Nord Stream 2: USA gegen Deutschland
Dokumentation: US-Sanktionen gegen den Bau der Pipeline Nord Stream 2 aus völkerrechtlicher Sicht
Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung und Fragestellung
2. Internationale Vertragswerke
2.1. Freundschaftsvertrag zwischen Deutschland und den USA von 1954
2.2. WTO-Recht
2.3. Zwischenergebnis
3. Rechtfertigung nach ILC-Entwürfen zu Staatenverantwortlichkeit
4. Die US-Sanktionen im Lichte allgemeiner Völkerrechtsprinzipien
4.1. Das völkergewohnheitsrechtliche Nichteinmischungsgebot
4.2. Extraterritorialität von Sanktionen
4.2.1. Anknüpfungspunkte für extraterritoriale Sanktionen
4.2.2. Zur Sanktionspraxis der USA
4.2.3. US-Sanktionen gegen das Nord Stream 2-Projekt
5. Fazit
1. Einführung und Fragestellung
Für Aufsehen hat ein offener Brief der drei US-Senatoren Ted Cruz, Tom Cotton und Ron Johnson vom 6. August 2020 gesorgt, in dem den Vorstandsmitgliedern, Aktionären und Arbeitnehmern der Fahrhäfen Sassnitz GmbH rechtliche und wirtschaftliche Sanktionen für die weitere Unterstützung des Nord Stream 2-Projekts ausdrücklich angedroht wurden. Das Schreiben der US-Senatoren stellt gewissermaßen einen folgerichtigen Schritt in der US-Politik dar, die darauf gerichtet ist, die Erweiterung der direkten Ostsee-Gaspipeline zwischen Russland und Deutschland zu verhindern. Die Motivation der USA dürfte vielfältig sein: Von der langfristigen wirtschaftlichen Schwächung Russlands und Stärkung der wirtschaftlichen Position der osteuropäischen Transitländer wie Polen und Ukraine bis hin zu den eigenen wirtschaftlichen Interessen, Europa als Absatzmarkt für den Verkauf vom amerikanischen Flüssiggas zu sichern.
Bereits 2017 hatte der US-Kongress den Countering Americas’s Adversaries Through Sanctions Act (CAATSA) verabschiedet, in dem neben Sanktionen gegen den Iran und Nordkorea auch Sanktionen gegen Personen und Unternehmen beschlossen wurden, die Russland beim Bau von Export-Energiepipelines unterstützen. Ende 2019 beschloss der US-Kongress den Protecting Europe’s Energy Security Act (PEESA), in dem Sanktionen gegen Personen und Unternehmen vorgesehen sind, die an der Bereitstellung von Schiffen zur Verlegung der Nord Stream 2-Pipeline beteiligt sind. Im Juli 2020 wurden schließlich durch den Protecting Europe’s Energy Security Clarification Act (PESCAA) die Sanktionen auf Personen und Unternehmen ausgeweitet, die auch in sonstiger Weise das Nord Stream 2-Projekt unterstützen: Vorbereitende Arbeiten ausführen, die Schiffe warten oder aufrüsten, Risiken versichern.
Damit fallen die deutschen Häfen Mukran-Sassnitz auf Rügen sowie auch Lubmin, an dem die Anschlussstelle von Nord Stream 2 am deutschen Festland vorgesehen ist, in den Geltungsbereich der US-Sanktionen. Juristischen Personen, deren Geschäftsführern und Arbeitnehmern drohen Einreiseverbote, Einfrierungen ihres Vermögens und der Ausschluss von der öffentlicher Auftragsvergabe in den USA. Zugleich kann US-Bürgern und Unternehmen verboten werden, mit den sanktionierten Personen und Unternehmen Geschäftsbeziehungen zu unterhalten. Sogar die Abwicklung der Geschäfte in US-Dollar kann für die Betroffenen unmöglich werden, denn diese erfordert zumeist eine – jedenfalls formelle – Mitwirkung einer US-Clearingstelle, die durch die Sanktionsgesetze jedoch untersagt wird.
