Der Mythos von der „Ohnmacht des Westens“
Warum und wann die Radikalisierung des Putinschen politischen Programms sich manifestierte
Der vollständige Bruch mit dem Westen, den Putin am 24. Februar 2022 durch seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine vollzogen hat, steht am Ende eines langen und widersprüchlichen Prozesses. Denn zu Beginn seiner Präsidentschaft hatte Putin bekanntlich ganz andere Signale an den Westen gesendet. Warum artete dann Putins Westpolitik zu einer Konfrontation aus, deren Dimension sogar diejenige des Kalten Krieges übertrifft?
Putins kometenhafter politischer Aufstieg begann im Jahre 1999, also in einer Zeit, in der die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen, bis zum Zerreißen gespannt waren. Neben dem Kosovokrieg trug dazu auch der „zweite“ Tschetschenienkrieg bei. Die Bombardierung Serbiens wurde von der russischen Öffentlichkeit einhellig als eine „verwerfliche Bestrafungsaktion“ eines kleinen Lands durch die Nato verurteilt – nicht zuletzt deshalb, weil die damalige Aktion der westlichen Allianz ohne UN-Auftrag erfolgte.
Der Tschetschenienkrieg hingegen wurde von vielen als antiterroristischer Feldzug interpretiert, als ein Kampf gegen Kräfte, die sowohl die Sicherheit des Lands als auch seine territoriale Integrität gefährdeten. Nach einer Umfrage im September 1999 in Russland unterstützten den Einmarsch in Tschetschenien mehr als 60 Prozent der Befragten. Man sollte sich in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass zu Beginn des „ersten“ Tschetschenienkriegs (Dezember 1994) etwa 70 Prozent der Befragten den damaligen Einmarsch abgelehnt hatten.
Die Einstellung der russischen Öffentlichkeit zum Westen, vor allem zu den USA, begann sich rapide zu verschlechtern. So bewerteten noch im Dezember 1998 67 Prozent der befragten Russen ihre Einstellung zu den USA als „sehr gut“ oder „eher gut“. Diese Zahl sank im Mai 1999 auf 32 Prozent.
Die Anti-Terror-Koalition nach 9/11
Umso überraschender war angesichts dieser Sachlage die proamerikanische Wendung, die die Regierung Putin unmittelbar nach den Terrorakten vom 11. September 2002 vollzog. In seinen ersten Stellungnahmen zu den Terrorakten solidarisierte sich Putin beinahe uneingeschränkt mit Washington.
In seiner Bereitschaft, die USA im Kampf gegen den Terrorismus konkret zu unterstützen, sei der russische Präsident wesentlich weiter gegangen als viele Nato-Mitglieder, schrieb zwei Wochen nach den Terrorakten in den USA die einflussreiche Moskauer Zeitung Nesawissimaja gaseta. Putin sei hier lediglich von den engsten Verbündeten Washingtons, den Briten, übertroffen worden.
Mehrere russische Politiker riefen nun zur Beendigung der sich damals zuspitzenden Ost-West-Konfrontation und zu einer Erneuerung der Allianz zwischen Moskau und Washington aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs auf. Angesichts der tödlichen Bedrohung, die nun vom internationalen Terrorismus ausgehe, sei eine derartige Konsolidierung der Kräfte unbedingt erforderlich. Die Gegensätze zwischen West und Ost seien angesichts dieser Gefahr zweitrangig.
Die Konstellation, in der sich die neue russisch-amerikanische Annäherung vollzog, unterschied sich allerdings grundlegend von derjenigen des Jahres 1941. Am Vorabend des deutsch-sowjetischen Kriegs befanden sich die demokratisch verfassten Staaten in der wohl prekärsten Lage ihrer Geschichte. Ihre totalitären bzw. autoritären Gegner waren überall im Vormarsch. Am Vorabend der Zerstörung des World Trade Centers hingegen fand ein beispielloser Siegeszug der Demokratien statt, und zwar weltweit.
Wie Kartenhäuser fielen damals Diktaturen bzw. autoritäre Herrschaftssysteme in Osteuropa, in Lateinamerika und in Südafrika zusammen. Die USA als die Schutzmacht des Westens erreichten nun ein beispielloses Übergewicht in der Welt, und ihre hegemoniale Stellung wurde gelegentlich mit derjenigen des antiken Roms verglichen.
Dann kamen aber die Terrorakte vom 11. September. Sie zeigten, dass dieses „neue Rom“ zwar mächtig, aber nicht allmächtig war. Als weltweit engagiertes Imperium mit einem universalen missionarischen Anspruch erhielten nun die USA im islamischen Fundamentalismus einen ebenfalls global agierenden Gegenspieler, der als seine Mission die Zerstörung der westlichen Hegemonie ansah.
