Frieden statt Feindschaft
Europa braucht ein auf Verständigung und Rationalität zielendes Verhältnis zu Russland und China
Außenpolitik steht im zweiten Jahr der Pandemie und vor Bundestagswahlen im Hintergrund des öffentlichen Interesses, spielt deshalb in den Wahlprogrammen der politischen Parteien kaum eine Rolle, sieht man ab von den üblichen Bekenntnissen zu EU und Nato als ihrer Grundlage. Außenpolitik wird mehr und mehr entweder auf das Thema Sicherheitspolitik verengt oder auf Menschenrechtspolitik reduziert.
Diese ist allerdings von erstaunlicher Einseitigkeit gekennzeichnet, besteht sie doch vor allem in Mahnungen, Drohungen oder Sanktionen gegen nicht dem Westen zugeneigte Staaten. Man vergleiche die westlichen Strafmaßnahmen im Fall Nawalny mit den ausbleibenden Reaktionen auf den Mordfall Kashoggi, die grausame Behandlung von Julian Assange oder auf die ferngesteuerten, treffsicheren Drohnen bei der Ermordung des iranischen Generals Soleimani und iranischer Wissenschaftler. Dazu zählt auch das plötzlich heftige Engagement für die fernen Uiguren im Vergleich zu der Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Palästinenser.
Die Verantwortlichen für den bis heute folgenschweren Irakkrieg, dessen Begründung auf Lügen basierte und dem die Terrormiliz IS ihren verheerenden Aufstieg verdankt, wurden nie zur Rechenschaft gezogen. Nach deren Eindringen tief nach Syrien bis hin zur Zerstörung von Palmyra, einer der großartigsten Stätten der Weltkulturen, mussten sie in erbitterten Kämpfen mit schweren Kollateralschäden von den Syrern und Russen verjagt werden. Nur im Nordosten des Landes und im Norden des Irak schalteten sich sehr spät die Amerikaner mit den gleichen militärischen Mitteln ein. Deshalb: Wer Aleppo sagt, darf Mossul nicht verschweigen.
Auch Russland hat ein Recht auf Sicherheit
Sicherheitspolitik dagegen steht heute ganz im Zeichen der militärischen Stärkung der Nato. Die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer begründet dies als wichtigste Maßnahme im Hinblick auf unsere angebliche Bedrohung durch Russland, das, wie sie sagt, an den Grenzen zur Nato massiv aufrüste.
Ihr scheint nicht bewusst zu sein, dass Russland, von seiner geographischen Ausdehnung das größte Land der Erde, im Osten an die neue Weltmacht China, im Westen an ein militärisches Bündnis von 30 Nato-Staaten unter Führung der USA grenzt, das dort seine jährlichen Manöver abhält. Sie übersieht auch, dass Russland seine Sicherheit nach der Kündigung des Warschauer Pakts ohne jedweden Bündnispartner verteidigen muss, seine Militärausgaben allein von denen der USA plus Nato um ein Vielfaches übertroffen wird.
Sie sollte besser auf ihren Parteifreund Horst Teltschik, Kohls Chefberater bei den jahrelangen Verhandlungen mit der Sowjetunion bis hin zur deutschen Einheit, hören. Als einer der bis heute intimsten Kenner russischer Mentalität und Politik warnt er davor, außer Acht zu lassen, dass die Russen genauso wie alle anderen Staaten ein Recht auf Sicherheit beanspruchen, ja, „Sicherheit zentrale Kategorie russischer Außenpolitik ist und war“.
Das spielte auch eine maßgebliche und verhängnisvolle Rolle bei dem Versuch, die Ukraine mit ihrer mehr als 2000 Kilometer langen Grenze und ihren historischen und wirtschaftlich engen Beziehungen zu Russland einer westlichen Einflusszone zuzuführen mit der Option, später der Nato beizutreten. Man denke anbei auch an die Krim mit Russlands einzigem Schwarzmeerhafen Sewastopol.
Wäre das gelungen, so sah man das in Moskau, dann wäre Russland, von Finnland abgesehen, vollkommen eingekreist. Eine rote Linie war überschritten. Stattdessen hat die EU ihre große Chance verspielt, gemeinsam mit Russland dem maroden Staat aus seiner Misere zu helfen.