Gegenstand dieser Ausarbeitung ist die Frage, ob die US-Sanktionen mit dem Völkerrecht vereinbar sind. Dies wird zunächst anhand der bestehenden internationalen Vertragswerke geprüft (2.). Dann wird untersucht, ob die US-Sanktionen als Gegenmaßnahmen i. S. d. ILC-Artikelentwürfe zur Staatenverantwortlichkeit gerechtfertigt werden können (3.). Schließlich erfolgt die Prüfung von extraterritorialen Sanktionen anhand der allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts (4.).
2. Internationale Vertragswerke
2.1. Freundschaftsvertrag zwischen Deutschland und den USA von 1954
Die Verhängung der Sanktionen durch die USA gegen deutsche Bürger und Unternehmer könnte zunächst gegen den Freundschaftsvertrag zwischen Deutschland und den USA verstoßen.
Dieser enthält in Art. V Abs. 4 die Eigentumsgarantie, die für Deutsche in den USA gilt und durch eine Vermögenseinfrierung im Sinne der US-Sanktionen verletzt werden könnte. Art. XII Abs. 3 gewährt die Freiheit des Zahlungsverkehrs, Art. XIV Abs. 2 enthält die Freiheit vor Warenexportbeschränkungen, Art. XVII Abs. 2 das Recht an den öffentlichen Aufträgen teilzunehmen.
Allerdings können diese Freiheiten gem. Art. XIV Nr. 1 d) durch Maßnahmen eingeschränkt werden, die zum Schutz der wesentlichen Sicherheitsinteressen einer der Vertragsparteien notwendig sind. Das in den US-Sanktionsgesetzen zum Ausdruck kommende weite Verständnis der USA hinsichtlich ihrer nationalen Sicherheitsinteressen lässt sich kaum objektiv überprüfen. Auch wenn Deutschland argumentiert, dass Nord Stream 2 keine Gefahr für die Sicherheit der USA darstellt und überhaupt keinen Bezug zu den USA aufweist, so ist jedes Land grundsätzlich berechtigt, die eigenen Sicherheitsinteressen eigenständig zu definieren. Ein Verstoß gegen den Freundschaftsvertrag liegt aus diesem Grund eher fern.
Art. XVII eröffnet beiden Parteien das Recht, im Falle der Streitigkeiten über die Vertragsauslegung Konsultationen zu verlangen und die Streitigkeit einem Schiedsgericht oder einvernehmlich dem Internationalen Gerichtshof zu unterbreiten. Ob die USA hierzu bereit sind, bleibt abzuwarten.
2.2. WTO-Recht
Sowohl Deutschland als auch die EU und die USA sind Mitglieder der Welthandelsorganisation (WTO). Die von den USA beschlossenen Sanktionen könnten deswegen gegen die WTO-Bestimmungen, insbesondere das in Art. I GATT10 verankerte Meistbegünstigungsprinzip, verstoßen. Denn die deutschen Unternehmen, die das Projekt Nord Stream 2 unterstützen, werden an ihrer Wirtschaftstätigkeit in den USA durch die Sanktionen gehindert. Allerdings können die verhängten Beschränkungen durch eine Ausnahmeklausel zum Schutz der nationalen Sicherheit, Art. XXI GATT, gerechtfertigt werden. Nach den Vorstellungen der Urheber der Norm sollte jeder Staat im Zweifel selbst Herr über die Entscheidung sein, ob die eigene Sicherheit gefährdet sei, sodass diese Klausel ebenfalls weit ausgelegt werden kann.
Sollten Deutschland bzw. andere betroffene europäische Staaten, bzw. die EU als WTO-Mitglied, die US-Sanktionen als nicht gerechtfertigt nach dem WTO-Recht ansehen, so steht ihnen der WTO-Streitbeilegungsmechanismus zur Verfügung. Allerdings ist zu bemerken, dass eine abschließende Entscheidung der vorgesehenen Berufungsinstanz gegenwärtig und in der näheren Zukunft aufgrund der Blockadehaltung der USA bei der Nachbesetzung der Richterstellen kaum zu erwarten ist.
2.3. Zwischenergebnis
Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass die beschlossenen US-Sanktionen durch weite Ausnahmeklauseln im Freundschaftsvertrag bzw. in den WTO-Bestimmungen gerechtfertigt werden können. Es bestünde auch kaum eine effektive Möglichkeit für Deutschland, einen etwaigen Verstoß auf internationaler Ebene gerichtlich geltend zu machen, da hierfür stets eine Mitwirkung der USA erforderlich ist.
