Eine militärische Macht erwacht
Mit Olaf Scholz‘ Zeitenwende überwindet Deutschland seine lange militärische Verschlafenheit
Europa ist ein Kontinent, auf dem es keiner Macht gelang, Hegemonie zu erlangen. Jahrhundertelang kämpfte der französische, russische und deutschsprachige Raum um die Vorherrschaft der Landmasse, und jedes Mal kam es zu einem Patt. Der Erste und Zweite Weltkrieg sind nur ein zerstörerischer Ausdruck dieser Auseinandersetzung.
Nach 1945 begruben Deutschland und Frankreich ihre imperialen Ambitionen endgültig und fanden sich mit ihren Großmachträumen ab. Sie gelangten vorerst zur Erkenntnis, dass die Vorherrschaft über Europa nur in der Einigkeit zwischen ihnen beiden erreicht werden kann. Eine Einigung zwischen Berlin und Paris über Europa war die einzige Möglichkeit, ihrer weltpolitischen Bedeutung, die sie gegenüber den USA, China und auch der UdSSR verloren haben, wieder Geltung zu verschaffen, wie sie sie im 18. und 19. Jahrhundert hatten. Die europäische Integration ist die Inkarnation dieser Absichten. Nach der völligen Zerstörung 1945 setzte Deutschland bis zur Wiedervereinigung 1989 jeden Schritt richtig, um seinen Einfluss auf dem Festland über die Europäisierung zu erweitern.
Adenauers Westausrichtung
Konrad Adenauers erster Schritt (1949 – 1963) dazu war, sich an den Westen und Europa zu ketten, um aus der internationalen Isolation herauszukommen: „Es galt, einen Weg zu finden, der sowohl dem Sicherheitsbedürfnis der europäischen Länder Rechnung trug, als auch den Wiederaufbau Westeuropas einschließlich Deutschlands durchzuführen gestattete. Über diesen Weg würden wir auch, darüber war ich mir klar, Schritt für Schritt unsere Gleichberechtigung unter den freien Völkern der Welt zurückerlangen“, formulierte er als sein oberstes Ziel.
Die moralische Rehabilitation und Wiederaufnahme in die Staatengemeinschaft war ausschließlich mit dem Wohlwollen Frankreichs zu erreichen. Alles andere führte in die Isolation einer Koalition gegen sich: „(…) (D)ie Verbesserung der französisch-deutschen Beziehungen zum Kernpunkt meiner Politik zu machen. Ohne eine grundlegende Verständigung zwischen Frankreich und Deutschland könne eine europäische Zusammenarbeit nicht erreicht werden.“
Deutschland hat diese Aufgabe meisterhaft ausgeführt. Alles im Wissen, dass es früher oder später ohnehin seine materiellen Kräfte zurückerlangen wird und sein machtpolitisches Mitspracherecht in Europa beanspruchen wird. Unter amerikanischem Schutzschirm und europäischen Bekenntnissen stellte Deutschland seine moralische Position wieder her. Im Schatten Frankreichs, der USA und der europäischen Einigung wuchs es erneut zum wirtschaftlich stärksten Land des Kontinents, was seine Mittel zur Ausdehnung seines Einflusses wiederherstellte.
Das löste insbesondere in Frankreich Nervosität aus. Die Wiedervereinigung 1989 erhöhte das und Bundeskanzler Kohl wusste, sich an einem gewissen Scheideweg zu befinden. Entweder in Europa lautstark seinen Einfluss geltend machen oder die Gemüter vor der Angst eines mächtigen Deutschlands besänftigen. Helmut Kohl, immer in historischen Dimensionen denkend, erkannte trotz der Wiedervereinigung, dass Deutschland alleine Europa seinen Willen nicht aufzwingen konnte: „Deutschland ist zu groß, um unter Gleichen der Erste zu sein, aber zu klein, um in Europa zu dominieren.“
Mit Frankreich in Europa
Deshalb hielt er weiterhin an der Kontinuität seiner Vorgänger fest, weil es keine machtpolitische Alternative gab: „Ich verneige mich dreimal vor der Trikolore, bevor ich mich vor Schwarz-Rot-Gold verneige.“ Und: „In Chambord sagte ich Mitterrand, dass mir das deutsch-französische Verhältnis wichtiger sei als Europa.“
Mit einem deutschen Alleingang und der Loslösung von den USA, Großbritannien und Frankreich, realisierte Kohl, gab es außenpolitisch nichts zu gewinnen: „Denn ohne Deutschlands Beitrag wäre die Nato, dieser Stützpfeiler der europäischen Sicherheit, zerstört worden. Die Amerikaner hätten sich aus Europa zurückgezogen, und die Briten und Franzosen als die beiden europäischen Kernwaffenmächte hätten sich enger zusammenschließen müssen, ohne in der Lage zu sein, eine Sicherheitsgarantie für das übrige Europa zu geben. Damit hätte sich die sicherheitspolitische Statik des Kontinents entscheidend verschoben, und das wäre das Ende der europäischen Integration gewesen“, dachte er.