Vom Sinn der Nato
Nach dem Ende der Sowjetunion und der Auflösung des Warschauer Pakts wurde ich bei Vorträgen in den USA immer wieder darauf angesprochen, wieso nach dem Ende der Sowjetunion und damit des Kalten Kriegs das teure westliche Militärbündnis weiter bestehen bleiben müsse. Ich verwies darauf, dass seine Mitgliedstaaten es in eine „Wertegemeinschaft“ umgestalten wollten, ins Amerikanische übersetzt „a community of values“.
Mir war klar, dass Amerikaner nichts mit abstrakten Phrasen anfangen können, und tatsächlich erntete ich ungläubiges Gelächter. Inzwischen ist sie um ein Vielfaches auf 30 Staaten angehoben worden, allerdings wieder zum Militärbündnis zurückverwandelt.
Bis heute hält sich in den USA angesichts ganz anderer, enormer innenpolitischer Probleme die Begeisterung darüber im Gegensatz zu hiesigen Nato-Dogmatikern in Grenzen. Inzwischen mehren sich die Stimmen früherer Unterstützer der Nato-Erweiterung nach Osten wie die des Historikers und Welt-Kolumnisten Michael Stürmer, der feststellt, dass sie nicht zu der „erwarteten Stabilisierung der Weltordnung“ geführt habe. „Die Lage ist heute unklarer und fragiler als zu Zeiten des Kalten Krieges, in dem wir uns bereits befinden“, so Stürmer.
Donald Trump selbst hat die Nato in Zweifel gezogen nach dem Prinzip: Wenn ihr sie weiter zu eurem Schutz vor Russland wollt, dann bitte kräftig nachzahlen! Zum Erstaunen des französischen Präsidenten bleibt Annegret Kramp-Karrenbauer bei ihrer Meinung, nur mit den USA sei die Sicherheit Europas langfristig zu garantieren. Von einer Initiative, mittelfristig ein gemeinsames europäisches Verteidigungsmodell auf den Weg zu bringen, ist nichts zu hören.
Zurück zu Rüstungskontrolle und Abrüstung
Andererseits sah man hier tatenlos zu, wie Trump über die Köpfe seiner willfährigen Nato-Alliierten hinweg die in jahrelangen schwierigen Verhandlungen mit der Sowjetunion erreichten Verträge, dazu den Atomvertrag mit dem Iran einseitig kündigte und eine neue gigantische Steigerung des US-Militärhaushalts betrieb sowie eine militärische Aufrüstung des Weltraums plante.
Wo bleibt die Forderung der deutschen Politik nach der dringenden Wiederaufnahme von Abrüstungsverhandlungen mit Russland als Voraussetzung weiterer Zugeständnisse zur Nato-Aufrüstung? Man darf die Frage stellen, ob unseren heutigen, in ihren Parteien kaum einflussreichen Außenpolitikern Begriffe wie Rüstungskontrolle und Abrüstung völlig abhanden gekommen sind, vielleicht aus zunehmender historischer Unkenntnis, jedenfalls aber ohne Rücksicht auf ihre erfolgreichen politischen Ziehväter.
Die unserer politischen Generation zu verdankende deutsche Einheit kam nicht durch permanente Konfrontation und dauernde gegenseitige Sanktionen zwischen scheinbar Gut und Böse zustande, sondern durch den Wandel zur Annäherung in mühevollen, schließlich erfolgreichen Verhandlungen und Verträgen unter weitgehenden Zugeständnissen der russischen Seite. Heute aber reicht es, Putin zum Diktator oder gar Killer und Nawalny zum demokratischen Oppositionsführer zu stempeln, um das Verhältnis weiter zu zerrütten.
Letztes Beispiel war der massive, mit Hilfe der USA und einigen ihrer russophoben osteuropäischen Freunde betriebene Versuch, die Nord Stream 2-Pipeline bis zur letzten Minute ihrer Fertigstellung mit erpresserischen Mitteln und verlogenen Argumenten zu verhindern. Dabei ging es der amerikanischen Ölindustrie und ihren Lobbyisten im Kongress wie Ted Cruz darum, sich ein lukratives Geschäft zu verschaffen, um statt der Ostseepipeline ihr gefracktes Gas per Schiff von Louisiana über den Atlantik zu transportieren.