3. Rechtfertigung nach ILC-Entwürfen zu Staatenverantwortlichkeit
Die US-Sanktionen könnten nach Maßgabe der von der Völkerrechtskommission der Vereinigten Nationen ausgearbeiteten Artikelentwürfe zur Staatenverantwortlichkeit (ILC-Artikelentwürfe) gerechtfertigt sein. Diese sind kein völkerrechtlicher Vertrag, sondern wurden lediglich von der VN-Generalversammlung zur Kenntnis genommen; jedoch spiegeln sie im Wesentlichen den gegenwärtigen Stand des Völkergewohnheitsrechts.
Nach Art. 49 Abs. 1 ILC-Artikelentwürfe kann der verletzte Staat Gegenmaßnahmen (Sanktionen) gegen den Staat verhängen, der für die Völkerrechtsverletzung verantwortlich ist, um diesen Staat zur Erfüllung seiner völkerrechtlichen Verpflichtungen anzuhalten. Im Sinne dieses Artikels könnte man die beschlossenen US-Sanktionen als Gegenmaßnahmen verstehen, die eine Reaktion der USA auf die völkerrechtswidrige Annexion der Krim sowie den von Russland gesteuerten Krieg in der Ostukraine darstellen. Allerdings wäre insoweit nur die Ukraine als verletzter Staat berechtigt, Gegenmaßnahmen zu ergreifen – nicht dagegen die USA, die von den völkerrechtswidrigen Handlungen Russlands nicht unmittelbar betroffen sind.
Zwar enthält der Art. 48 Abs. 1 b) ILC-Artikelentwürfe eine Bestimmung, wonach jeder Staat zum Remonstrieren berechtigt ist, sofern eine völkerrechtliche Pflicht verletzt wurde, die der internationalen Gemeinschaft als Ganzes gegenüber besteht (Prinzip des „Weltpolizisten“). Als Rechtsfolge berechtigt Art. 48 ILC-Artikelentwürfe jedoch nicht zur Verhängung von Gegenmaßnahmen.
Auch der Rückgriff auf Art. 41 der ILC-Artikelentwürfe, der von der Zusammenarbeit aller Staaten „durch rechtmäßige Mittel“ („lawful means“) bei einer schwerwiegenden Völkerrechtsverletzung spricht, führt nicht weiter: Denn diese rechtmäßigen Mittel werden im Art. 41 der ILC-Artikelentwürfe nicht definiert, es handelt sich gerade um ein anderes Instrumentarium als die Gegenmaßnahmen nach Art. 49-54 der ILC-Artikelentwürfe. Auch Art. 54 der ILC-Artikelentwürfe spricht ebenfalls lediglich von den „sonstigen rechtmäßigen Maßnahmen“ („lawful measures“) eines jeden Staates, ohne Voraussetzungen für deren Rechtmäßigkeit zu definieren.
Insofern ist festzuhalten, dass die Bestimmungen der ILC-Artikelentwürfe keine völkerrechtliche Rechtfertigung für die beschlossenen US-Sanktionen vorsehen.
4. Die US-Sanktionen im Lichte allgemeiner Völkerrechtsprinzipien
4.1. Das völkergewohnheitsrechtliche Nichteinmischungsgebot
Ausgangspunkt der Beurteilung ist das völkergewohnheitsrechtlich anerkannte Nichteinmischungsgebot (Interventionsverbot). Dieses untersagt einem Staat, sich in Angelegenheiten anderer Staaten mit politischen, wirtschaftlichen, finanziellen oder sonstigen Mitteln einzumischen.
Das Nichteinmischungsgebot gilt aber nicht absolut: Gerade bei wirtschaftlichen Maßnahmen ist zu berücksichtigen, dass in der modernen Welt die internationale wirtschaftliche Verflechtung weit vorangeschritten ist, sodass eine ökonomische Entscheidung eines Staates automatisch die Wirtschaftsverhältnisse in einem anderen Staat beeinflussen und ihn dadurch unter Druck setzen kann. Dabei kann es nicht primär auf das vom sanktionierenden Staat verfolgte Ziel ankommen, denn dieses ist oft schwer zu bestimmen: Zwar verbinden Staaten oft bestimmte Ziele mit der Verhängung von Sanktionen, jedoch können Maßnahmen, die die Wirtschaft eines anderen Staates beeinflussen, auch ohne eine solche ausdrückliche Zielsetzung erfolgen. Eine verlässliche Beurteilung der Zwecksetzung in der Praxis wäre deswegen kaum möglich und mit äußerster Rechtsunsicherheit verbunden.