Dieser seit der Beendigung des Kalten Kriegs radikalste Gegenspieler des Westens bediente sich des afghanischen Taliban-Regimes als einer seiner wichtigsten Stützen, und es war klar, dass die erste Schlacht der durch Washington zusammengeschmiedeten Anti-Terror-Koalition in Afghanistan stattfinden würde. Ohne die logistische Unterstützung Russlands und anderer GUS-Staaten war aber diese Schlacht kaum zu gewinnen.
Die Bereitschaft Putins, die USA im Kampf gegen den internationalen Terrorismus zu unterstützen, rief außerordentliche Empörung bei der sogenannten nationalpatriotischen Opposition hervor. Der in diesem Lager verbreitete hysterische Antiamerikanismus wurde durch die Tragödie in New York und Washington keineswegs eingedämmt.
Hass auf die USA bei den „Nationalpatrioten“
Im Gegenteil: Die Angriffe auf den „Sieger des Kalten Kriegs“ nahmen nun einen noch gehässigeren Charakter an. Früher war es lediglich die ohnmächtige Wut, die die radikale Kritik an der einzigen noch verbliebenen Weltmacht inspirierte. Nun kam Schadenfreude hinzu.
Für einen der Vordenker des „nationalpatriotischen Lagers“, den Chefredakteur der Zeitschrift Sawtra (Morgen), Alexander Prochanow, haben die Passagierflugzeuge, die die beiden Türme des WTC zerstörten, das durch die „amerikanische Sünde“ erschütterte globale Gleichgewicht wiederhergestellt: „Das ‚Reich des Bösen’ (das sind für Prochanow die USA – L. L.) ist durch die Hand Gottes durchbohrt worden. Symbole der sichtbaren Größe sind zusammengestürzt ... Amerika hat der Welt ungeheures Leid zugefügt ... es ist sich aber keiner Schuld bewusst“.
Deshalb riet Prochanow den Amerikanern, Buße zu tun und danach von der geschichtlichen Bühne abzutreten. Erst dann werde die Welt wieder zu einem Paradies.
Diesen Hasstiraden schloss sich der Vorsitzende der russischen KP, Gennadij Sjuganow, an. In einem Interview mit der Zeitschrift Sawtra Ende September 2001 sagte er: „Seit Jahrzehnten bekämpfen die Amerikaner die gesamte übrige Welt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion verwandelte sich dieser Krieg in einen amerikanischen Triumphzug. Der Sieg der Amerikaner über die gesamte Menschheit schien nun unabwendbar ... Die schrecklichen Detonationen (von New York und Washington) sind eine einzigartige Antwort der gedemütigten und geschundenen Menschheit (auf das Vorgehen der USA). Denn alle anderen rationalen und legitimen Mittel im Dialog mit Amerika sind bereits ausprobiert worden. Ohne Erfolg.“
Danach widersprach aber der KP-Chef sich selbst und schilderte plötzlich die beiden Terrorakte als eine gigantische Intrige der „Weltregierung“ (d. h. der USA und ihrer Komplizen). Ihr „teuflischer“ Plan einer totalen Unterwerfung der Welt solle durch diese Ereignisse eine zusätzliche Legitimation erhalten.
Ähnlich bewertete die Terrorakte vom 11. September Alexander Dugin, der zu den radikalsten Kritikern der USA im postsowjetischen Russland zählt. Die Hinwendung Putins zum Westen wurde von Dugin als verhängnisvoller Fehler eingestuft.
Ähnlich wie andere russische „Nationalpatrioten“ betrachtete Dugin den islamistischen Terrorismus als ein Werkzeug der amerikanischen Geheimdienste, das während des Kalten Kriegs gegen die damals noch existierende Sowjetunion verwendet worden sei. Eine gewisse Verselbständigung der terroristischen Strukturen der Islamisten hielt Dugin zwar für möglich. Er betrachtete es aber als ausgeschlossen, dass diese Gruppierungen über eine vollständige Autonomie und über eigene geopolitische Strategien verfügten.
Nicht der islamistische Fundamentalismus, sondern „Eurasien“ mit seinem russischen Kern, so die von Dugin herausgegeben Zeitschrift Eurasische Umschau sei der eigentliche Kontrahent Washingtons bei der Verwirklichung seiner „globalistischen“ Pläne. Die amerikanische Führung habe die Ereignisse vom 11. September zum Vorwand genommen, um ihren russischen Rivalen zusätzlich zu schwächen. Das geopolitische Glacis Russlands in Zentralasien (zentralasiatische GUS-Republiken) entziehe sich nun dem Einfluss Moskaus und gerate in die amerikanische Einflusssphäre.