Der beste Weg, um Deutschlands Einfluss in Europa und in der Welt zu erweitern, war weiterhin durch die europäische Einigung und die Nato. Das sollte allerdings er selbst nicht mehr tun, sondern sein Nachfolger Gerhard Schröder, der mehr dazu neigte, Deutschlands Macht in Europa zur Schau zu stellen.
Deutsche Außenpolitik in Europa
Deutschlands Position hat sich nach der Wiedervereinigung gravierend verändert. Es wurde mit Abstand zum demografisch größten und ökonomisch stärksten Land in Europa. Deutschlands territoriales Potenzial war ausgeschöpft. Sein Fokus richtete sich nun verstärkt nach außen.
Im Zuge dessen hielt Schröder 1999 in der deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik eine beachtenswerte Grundsatzrede: „Von Berlin aus muss deutsche Außenpolitik womöglich noch klarer als bisher erkennbar sein als das, was ihr Wesen ausmacht: als Politik in Europa, für Europa und von Europa aus. Dabei bleiben die Grundorientierungen unserer Außenpolitik unverändert. Wir wissen: Der wirtschaftliche und politische Erfolg Deutschlands ist untrennbar mit der Integration in die westliche Staatengemeinschaft, in die Europäische Union und die Nato verbunden. Unseren Verbündeten und Freunden werden wir weiterhin verlässliche Partner sein. Gemeinsam mit unseren Nachbarn in Mittel- und Osteuropa müssen wir entschlossen die Chancen einer noch intensiveren Zusammenarbeit nutzen.“
Deutsche Ostpolitik: EU- und Nato-Osterweiterung
Nachdem die moralische Rehabilitation, die Europäisierung und die Wiedervereinigung vollzogen war, konnte Schröder auf dem Fundament seiner Vorgänger eine selbstbewusstere Außenpolitik verfolgen und definierte Mittel- und Osteuropa als die wichtigste Einflusssphäre Deutschlands. Sie gab dem Bundeskanzler die Möglichkeit, mit der europäischen Integration dieser Regionen ein Gegengewicht zu Frankreichs dominiertem West- und Südeuropa innerhalb Europas zu bilden, was Deutschlands Gestaltungsmacht in Europa erhöhte.
Deutschland beteiligte sich deshalb an der ersten (1999) und zweiten (2004) Nato-Osterweiterung. Zugleich sorgte Schröder 2004 für die EU-Osterweiterung. Summa summarum haben alle deutschen Bundeskanzler Deutschlands Macht ohne eskalierenden Widerstand in Europa Schritt für Schritt erhöht.
Russland: Kooperation oder Abschreckung?
Seine Nachfolgerin Angela Merkel hinterlässt, im Vergleich zu den großen Bundeskanzlern, kein strategisch bedeutendes Projekt. Stattdessen hinterließ sie ein Land, das völlig unvorbereitet vom Ukraine-Krieg erfasst wurde.
Ob bei Habsburg, Preußen oder dem Deutschen Kaiserreich, ihre außenpolitischen Eliten waren bei Russland immer in zwei Fraktionen gespalten. Die einen, die Russland mit Kooperation zu bändigen suchten. Und die anderen, die auf Abschreckung setzten, ein 200 Jahre altes Dilemma. Die wirkungsvollste Methode war eine Mischung aus Kooperation und Abschreckung.
Russland musste immer das Gefühl vermittelt werden, geopolitisch mehr verlieren als gewinnen zu können, wenn es sich von der Zusammenarbeit abwandte. Es ist aber genau die abschreckende Komponente, die seit der Wiedervereinigung Deutschlands nicht ernst genommen wurde. 2008 überfiel Russland Georgien, 2014 die Annexion der Krim und das Minsker Abkommen. Abseits aller eher halbherzigen Sanktionen zog Deutschland keine rote Linie, in der Russland mit militärischem Widerstand rechnen musste. Ganz im Gegenteil.
Appeasement-Politikerin Angela Merkel
Angela Merkel verfolgte eine Appeasement-Politik. Im Interview mit dem Spiegel hob Angela Merkel hervor, wie wichtig es beim Nato-Treffen in Bukarest 2008 war, einen Beitritt der Ukraine und Georgiens zum Militärbündnis auszuschließen, da andererseits Russland wohl militärisch geantwortet hätte. Merkel betonte, mit dem Minsker Abkommen Zeit gekauft zu haben, sich auf einen Krieg mit Russland vorbereiten zu können. Und genau das ist das Problem.