Entscheidend ist daher nicht die – offizielle oder tatsächliche – Zielsetzung des sanktionierenden Staates, sondern vielmehr die Mittel, mit denen auf den sanktionierten Staat eingewirkt wird, sowie die Intensität der Auswirkungen der Maßnahmen, die eine bestimmte Erheblichkeitsschwelle überschreiten muss.
Hierbei gilt aber auch, dass das Völkerrecht grundsätzlich kein Recht eines Staates auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit bzw. kein individuelles Menschenrecht auf die Einreise in ein anderes Land kennt, sodass der Abbruch von Handels- und Wirtschaftsbeziehungen, der Ausschluss von öffentlichen US-Aufträgen oder die Verweigerung der Einreise deutscher oder EU-Bürger für sich genommen nicht völkerrechtswidrig erscheinen.
Selbst wenn man das erklärte Ziel der USA berücksichtigen würde, auf die deutsche und die europäische Energiepolitik einzuwirken, so erscheint es sehr zweifelhaft, ob die übrigen US-Sanktionen wie zum Beispiel Vermögenseinfrierungen bzw. auch die US-Sanktionen in ihrer Gesamtheit, die erforderliche Schwelle des Interventionsverbots erreichen. Zwar mag es für die betroffenen Personen und Unternehmen ein belastender wirtschaftlicher Einschnitt bis hin zum Verlust der wirtschaftlichen Existenz bedeuten, sollten etwa ihr Vermögen in den USA eingefroren bzw. die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit US-Unternehmen unmöglich gemacht werden. Hinsichtlich der Auswirkung auf die deutsche (und europäische) Wirtschaft ist jedoch anzumerken, dass die US-Sanktionen keinen spürbaren Effekt hinterlassen dürften: Weder ist die Energiesicherheit der EU nachhaltig gefährdet, da Alternativrouten für Gaslieferungen, einschließlich der bestehenden Route über die Ukraine und Polen möglich bleiben, noch ist das Kontrahierungsverbot für die betroffenen deutschen Unternehmen und Personen so kostspielig, als dass die entstehenden Schäden nicht etwa durch staatliche Hilfen abgefedert werden könnten.
Die US-Sanktionen dürften also im Ergebnis nicht gegen das völkerrechtliche Nichteinmischungsgebot verstoßen.
4.2. Extraterritorialität von Sanktionen
Im Rahmen seiner Hoheitsgewalt ist jeder Staat berechtigt, das Verhalten von Personen und Unternehmen zu regulieren und auch zu sanktionieren. Problematisch ist die Reichweite von Sanktionen bei grenzüberschreitenden Sachverhalten (Extraterritorialität). Entscheidend ist ob ein hinreichend enger Anknüpfungspunkt (genuin link) zwischen dem sanktionierenden Staat und dem zu sanktionierenden Verhalten besteht.
Der Wirtschaftsvölkerrechtler Werner Meng beurteilte die Rechtslage schon vor über 20 Jahren wie folgt:
„Der Befund ist ernüchternd: Das Völkerrecht hat im Bereich extraterritorialer Jurisdiktion keine ausreichenden funktionalen Regeln, um Konflikte der hier erörterten Art im Bereich von Wirtschaftssanktionen zu verhindern. Grauzonenbereiche, in denen allgemeine Prinzipien vom Normsetzer nicht weiter konkretisiert werden und auch vom Richter oder Wissenschaftler nur ad hoc konkretisiert werden können, beherrschen die Rechtslage.“
Auch 20 Jahre später ist festzustellen, dass sich an diesem Befund nicht viel geändert hat. Sanktionen werden immer mehr als Instrument der Außenpolitik genutzt, nicht nur durch die USA, sondern zunehmend auch durch die EU, durch Russland oder China. Die extraterritoriale Wirkung dieser Sanktionen lässt sich, wenn überhaupt, nur vor den nationalen Gerichten des jeweiligen Staates überprüfen, der die Sanktionen erlässt. Extraterritoriale Sanktionen spielen sich daher zumeist in einer „völkerrechtlichen Grauzone“ ab.
