Neuen Kalten Krieg abwenden

Der Fall Nawalny ist zur politischen Fessel geworden, für den Westen und für Russland

Am Tiefpunkt: der russische Außenminister Sergei Lawrow und der EU-Außenbeauftrage Joseph Borrell am 5. Februar in Moskau

Der Westen darf nicht akzeptieren, dass gegen einen Oppositionellen wie Alexei Nawalny in Russland ein international geächteter Kampfstoff eingesetzt wird. Dies hätte in Russland sofort zu einer Untersuchung führen müssen. Und die Mitglieder des Europarats, also nicht nur die EU, dürfen nicht akzeptieren, dass Russland als Europaratsmitglied die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte missachtet. Dies aber ist im Fall Nawalny geschehen: Nawalnys neuerliche Verhaftung und Verurteilung sind eine Missachtung des Europäischen Gerichtshofs.

Russland wiederum sieht sich durch die weltweite mediale Unterstützung von Nawalny auf der Anklagebank. Präsident Putin wird von Nawalny in seinen Videos und Gerichtsauftritten, die über die sozialen Netzwerke in alle Welt übertragen werden, mit Spott und Hohn überschüttet. Wenn mehr als hundert Millionen Menschen sich ein russischsprachiges Video mit Korruptionsvorwürfen gegen Putin anschauen, dann zeigen daran nicht nur Russen im Ausland Interesse, sondern auch Dutzende von Millionen Menschen in Russland.

Ist aber dieses Interesse an Nawalny und seinen Untersuchungen gleichzusetzen mit einer Solidarisierung? Das könnte meinen, wer auf den ersten Blick die Demonstrationen der letzten Zeit in zahlreichen russischen Städten anschaut, die nahezu live von zwei völlig unterschiedlichen Internet-Kanälen aus Russland übertragen wurden.

Der zweite Blick zeigt jedoch bemerkenswerte Unterschiede: Auf dem Facebook-Kanal von Nawalny waren bei den Straßendemonstrationen fast nur Moderatoren und Teilnehmer zu hören, die Nawalnys Entlassung aus der Haft als Ziel nannten. Auf dem Internet-Kanal des oppositionellen Fernsehsenders Doshd hingegen waren nachdenkliche Moderatoren zu hören, die kritisch nachfragten, wer und warum sich die Menschen auf der Straße versammelten.

Und siehe da: Es kamen häufig Nicht-Anhänger von Nawalny zu Wort, die ihrem Verdruss über die politische, wirtschaftliche und soziale Lage in Russland äußerten, sich aber ausdrücklich nicht zu Nawalny bekannten. Außerdem zeigte Doshd auch viele Passanten, die „einfach so“ schauen wollten, was da los war.

Nawalnys politische Positionen bleiben unklar

Das alles schmälert nicht die Bedeutung des Protests und rechtfertigt weder den brutalen Zugriff der russischen Sicherheitskräfte noch die Massenfestnahmen auf der Straße. Es zeigt aber uns im Westen, dass wir uns über den Fall Nawalny auch analytisch Rechenschaft ablegen müssen. Denn neben dessen Kampf gegen die Korruption bleiben seine politischen Positionen eher im Unklaren.

Nawalny will ursprünglich nationalistische und fremdenfeindliche Positionen abgelegt haben. Die von ihm befürwortete Annexion der Krim will er jetzt durch ein Referendum bestätigt sehen. Und ein populistischer Zug zeigt sich, wenn man sich mit seinen teilweise sehr gebildeten jungen Anhängern außerhalb Moskaus wie zum Beispiel in Nowosibirsk unterhält.

Nawalny erregt Aufsehen und Protest. Seinen Bekanntheitsgrad hat er in Russland von ursprünglich nur wenigen Prozent auf mehr als 78 Prozent steigern können. Doch das sind nicht 78 Prozent Zustimmung, wenn man den Umfrageergebnissen des russischen Lewada-Zentrums folgt, das auch im Westen als sehr angesehenes Meinungsforschungsinstitut gilt. Demnach würden bei einer Präsidentschaftswahl nur zwei Prozent der Wahlberechtigten für Nawalny stimmen. Das mögen inzwischen mehr sein, aber sicher keine Mehrheit.