Trotz dieser antiamerikanischen Hasskampagne der „Nationalpatrioten“ setzte die Moskauer Führung ihren Kurs konsequent fort. Der Eintritt Russlands in die Anti-Terror-Koalition, die sich nach der Tragödie vom 11. September gebildet habe, sei selbstverständlich gewesen, betonte im April 2002 der russische Außenminister Igor Iwanow. Dies habe den russischen Sicherheitsinteressen entsprochen.
Die „farbigen Revolutionen“ als Zäsur
Einige Jahre später veränderte aber die russische Führung ihren Kurs und kehrte zur früheren antiwestlichen Rhetorik zurück. Anders als oft vermutet hatte dieser Paradigmenwechsel nur begrenzt mit dem von George W. Bush im März 2003 initiierten Irak-Krieg zu tun. Zwar lehnte Moskau diesen Krieg vehement ab, Ähnliches taten aber auch Berlin und Paris. So befand sich Russland nach dem Ausbruch des Irak-Kriegs mit mehreren westlichen Ländern quasi in einem Boot.
Auch die Osterweiterung der EU hielt man damals in Moskau nicht für eine eminente Gefahr. Als im Mai 2004 sieben Staaten, die bis zu den friedlichen Revolutionen von 1989 bis 1991 Bestandteil des „inneren“ bzw. „äußeren“ Sowjetimperiums (Ostblock) gewesen waren, der EU beitraten, bewertete Putin diese Entwicklung sogar als einen Vorgang, der Russland und die EU „nicht nur geografisch, sondern auch wirtschaftlich und geistig näherbringen könnte“.
All das änderte sich jedoch nach der im November 2004 begonnenen ukrainischen „Orangen Revolution“. Die Tatsache, dass die ukrainische Zivilgesellschaft imstande war, auf die Wahlmanipulationen mit Massenprotesten zu reagieren und Neuwahlen zu erzwingen, rief im Kreml nun panische Reaktionen hervor. Vergleichbare Entwicklungen wurden auch für Russland befürchtet.
So begann in den staatlich kontrollierten russischen Medien eine Kampagne, die die „farbigen Revolutionen“ diskreditieren sollte. Sie galten den Moskauer Propagandisten nicht als spontane Erhebungen der Bevölkerung gegen die politischen Missstände im jeweiligen Land, sondern als von außen gesteuerte Versuche, Russlands Einfluss im „nahen Ausland“ zu unterminieren.
Seit etwa 2005 begann man auch in Moskau das Konzept der „souveränen Demokratie“ zu entwickeln, das sich mit dem Namen des Kremlideologen Wladislaw Surkow assoziiert. Die „souveräne Demokratie“ lasse sich in ihrer Innen- und Außenpolitik durch keine äußeren Faktoren beeinflussen, gehe ihre eigenen Wege, die sich grundlegend von denjenigen des Westens unterscheiden.
Um vergleichbare Entwicklungen wie in der Ukraine zu verhindern, intensivierte die Moskauer Führung auch den bereits etwa 2000 begonnenen Prozess der Demontage der zivilgesellschaftlichen Strukturen, die sich seit Ende der 1980er entwickelt hatten.
Auch die antiwestliche Rhetorik Moskaus verschärfte sich nun unentwegt. Besonders drastisch zeigte sich das in der Rede Putins auf der Münchner Sicherheitskonferenz vom Februar 2007. Dort warf er den USA vor, dass sie sich wie ein alleiniger Beherrscher der Welt gebärdeten. Sie mischten sich in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten ein, ohne die Prinzipien des Völkerrechts zu achten.
Diese moralisierende Attitüde Putins wirkt, angesichts der heutigen Ukraine-Politik Moskaus besonders bizarr.
Euromaidan und Krim-Annexion
Die Ereignisse des Kiewer Euromaidan intensivierten zusätzlich die Ängste der Putin-Riege. Man war sich in Moskau sicherlich darüber im Klaren, dass dieser demokratische Aufbruch an der Grenze der Ukraine, die sprachlich mit Russland so eng verwandt ist, nicht stehen bleiben werde.
Dies umso mehr, als die Massenproteste der russischen Regimekritiker gegen die manipulierten Dumawahlen vom Dezember 2011 der Kreml-Führung wohl noch frisch in Erinnerung waren. Dies war wahrscheinlich der wichtigste Grund für die Entscheidung der Moskauer Führung, die Ukraine für ihre „europäische Wahl“ zu bestrafen, und nicht, wie offiziell behauptet, die Sorge um das Schicksal der russischen Minderheit auf der Krim und in der Ostukraine.