4.2.1. Anknüpfungspunkte für extraterritoriale Sanktionen
Klassischer Anknüpfungspunkt ist das Territorium, sodass es einem Staat freisteht, innerhalb der eigenen Grenzen alle Sachverhalte verbindlich zu regeln (Territorialitätsprinzip). Ferner darf ein Staat an die Staatsangehörigkeit anknüpfen und sowohl den eigenen Staatsangehörigen im Ausland Sanktionen für ein bestimmtes Verhalten androhen (aktives Personalitätsprinzip) als auch Fehlverhalten gegenüber eigenen Staatsangehörigen im Ausland sanktionieren (passives Personalitätsprinzip). In ihrer Reichweite umstritten sind dagegen das Auswirkungsprinzip, bei dem ein Staat ein Verhalten im Ausland mit Sanktionen belegt, um erheblichen Auswirkungen auf dem eigenen Staatsgebiet entgegen zu wirken, sowie das Schutzprinzip, bei dem ein Verhalten im Ausland sanktioniert wird, welches die Sicherheitsinteressen eines Staates gefährdet.
4.2.2. Zur Sanktionspraxis der USA
Die USA legen bereits seit Jahrzehnten die Anknüpfungspunkte für extraterritoriale Sanktionen extensiv aus und verhängen weitreichende Sanktionen für ein Verhalten im Ausland, welches für sich genommen nur einen eher losen Bezug zu den USA aufweist. So gab es bereits Anfang der 1980er-Jahre einen Streitfall zwischen den USA und den europäischen Unternehmen, bei dem es ebenfalls um einen Pipeline-Bau von der damaligen Sowjetunion nach Europa ging und die USA darauf mit Sanktionen gegen die beteiligten Unternehmen antworteten. Damals argumentierten die USA eher mit der weiten Auslegung des Personalitätsprinzips, wonach auch Unternehmen, die durch US-Unternehmen oder US-Bürger beherrscht wurden, ebenfalls als US-Unternehmen behandelt wurden. Aber auch Waren, die ihren Ursprung in den USA hatten oder die mit der in den USA lizensierter Technologie hergestellt waren, wurden sanktioniert. Die damalige EWG protestierte gegen diese Sanktionen und hielt sie für völkerrechtswidrig. Schließlich konnten die Sanktionen nach den Verhandlungen zwischen den USA und der EWG aufgehoben und die Pipeline durch das Territorium der heutigen Ukraine und Polens gebaut werden. Bezeichnenderweise wird heute durch die neuen Sanktionen der USA gerade diese Pipeline in ihrem Bestand indirekt geschützt.
Auch in den folgenden Jahren verhängten die USA Sanktionen im Zusammenhang mit der Situation in Kuba, Libyen, Iran und einigen weiteren Ländern, um die Unternehmen und Personen aus dritten Ländern, die mit den genannten Ländern wirtschaftliche Beziehungen unterhielten, vom Handel mit den USA auszuschließen.
4.2.3. US-Sanktionen gegen das Nord Stream 2-Projekt
Die US-Sanktionen gegen das Nord Stream 2-Projekt sind Bestandteil der „traditionellen“ Rechtspraxis der USA, die eigene Sanktionsgewalt möglichst weit auszulegen. Die von den Sanktionen betroffenen Staaten, allen voran die EU, haben diese Sanktionen in der Vergangenheit stets als völkerrechtswidrig bezeichnet.
Auch aktuell hat der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell die von den USA beschlossenen Sanktionen gegen Nord Stream 2 ausdrücklich als völkerrechtswidrig bezeichnet. Auch die EU-Energie-Kommissarin Kadri Simson hielt die extraterritoriale Anwendung von US-Sanktionen für völker-rechtswidrig. Bundesaußenminister Heiko Maas hat sich bereits im Dezember geäußert und die US-Sanktionen wegen deren extraterritorialer Wirkung abgelehnt.