Gleichwohl „fesselt“ Nawalny seine Anhänger und Gegner gleichermaßen und wird zum Symbol für das Selbstverständnis des russischen Staats, seines Rechtsverständnisses und für den Umgang mit seinen Bürgern. Und es zeigt sich, dass die Rechtsstaatlichkeit in Moskau und im Westen unterschiedlich definiert wird.

Internationale Normen sind zu achten

Die heftigen Vorwürfe, die Außenminister Sergei Lawrow kürzlich in Moskau gegenüber dem EU-Außenbeauftragen Joseph Borrell formulierte, stammen aus der Zeit des Kalten Kriegs. Gerade weil wir auf einen Tiefpunkt der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen zusteuern, müssen wir die Geschichte dieser Beziehungen bemühen, um einen Ausweg aus der Sackgasse zu finden.

Es wäre zu einfach, nach dem Muster des system change immer nur die Anpassung Russlands an unsere politische Struktur zu fordern. Wenn dies eine Grundforderung wäre, dürften wir mit China, Singapur, Saudi-Arabien und vielen anderen Staaten keine Geschäfte mehr machen. Kein Staat der Welt hat das Recht, einem anderen eine Gesellschaftsform vorzuschreiben.

Aber es gibt internationale Organisationen wie die UN und den Europarat, die die Einhaltung verbindlicher, gemeinsam vereinbarter Normen verlangen. Daran muss man sich international messen lassen. Darüber hinaus gibt es regionale Wirtschaftsinteressen, eine gemeinsame Kulturgeschichte und zunehmend familiäre Beziehungen, die Russland und Europa, insbesondere aber auch Russland und Deutschland verbinden. Wie ist das in Einklang zu bringen mit der verschärften politischen Tonlage auf beiden Seiten?

Kalter Krieg: ein Blick zurück

Dazu sei eine Rückblende erlaubt: Unter Bundeskanzler Helmut Schmidt wurde 1981 ein Erdgasvertrag mit der Sowjetunion unterzeichnet mit einer Laufzeit von 25 Jahren und ein Volumen von 400 Milliarden DM. Die USA drohten mit Konsequenzen, weil die Bundesrepublik sich in sowjetische Abhängigkeit begäbe. Helmut Schmidt argumentierte, dass die Sowjetunion mit den Erträgen aus dem Erdgasgeschäft die amerikanischen Weizenlieferungen bezahlen könne.

Damit war die internationale Verflechtung klargeworden, in die auch die USA eingebunden sind. Nicht anders ist es bei den heutigen Erdgaslieferungen. Seit fast zehn Jahren liefert Nord Stream 1 etwa 55 Milliarden Kubikmeter Gas jährlich aus Russland in den Westen, ungeachtet der Konjunktur unserer politischen Beziehungen.

Bei den parallel verlegten neuen Rohrleitungen von Nordstream 2 soll plötzlich alles ganz anders sein. Auch hier haben sich die USA klar dagegen positioniert. Gleichzeitig haben die USA ihre Ölimporte aus Russland dermaßen gesteigert, dass Russland zur Zeit der zweitgrößte Öllieferant für die USA geworden ist.

Man kann das auch als gutes Zeichen sehen: Die USA haben keine Probleme, mit jedem Land der Welt Geschäfte zu machen, wenn es ihren Interessen dient. Warum soll das kein Vorbild für die eigenen Verbündeten sein?

Diese Rückblende auf die wirtschaftlichen Beziehungen zeigen nur, dass es trotz aller Kalter-Krieg-Polemik immer gemeinsame Interessen gab und gibt. Nicht zuletzt die Corona-Pandemie lässt uns auch mit Russland wieder zusammenrücken, wenn die EU wirklich russischen Impfstoff zulassen und nutzen will.

Der russische Pharma-Konzern R-Pharm betreibt derzeit an seinem deutschen Standort in Illertissen im bayerisch-schwäbischen Landkreis Neu-Ulm den Aufbau einer Produktionsanlage für einen Impfstoff gegen Corona mit einer Kapazität von 500 Millionen Impfdosen jährlich. Diese sind aber nicht für die EU gedacht, sondern für 35 andere Staaten auf der Welt. Es sei denn, es gäbe eine Zulassung durch die EU.

Es gibt also Anlass, an der Abwendung eines drohenden Kalten Kriegs zu arbeiten, auf russischer Seite ebenso wie auf deutscher.

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