Der am 27. Februar 2015 ermordete russische Regimekritiker war sich darüber völlig im Klaren. In einem Interview mit der regimekritischen Zeitung Nowaja gaseta vom April 2014 sagte er: Es gehe Putin keineswegs um die Verteidigung der Interessen der Russen auf der Krim. Diesbezügliche Erklärungen des russischen Präsidenten stellten ein reines Pharisäertum dar. Was Putin in erster Linie interessiere, sei die Sicherung seiner Macht in Russland selbst, so Nemzow.
Die Tatsache, dass die russische Annexion der Krim sich in einem Jahr ereignete, in dem sich der Erste Weltkrieg zum hundertsten Mal jährte, veranlasste viele Analytiker zu Warnungen und Mahnungen. Die Europäer sollten nun nicht wie ihre „schlafwandelnden“ Vorfahren unversehens wieder in eine Kriegsfalle tappen: „Ist es eine Zahlenmagie, dass diese Krise 100 Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs auftaucht?“, fragte Die Zeit den russischen Kulturphilosophen Michail Ryklin.
Und die Antwort Ryklins lautete: „Es herrscht eine Stimmung, als könne etwas Unerwartetes passieren. Das legt Vergleiche mit 1914 nahe“.
Diese Beschwörung einer Kriegsgefahr mitten in Europa stellte eine Art Zäsur in der europäischen Nachkriegsgeschichte dar. Man darf nicht vergessen, dass der „alte“ Kontinent damals, wenn man von dem lokal begrenzten Krieg im ehemaligen Jugoslawien absieht, auf eine beinahe 70-jährige Friedensperiode, eine der längsten in seiner Geschichte, zurückblicken konnte.
Warum entschied sich dann Putin zu einer derart riskanten Aktion wie die Annexion der Krim, die Europa an den Rand eines Kriegs brachte, und Russland auf der internationalen Bühne beinahe gänzlich isolierte? Vieles spricht dafür, dass der Kreml-Herrscher davon ausging, dass der Westen nicht imstande sein werde, auf diese eklatante Verletzung der internationalen Spielregeln durch Moskau entschlossen zu reagieren.
Man darf nicht vergessen, dass die Krim-Annexion sich in der Zeit der Rückzugsstrategie der Obama-Administration ereignete, die von manchen westlichen Sicherheitsexperten als riskant und wenig durchdacht betrachtet wurde, weil sie in einigen Regionen der Welt ein gefährliches Machtvakuum hinterließ: „So schwach wie heute war der Westen noch nie“, schrieb Bernd Ulrich in der Zeit vom 28.8.2014.
Zwar ließ Ulrich durch diese apodiktische Feststellung die Tatsache außer Acht, dass die Krise der westlichen Demokratien in den 1930er-Jahren noch tiefer gewesen war als zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Dennoch ließ es sich nicht leugnen, dass die USA in der Zeit Obamas im Allgemeinen als führungsschwach galten, was Putin mit seinem Krim-Abenteuer auszunutzen suchte.
Aber die Pläne der imperial gesinnten Kräfte im damaligen Russland gingen bekanntlich weit über die Krim hinaus. Während des sogenannten russischen Frühlings im Frühjahr 2014 wollten sie auch das „Neurussland“-Projekt verwirklichen, und den russischen Einfluss auf den ganzen Südosten der Ukraine ausdehnen: „Entweder der Südosten oder der Tod“, schwadronierte im April 2014 der bereits erwähnte Alexander Dugin, der zu den radikalsten Verfechtern des „Neurussland“-Projekts zählte.
Dennoch distanzierte sich Putin damals von der sofortigen Verwirklichung dieses Projekts. Dies hatte wohl mit der für ihn sicherlich unerwarteten entschlossenen Reaktion des Westens auf sein Krim-Abenteuer wie auch auf den von Moskau geschürten „hybriden Krieg“ in der Ostukraine zu tun. Acht Jahre später, nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine befanden sich indes Putin und die Verfechter des „Neurussland“-Projekts in einem Boot und bedienten sich im Grunde der gleichen Diktion.
Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine
Warum fand in der letzten Zeit eine zusätzliche Radikalisierung des Putinschen Kurses statt? Warum begann er, ähnlich wie die radikalsten Verfechter der imperialen Revanche in Russland (Dugin, Prochanow u. a.) in Endzeitkategorien zu denken und dem Westen mit einer Art „Endkampf“ zu drohen?