Osteuropäische Gegner dagegen setzten in engem Schulterschluss mit ihren besonders engen Freunden in den USA auf die Verhinderung europäisch-russischer Wirtschaftsabkommen überhaupt, um der russischen Wirtschaft, vor allem aber Putin damit zu schaden, was auch Herr Nawalny forderte. Nicht ohne Schadenfreude hätten wohl manche Mitglieder unserer Wertegemeinschaft mit dem Abbruch des Baus Frau Merkel gerne noch ein peinliches Desaster zum Ende ihrer Amtszeit bereitet, war sie doch eine verdienstvolle Initiatorin des nicht nur für unsere, sondern auch für die Wirtschaft anderer EU-Staaten und für unsere Beziehungen zu Russland wichtigen Projekts.
Dass Russland die Ukraine daneben weiterhin mit einer eigenen Gasleitung zu günstigen Preisen versorgt, sollte man hier nicht unter den Tisch kehren. Der Vertrag wurde erst vor gut einem Jahr von den Energieministern beider Staaten mit deutscher Vermittlung erneuert und zu günstigen Bedingungen für die Ukraine verlängert. Es bleibt zu hoffen, dass das dieser Tage vorgeschlagene Treffen zwischen Putin und dem ukrainischen Präsidenten bald zustande kommt.
China zieht an den USA vorbei
Dass das amerikanische Jahrhundert zu Ende ist, Titel wie „leader of the free world“ für US-Präsidenten zu einem Anachronismus geworden sind, wird immer deutlicher. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die USA die einzige Weltmacht.
Mit dem in unfassbarer Schnelligkeit gewachsenen China ist eine neue Macht entstanden, die heute ihre 1,4 Milliarden Menschen ernähren, wirtschaftlich und wissenschaftlich (man denke an die jüngste Marslandung) mit den USA weitgehend mithalten kann und in sozialer Hinsicht an den USA vorbeigezogen ist, vergleicht man die dort immer weiterwachsende Ungleichheit zwischen Arm und Reich oder die mangelhafte Gesundheitspolitik. Nur im Hinblick auf die Militärausgaben liegt das mit seinen Einwohnern viermal so große Land weit unter den mehr als dreimal so hohen Ausgaben der USA. Gegenüber Russland liegen deren Militärausgaben sogar mehr als elfmal so hoch.
Nach achtjährigen Verhandlungen hat China vor kurzem mit 14 der bedeutendsten und vorwiegend demokratischen asiatischen Staaten die größte Freihandelszone der Welt für zwei Milliarden Menschen geschaffen und damit bewiesen, dass seine Außen- und Wirtschaftspolitik den USA in Asien den Rang abgelaufen hat.
Der Ärger darüber in den USA ist verständlich. Und es ist bezeichnend, dass der US-Senat zwei Kandidaten von Präsident Joe Biden zum ersten Mal einstimmig bestätigt hat, den neuen CIA-Chef Burns und die neue Handelsministerin Raimondo. Sie kündigte zuvor an, dass sie mit China hart verfahren werde; Burns, dass die Bekämpfung der „feindlich gesinnten Führung Chinas der Schlüssel für die nationale Sicherheit der USA“ sei. Das lässt auf nichts Gutes schließen.
Inzwischen hat Biden als ersten ausländischen Staatschef den japanischen Ministerpräsidenten im Weißen Haus empfangen, um eine enge militärische Zusammenarbeit mit Japan zur Eindämmung Chinas zu beraten. Es deutet sich schon an, dass er auch mit der Unterstützung der Alliierten rechnet.
Stattdessen sollten wir gemeinsam mit unseren europäischen Freunden alles tun, um uns nicht in weitere internationale Konflikte hineinziehen zu lassen, sondern mit China und Russland auf ein durchaus kritisches, aber auf Verständigung und Rationalität zielendes Verhältnis hinzuarbeiten. Darum muss es gehen: Da, wo es möglich ist, die traditionelle Freundschaft mit den USA erhalten, die europäische Unabhängigkeit jedoch zu wahren und notfalls auch energisch zu verteidigen.
Helmut Schäfer ist FDP-Politiker und war von 1987 bis 1998 Staatsminister im Auswärtigen Amt. Dieser Beitrag ist ursprünglich am 5.5.2021 in der Berliner Zeitung erschienen. Wir danken dem Autor für die Genehmigung, seinen Artikel auch auf KARENINA veröffentlichen zu dürfen.