als das, was die Schlagzeilen produzierte“, so Pleines: die Regionen, soziale Themen, Kultur und Umwelt (schon damals wichtig, aber in Russland noch nicht in der öffentlichen Debatte). Spiritus Rector war Hans-Henning Schröder, der zuvor am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln an den Aktuellen Analysen beteiligt war – die ihr Publikum auf Papier und per Post erreichten. „Mit dem Internet“, so sagten sich Schröder und Pleines, „können wir das ganz anders machen.“

Die Nummer 1 der Russland-Analysen kam am 17. Oktober 2003 heraus, Titel: Russland vor den Wahlen. Lilija Schewzowas Bericht begann mit den Worten: „Das von Präsident Putin geschaffene politische Regime System hat bewiesen, dass es politische und wirtschaftliche Stabilität aufrechterhalten kann.“

Putin war damals drei Jahre Präsident, und alle Fragen waren offen: Wer ist Putin? Wohin führt er Russland? Ist das eine Erfolgsgeschichte? Dauerhafter Aufschwung oder Strohfeuer durch den Ölboom? Kann Putin die Macht konsolidieren, wenn er die Oligarchen hart angeht, und ist das gut oder wird nur ein Übel durch ein anderes ersetzt? Und schließlich: Was versteht die Bevölkerung unter Demokratie? Will sie Demokratie wirklich? Und falls ja: Kann Putin dem gerecht werden?

„Das kam uns in den journalistischen Debatten zu wenig vor“, denkt Pleines zurück, der die Russland-Analysen heute als Leiter der Abteilung Politik und Wirtschaft und stellvertretender Direktor der Forschungsstelle Osteuropa betreut. „Die Wissenschaft konnte da etwas einbringen, was bisher nicht berücksichtigt wurde.“ Allerdings: Von Wissenschaftskommunikation war damals noch keine Rede.

Ukraine: Die Sache ist komplizierter

Schon bald nach dem Start begann die orange Revolution in der Ukraine, und es waren kaum deutsche Journalisten in Kiew. Die ARD war mit dem Team aus Paris dort, Zeitungen schickten ihre Korrespondenten aus Warschau oder Moskau. „Da musste man sich nicht wundern“, so Pleines, „wenn nicht sofort kompetent berichtet wird.“

Das alles schrie nach Ukraine-Analysen. Viele Fragen waren auch dort zu beantworten: Wurden die Wahlen tatsächlich gefälscht? Wer sind die Leute, die da mitmischen. „Dazu konnten Wissenschaftler beitragen, um ein paar Dinge zu sortieren“, sagt Pleines. „Weil die Sache meistens komplizierter ist, als Journalisten es darstellen können – allein, weil dafür nie genug Platz ist.“

Auch die Ukraine-Analysen liefern seit 2006 zwei Mal monatlich: Analysen, Hintergründe, Zusatzmaterial für alle, die etwas mehr wissen und Zusammenhänge verstehen wollten. „Wir wollten der Tageszeitung keine Konkurrenz machen“, so Pleines. Aber die Wissenschaft sollte auch nicht nur im Elfenbeinturm sitzen bleiben.

Schreiben für die Allgemeinheit

Inzwischen gibt es drei weitere Länderanalysen: neben Russland und Ukraine Polen (seit 2006), Zentralasien (2008) und Belarus (2011). Die Autorenschaft kommt meist aus der Wissenschaft. Mit Ausnahmen: Bei Greenpeace gebe es auch Experten, die nicht im engeren Sinne wissenschaftlich an einem Forschungsprojekt arbeiten, sich aber mit Themen beschäftigen, um die sich bisher niemand kümmert. So war das lange mit der Umweltfrage in Russland. Da seien die Experten von Greenpeace zwar Partei und gingen nicht ergebnisoffen an ein Thema heran, aber es sei „besser, dass jemand von Greenpeace bei uns darüber schreibt als niemand“.

Wichtig ist: Die Texte sollen so allgemeinverständlich wie möglich sein. Dass das manchmal eine Herausforderung war und ist, weiß Pleines: „Zielgruppenorientiert zu schreiben, das kann nicht jeder. Deshalb schreibt auch nicht jeder für uns.“

Und nicht jeder wollte zu Beginn. Warum? Weil die Texte für die Russland-Analysen nicht wissenschaftlichen Kriterien entsprechen – gar nicht entsprechen sollen. Also lieber für die Publikationsliste und fünf Spezialisten geschrieben, mit denen man auf Augenhöhe über den Text diskutieren kann. So dachten zu Beginn viele.