Dies hatte vermutlich damit zu tun, dass er an den von ihm mitfabrizierten Mythos von der „westlichen Dekadenz“ zu glauben begann. Er ging, ähnlich wie Alexander Dugin, anscheinend davon aus, dass die westliche Allianz nach ihrem Debakel in Afghanistan im Sommer 2021 ihre Handlungsfähigkeit gänzlich eingebüßt habe und dass sie die von ihm geplante Zerstörung der ukrainischen Staatlichkeit widerstandslos hinnehmen würde.
Nicht zuletzt deshalb ist die These solcher Autoren wie John J. Mearsheimer, die Putins zerstörerische und selbstzerstörerische Entscheidung vom 24. Februar 2022 durch seine Angst vor der angeblich „so gefährlichen“ und andauernd expandierenden Nato begründen, wenig überzeugend. Nicht die Stärke der Nato veranlasste Putin zu seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine, sondern eher die von ihm fälschlich angenommene Schwäche der westlichen Allianz.
Um die damaligen Beweggründe der Moskauer Führung besser verstehen zu können, sollte man vielleicht einige Gedankengänge Alexander Dugins zitieren, dessen Endkampfideologie dem politischen Programm Putins immer ähnlicher wird. Bereits im April 2021 sprach Dugin vom „Endkampf der Menschheit gegen den Liberalismus“, und im September 2021 fügte er seinem „Endkampfszenario“ folgende Sätze hinzu:
„Die unipolare Welt bricht vor unseren Augen zusammen. Sie befindet sich schon seit geraumer Zeit (seit dem 11. September 2001) auf einer Abwärtsspirale, aber in diesem Schlüsseljahr 2021 … fanden einige symbolische Ereignisse statt, die das Ende der Unipolarität unumkehrbar machten. … Diese Situation ist einzigartig. Noch nie in den letzten Jahrzehnten war die US-Politik so widersprüchlich, inkonsequent und schlichtweg erfolglos. … Genau das sollte sich Russland jetzt aktiv zunutze machen. … Hier bietet sich die Gelegenheit für ein großes kontinentales Projekt von Lissabon bis Wladiwostok (im Geiste von Thiriart-Putin). … (Dies ist) unsere historische Chance. Es wäre ein Verbrechen, sie zu verpassen.“
Die Frage, ob Putin diesen Text Dugins kannte, ist schwer zu beantworten. Er handelte allerdings im Sinne der hier zitierten Äußerungen Dugins, als er im Dezember 2021 der westlichen Allianz in ultimativer Form seine im Grunde unannehmbaren Forderungen stellte, und am 24. Februar die Ukraine angriff.
Begründet wurde dieser Angriff durch die These, dass die Ukraine sich als eine Art „Anti-Russland“, als „Antipode“ zu Russland inszeniere (vgl. dazu auch den Artikel Putins „Über die historische Einheit der Russen und der Ukrainer“ vom Juli 2021). In Wirklichkeit entwickelt sich aber die Ukraine seit der „Orangen Revolution“ von 2004 bzw. seit dem „Euromaidan“ von 2013/14 nicht zu einem „Gegenpol zu Russland in seiner Gesamtheit“, sondern zu einem „Gegenpol zum Putinschen Regime“, das seine Bevölkerung gänzlich entmündigt und das Land aus der Moderne quasi herauskatapultiert.
Die Tatsache, dass die Ukraine seit 2004 bzw. seit 2014 einen ganz anderen Weg geht, ruft im Kreml außerordentliche Irritationen und panische Ängste hervor. Die angebliche Schwäche der westlichen Allianz, die sich bei ihrem Afghanistan-Debakel vom August 2021 offenbart hatte, hielt man im Kreml wahrscheinlich für eine günstige Voraussetzung, um mit Hilfe eines „kleinen und siegreichen Kriegs“ (Wjatscheslaw von Plehwe) die „europäische Wahl“, die die Ukraine getroffenen hatte, ungeschehen zu machen. Die Rechnung der Kremlführung ging aber bekanntlich nicht auf.
Als dieser Text geschrieben wurde, kam die Nachricht, dass die Tochter von Alexander Dugin, Darja, die sich als Mitstreiterin ihres Vaters verstand, durch eine Autobombe getötet wurde. Manche Kommentatoren vermuten, dass dieses Attentat wohl Dugin selbst gegolten hat.
Dies ist eine geringfügig revidierte Fassung einer Kolumne, die am 25. August 2022 im Online-Debattenmagazin Die Kolumnisten erschienen ist. Wir danken dem Autor für die Erlaubnis, seinen Text auf KARENINA zu veröffentlichen.