USA gegen Sassnitz
Nord Stream 2: Wie der US-Kongress eine kleine Gemeinde in Vorpommern unter Druck setzt
Seit fast einem Vierteljahr sieht sich ein kleiner vorpommerscher Wirtschaftshafen als Spielball der Weltpolitik. Es geht um Sassnitz-Mukran auf der Insel Rügen, wo jahrelang zigtausende Stahlröhren mit Beton beschwert und über die Kaikante zu den Verlegeschiffen transportiert worden sind, welche die Erdgas-Pipeline Nord Stream 2 auf den Ostseegrund bringen.
Vorigen Dezember sorgten massive Strafandrohungen des US-Kongresses dafür, dass sich die beiden Verlegeschiffe der Schweizer Firma „Allseas“ zurückzogen. Seit August 2020 erhöhen die USA den Druck auf all jene europäischen Unternehmen, die sich jetzt noch an der Fertigstellung der letzten 150 Leitungskilometer beteiligen – auch auf den Hafen Mukran.
15. Oktober 2020 im vorpommerschen Industriehafen Lubmin: Dort – direkt am Greifswalder Bodden – haben sich Unternehmen wie Deutsche Ölwerke Lubmin angesiedelt, die hochwertige Schmieröle herstellen und in 80 Länder verkaufen. Die großen geschwungenen, silberglänzenden Röhren im Nachbarbereich gehören zur zweiten Gas-Anlandestation am Lubminer Standort.
Die erste nimmt russisches Gas aus der 2011 fertiggestellten Ostseepipeline Nord Stream auf und schickt es weiter auf die Reise über Land durch Deutschland und Westeuropa. Die andere sollte bereits seit einigen Monaten arbeiten. Doch noch kommt aus der Paralleltrasse Nord Stream 2 kein russisches Gas an.
Umso mehr freue man sich über den hohen Besuch aus Schwerin, sagt Steffen Ebert. Der „Nord Stream 2“-Sprecher für Deutschland meint Manuela Schwesig, die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern.
„Die Anlandestation hier in Lubmin für Nord Stream 2 ist bereits seit Ende letzten Jahres technisch betriebsbereit“, sagt er. Es werde noch an der Asphaltierung der Straßenwege gearbeitet, ein bisschen Rostschutz aufgetragen. „Aber die Anlage ist per se betriebsbereit.“ Davon habe sich die Ministerpräsidentin ein eigenes Bild gemacht.
Ministerpräsidentin Schwesig kämpft
Manuela Schwesig ist davon überzeugt, dass die Industrienation Deutschland nach der Stilllegung des letzten deutschen Atomkraftwerkes 2022 und der letzten Kohlekraftwerke bis 2038 übergangsweise noch Gas für eine stabile Energieversorgung benötigen wird. Dafür sei Nord Stream 2 wichtig. Das Problem: Es fehlt noch ein Teilstück südöstlich vor Bornholm, um die Doppelleitung fertigzustellen, wie Steffen Ebert erklärt.
„Unterm Strich sind das ungefähr sechs Prozent der Gesamtlänge der Rohrleitungslänge, die wir gebaut haben – zwei Stränge à 1230 Kilometer“, sagt Ebert. Es gebe noch eine Lücke von rund 75 Kilometern zwischen den Enden in Dänemark und in Deutschland. Das sei Ergebnis der Sanktionsandrohungen der USA, weshalb Ende vorigen Jahres die Verlegearbeiten gestoppt werden mussten. „Wir suchen immer noch Lösungen für den Weiterbau. Wir haben das große Ziel, dies so schnell wie möglich abzuschließen, um schnellstmöglich auch über diese neue Leitung Erdgas von Russland nach Europa zu liefern.“
Wie schon beim ersten Ostseepipeline-Projekt habe man auch jetzt in der Landes- wie Kommunalpolitik von Mecklenburg-Vorpommern zuverlässige Partner gefunden, ergänzt der Sprecher von Nord Stream 2.
Umgekehrt hätten die Lubminer ihre russischen Geschäftspartner und Russland selbst immer als verlässlich und berechenbar erlebt, sagt Bürgermeister Axel Vogt. Er meint damit die generelle Vertragserfüllung bei der Gasversorgung Deutschlands, die sogar in Zeiten des Kalten Kriegs für die DDR wie die Bundesrepublik gleichermaßen funktioniert habe.
Verlässlich seien die Russen auch beim Einlösen ihrer Investitionsankündigungen, ergänzt der 54-Jährige, der als Chef des Zweckverbands Industriehafen Lubmin unmittelbaren Einblick hat. „Russland ist stets ein zuverlässiger Partner gewesen“, sagt er. „Auch bei den weiteren russischen Investments. Deutsche Ölwerke Lubmin beispielsweise hat auch einen russischen Hintergrund, gehört jetzt zur Ravenol Gruppe. Auch da steht ein russisches Investment hinter. Und all das sind immer verlässliche wirtschaftliche und auch für uns lokalpolitische Gegebenheiten gewesen.“
Je nach der durchgeleiteten Gasmenge erhält die Gemeinde Lubmin allein aus dem Betrieb der Gas-Empfangsstation Nord Stream 1 jährlich eine bis eineinhalb Millionen Euro aus der Gewerbesteuer. Durch Nord Stream 2 würde die Gemeinde noch mehr einnehmen. Doch daran ist im Moment nicht zu denken.