Inzwischen aber, so Pleines, sei der Nutzen verstanden, das Bewusstsein vorhanden, dass gesellschaftlich relevant auch eine bedeutende Kategorie ist. „Inzwischen haben wir keine Probleme mehr, Autoren zu finden, trotz geringen Honorars.“

Die Länderanalysen werden populär

Inzwischen hat jede Länderanalysenreihe einen Redakteur. Die Ausgaben sind immer länger geworden. Zu Beginn gab es einen Text von drei, vier Seiten und ein bisschen ergänzendes Material. Summa Summarum: einstellige Seitenzahlen. Mittlerweile sind viele Ausgaben an die 40 Seiten dick.

Es schreiben auch russische Autoren, die übersetzt werden. Für sie war das magere Honorar von 150 Euro zu Beginn fast ein Montagsgehalt.  Bedarfsprüfung wurde nur kurz diskutiert, bis die Entscheidung fiel: Einheitshonorar.

Als die Russland-Analysen starteten, war die Forschungsstelle Osteuropa ein kleines Institut mit einem halben Dutzend Wissenschaftlern. Für Wissenschaftskommunikation gab es keine Fördermittel. Als der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft eine langfristige Förderzusage gab, konnte eine Redaktionsstelle finanziert werden.

Inzwischen teilt sich ein Konsortium aus wissenschaftlichen Instituten, die sich mit Osteuropa beschäftigen, Kosten und Personal für die fünf Länderanalysen. Sie sind ein Projekt mit gemeinsamem Etat, Konsortium, Webseite, Twitteraccount. „Geld ist immer knapp, aber es funktioniert. Die Frage, was nächstes Jahr passiert, ist beantwortet.“

Allein die Russland-Analysen haben 6300 Abonnenten. Sie bekommen zweimal monatlich einen Link zu einer pdf-Datei. Der Zuspruch der Webseite wächst. Ein Lizenzabkommen mit der Bundeszentrale für Politische Bildung bringt neues Publikum, „Laufkundschaft“ wie Lehrer und Schüler, die ein Referat halten müssen. Also auch Leute, die sich kurzfristig mal mit Russland beschäftigen und dafür direkt auf die Webseite gehen. Das erhöht die Reichweite.

Wer wagt es, über Putin zu schreiben?

Die Bedeutung ist gewachsen, und damit ist die Frage relevant: Gibt es Dinge, über die man aus Russland nicht schreiben kann?

„Diese Frage muss jeder für sich entscheiden“, sagt Pleines. „Wer schreibt, geht ein Risiko ein. Die Kontrolle über das, was aus Russland geschrieben wird, hat stetig zugenommen.“ Wissenschaftler seien lange „unter dem Radar“ gesegelt, „solange sie nicht populär wurden und in die Massenmedien drängten, hat das nicht interessiert. Das hat sich geändert.“

Wer scheibt aus Russland über die Gesetze über „ausländische Agenten“? Wer kommentiert das Verfassungsgerichtsurteil in Russland, wonach das russische Recht über dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte steht?  „Wer gesehen hat, dass jemand, der die Annexion der Krim als völkerrechtswidrig bezeichnet hat, seinen Job verloren hat, für den ist es schwierig, darüber offen zu schreiben.“

Wer in Russland wagt es, über Putin zu schreiben, über den Gouverneur, den Bürgermeister, einen Oligarchen? Mutige Menschen gibt es noch immer. Verliert jemand seinen Job, dann offiziell aus anderem Grund. Verliert niemand seinen Job, dann ist das der Beweis für Meinungsfreiheit.

Klare Regeln gebe es nicht. Zwangsläufig entsteht die Schere im Kopf. Deshalb lebe eine ganze Reihe von Autoren der Länderanalysen mit Herkunft aus den Ländern im westlichen Ausland.

Ende März kommt die 400. Ausgabe der Russland-Analysen heraus. Wie sagt doch Heiko Pleines über den Start? „Wir wollten zeigen, dass die Wissenschaft nicht nur für die Theorie da war, sondern auch in konkreten Fällen etwas ergänzen kann.“ Man darf guten Gewissens sagen: Das ist geglückt. Wer sich professionell mit Russland beschäftigt, kommt an diesem Angebot nicht vorbei. Und wer sich als Privatmensch für Russland interessiert, findet dort nicht alternative Fakten, sondern mehr tatsächliche, die weit über die Tagesberichterstattung hinausreichen. Wissenschaftlich geprüft.

 

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