Sie sah die Gefahr Russlands, einen Pufferstaat zu verschlingen, nicht als Gefahr für Deutschland an. Es gab zu keinem Zeitpunkt in der deutschen Geschichte einen Moment, einen bedeutenden Pufferstaat aufzugeben, ohne mit der angreifenden Macht einen Kampf darüber aufzunehmen. Genau das hat aber Angela Merkel getan. 2008 bei Georgien, spätestens 2014 bei der Krimannexion war es Zeit, Deutschland entsprechend seiner Mittel aufzurüsten, um Russland zu suggerieren, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um für eine Niederlage zu sorgen.
Dass das nicht passierte, war ein gravierender strategischer Fehler, der keinem ihrer Vorgänger passierte. Ohne die USA wäre die Ukraine gefallen, ein russisches Imperium hätte sich gebildet, Weißrussland und Moldawien wären wie Dominosteine gefallen. Merkel wird wie Chamberlain als Appeasement-Politikerin in die Geschichte eingehen.
Sicherlich ist man im Nachhinein immer klüger. Heute erscheint das offensichtlich, was damals nicht der Fall war. Aber die Warnsignale waren damals wie heute deutlich. Merkel hatte sie früh genug gesehen und hätte Konsequenzen ziehen müssen, Russland auch militärisch auszubalancieren. Ihr Nachfolger, Olaf Scholz, scheint diesen Fehler zu korrigieren.
Scholz‘ Zeitenwende
„Deutschland kommt jetzt die wesentliche Aufgabe zu, als einer der Hauptgaranten für die Sicherheit in Europa Verantwortung zu übernehmen.“ Das ist wohl der wichtigste Satz, den Scholz in seinem Artikel schrieb, weil er allumfassend ist. Es ist Deutschlands Hervortreten als eine militärische Macht, die das mehrere Jahrzehnte vermieden hat.
Die Verteidigung Europas ist als Aufgabe für sich nicht einfach. Sie wird schwieriger, sollte in der Zwischenzeit ein Krieg mit China um Taiwan ausbrechen, weil es allein an Europa, im Speziellen an Deutschland liegen wird, andere Mächte auszubalancieren, weil die USA ihre Ressourcen in Asien konzentrieren mussten.
Die Aufrüstung Deutschlands ist deshalb das wichtigste Merkmal der Zeitenwende, weil sie der Eck- und Schlussstein zur außenpolitischen Handlungsfähigkeit ist, auf die die vorigen Bundeskanzler so eifrig hingearbeitet hatten. Dass diese Wandlung ohne große Verwerfungen stattfindet, ist hauptsächlich den USA zu verdanken. Denn während Deutschland aufrüstet, übernimmt die USA den größten Teil der Ausbalancierung Russlands. Man muss sagen, dass Deutschland dazu viel Glück hatte, diese Zeit geschenkt zu bekommen.
Doch darauf lässt sich keine Strategie bauen, wie es sich und den Kontinent absichern will. Die in Bezug auf Russland wichtigste zu beantwortende Frage bleibt, wie man den Ukraine-Krieg gewinnt und zugleich Moskaus imperiale Ambitionen ein für alle Mal begräbt, sodass es sich in die europäische Sicherheitsarchitektur integrieren lassen will und als potenzieller Partner, um China auszubalancieren, dienen kann.
Das Studium der letzten 200 Jahre kann hilfreich dabei sein. Sie ist eine essenziell zu beantwortende Frage, damit die Zeitenwende schließlich gelingt. Das grundsätzliche Problem für die militärische Verschlafenheit Deutschlands sind nicht die meisten Bundeskanzler, weil die meistens ein strategisches Gefühl für das Notwendige hatten, sondern seine ignoranten Eliten und die pazifistische Kultur in weiten Teilen der Bevölkerung. Die sogar so weit zu gehen bereit ist, für die eigene Haltung auch den eigenen Untergang in Kauf zu nehmen.
Muamer Bećirović erforscht Diplomatiegeschichte und internationale Politik. Im März 2023 erscheint von ihm eine Biografie über den österreichischen Diplomaten und Staatsmann der post-napoleonischen Epoche Fürst Klemens von Metternich.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 4.1.2023 im Rahmen der Open-Source-Initiative der Berliner Zeitung erschienen. Wir danken dem Autor und der Zeitung für die Erlaubnis, diesen Text auf KARENINA zu veröffentlichen.