Entgegen der eindeutigen Positionierung der EU ist aber die Argumentation der USA zum Schutzprinzip nicht ganz von der Hand zu weisen. Auch wenn eine direkte Auswirkung des Nord Stream 2-Projekts auf die nationale Sicherheit der USA fern liegt, so sind mittelbare Auswirkungen nicht auszuschließen. Den USA steht es bereits nach den Ausnahmeklauseln im Freundschaftsvertrag und in den WTO-Bestimmungen frei, ihre nationalen Sicherheitsbelange eigenständig zu definieren. Die von den USA vorgetragenen Argumente zur Gefährdung der nationalen Sicherheit könnten zwar als „vorgeschoben“ empfunden werden, sind aber letztlich Ausfluss eines politischen Ermessensspielraums, der sich praktisch kaum justitiabel machen lässt. Auch existieren keine objektiven völkerrechtlichen Kriterien, um die Auslegung und Anwendung des Schutzprinzips rechtlich einzuhegen. Das Schutzprinzip wird einmal mehr seinem Ruf als „Brutstätte für Jurisdiktionskonflikte“ gerecht.
Auch das Auswirkungsprinzip könnte die extraterritoriale Sanktionsgewalt der USA jedenfalls in den Fällen begründen, in denen die Unterstützungshandlungen für das Nord Stream 2-Projekt eine Abwicklung in US-Dollar erfordern und insoweit direkte Auswirkungen auf das US-Territorium (US-Clearingstelle) entfalten.
5. Fazit
Die US-Sanktionen gegen das Nord Stream 2-Projekt machen einmal mehr die völkerrechtlichen „Baustellen“ des internationalen Sanktionsrechts deutlich. Wirtschaftlich starke Staaten haben immer schon danach getrachtet, ihre wirtschaftspolitischen Ziele gegenüber anderen Staaten durch Ausübung von wirtschaftlichem Druck durchzusetzen. Bleiben die sanktionierenden Staaten dabei „maßvoll“ unterhalb der Intensitätsschwelle, die das Völkerrecht – wenn auch nur sehr vage – für die Verletzung des Interventionsverbotes aufstellt, und berufen sie sich dabei auf den Schutz nationaler Sicherheitsinteressen und die negativen Auswirkungen auf die eigene Wirtschaft, so kann das Völkerrechts dem Ergreifen von extraterritorialen Sanktionen nur wenig entgegensetzen. Nicht zuletzt die Berufung eines Staates auf das – völkergewohnheitsrechtlich anerkannte – Auswirkungs- und Schutzprinzip eröffnet legitime Anknüpfungspunkte (genuin links) für extraterritoriale Regelungen, die zwar als „vorgeschoben“ bzw. als territoriale Überdehnung einer Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt politisch kritisiert werden können, rechtlich aber nur eingeschränkt justitiabel sind. Eine völkerrechtliche Eingrenzung solcher Anknüpfungspunkte haben u. a. die internationalen Spruchkörper der WTO zwar immer wieder vorgenommen, doch landen beileibe nicht alle extraterritorialen Sanktionen vor internationalen oder nationalen Gerichten.
Umso bedeutsamer erscheinen rechtliche Reaktionen der Staatengemeinschaft, welche die nationale Sanktionspolitik wirtschaftlicher Supermächte kommentieren und mit guten Argumenten kritisieren. Wenn es um die Zulässigkeit extraterritorialer Sanktionsgesetzgebung geht, können solche Reaktionen – neben ihren politischen Wirkungen – durchaus aber auch zur rechtlichen Schärfung strittiger bzw. interpretationsoffener Anknüpfungspunkte beitragen.
Deutschland bleibt es unbenommen, im Rahmen unterschiedlicher Formate (z. B. dem bilateralen Freundschaftsvertrag oder im Rahmen der WTO) weiterhin eine diplomatische Lösung mit den USA anzustreben. Überdies können betroffene deutsche Firmen vor den zuständigen US-Gerichten gegen die amerikanischen Sanktionsmaßnahmen klagen. Die Frage nach staatlichen Entschädigungen für die von US-Sanktionen betroffenen deutschen Unternehmen ist vor deutschen Gerichten zu klären.