Im Dezember 2019 zog die Schweizer Firma ALLSEAS ihre beiden hochspezialisierten Verlegeschiffe aus der Ostsee ab. Sie ließen die als Doppelstrang angelegte Nord-Stream-2-Trasse unvollendet zurück. Der Grund: Die US-Regierung hatte zuvor allen Unternehmen das Abschneiden vom US-Wirtschafts- und Finanzmarkt angedroht, die sich an der Fertigstellung der Ostseepipeline Nord Stream 2 beteiligen.
Drohbrief aus den USA
Der unfreiwillige Baustopp ist auch auf der Insel Rügen zu spüren, genauer gesagt am Hafen Sassnitz-Mukran. Dort lagern noch immer die letzten 15000 von insgesamt 200000 Rohren. Auf dem Hafengelände mit Beton ummantelt, sollen auch sie nun noch über die Kaikante auf Transportschiffe gehievt und von dort zum Verlegeort vor Bornholm gebracht werden. Womöglich durch das russische Schiff „Akademik Tscherski“, das zuletzt wochenlang in Mukran lag, dort technisch umgerüstet worden ist und sich laut dem NDR derzeit in russischen Gewässern vor der Küste der Kurischen Nehrung befindet.
Doch Anfang August ging ein Drohbrief von drei US-Senatoren aus dem mächtigen Auswärtigen Ausschuss bei der Fährhafen Sassnitz GmbH ein. Die betreibt den Wirtschaftshafen Mukran und gehört zu 10 Prozent dem Land Mecklenburg-Vorpommern und zu 90 Prozent der Stadt Sassnitz.
Darin weisen die Senatoren ihre Adressaten darauf hin, dass das bereits zu Obama-Zeiten verabschiedete Sanktionsgesetz „zum Schutz gegen Feinde Amerikas“ verschärft worden sei. Die Folge für die Fährhafen Sassnitz GmbH, die neben dem Sassnitzer Stadthafen auch den einige Kilometer südlich gelegenen Wirtschaftshafen Mukran betreibt: Weil Mukran bei der Verlegung der Pipelinerohre helfe und russische Schiffe beherberge, drohten den Geschäftsführern und Gesellschaftern persönliche Einreiseverbote. Zum anderen werde man die Fährhafen Sassnitz GmbH „kommerziell und finanziell abschneiden“ vom US-amerikanischen Finanz- und Wirtschaftsmarkt.
Sorge um Sassnitz‘ Zukunft
Auf den ersten Blick kein Problem, denn Sassnitz-Mukran ist weder auf dem US-Markt aktiv noch hat er US-amerikanische Geschäftspartner. Doch die Drohung umfasst auch Geschäfts- und Projektpartner, die ihrerseits US-Geschäftskontakte pflegen. Die könnten, das begriffen die Sassnitzer rasch, den Hafen Mukran quasi als durch Nord Stream 2 „kontaminiert“ betrachten und bei einer Zusammenarbeit ihrerseits den Bannstrahl aus Washington fürchten. Gut möglich, so der Sassnitzer Bürgermeister Frank Kracht, dass ein Reeder, der irgendwo auch Verbindungen zu den USA hat, seine Schiffe künftig lieber nicht über Mukran laufen lassen werde.
„Ich und die Geschäftsführung nehmen diese Bedrohung sehr, sehr ernst“, sagt Bürgermeister Vogt. Dem Sanktionsgesetz habe ja nicht nur eine Partei zugestimmt, sondern parteiübergreifend eine sehr, sehr große Mehrheit des Kongresses. Deshalb sei es gleichgültig, wer im November zum Präsidenten der USA gewählt wird. „Ob er Trump heißt oder Biden, diese Bedrohung steht im Raum. Ich weiß nicht, ob Projektgeschäfte so einfach über die Bühne gehen, weil Firmen, die einen Ansiedlungswunsch in Mukran haben, vielleicht zurücktreten, weil sie auch im Golf von Mexiko tätig sind oder in den Vereinigten Staaten und dann selber Sanktionen zu befürchten zu haben.“
Die Fährhafen Sassnitz GmbH beauftragte einen Sanktionsrechtexperten, der sich die Drohungen mit juristischem Sachverstand anschauen sollte. Ergebnis: „Viele Drohungen mögen der politischen Absicht der US-Senatoren entsprechen“, seien aber „noch nicht in Gesetzestexten verankert“. Es gehe offenkundig darum, Angst zu schüren mit dem Ziel, dass sich die Beteiligten selbst und vorauseilend aus dem Pipeline-Projekt zurückziehen.
Keine Antwort von Trump
Diese Sorge teilt auch der CDU-Stadtverband Sassnitz – und schrieb nach Amerika. Mit einer E-Mail vom 14. August an das Weiße Haus luden sie US-Präsident Trump sowie die drei Briefschreiber aus dem Senat auf ihre Insel Rügen, in die kleine Hafenstadt Sassnitz und zu einem Besuch des Wirtschaftshafens Mukran ein. Es kam nicht einmal eine Eingangsbestätigung.
Anders Manuela Schwesig: Die Ministerpräsidentin besuchte im August eine Betriebsversammlung im Hafen Mukran, und zwar nach dem Giftanschlag auf den russischen Oppositionellen Alexander Nawalny. Diese bis heute nicht aufgeklärte Tat schob das Projekt Nord Stream 2 noch einmal mit besonderer Wucht in den Fokus von Politik und Öffentlichkeit. Sofort forderten Kritiker aus Polen, einigen baltischen Hauptstädten und Deutschland das Ende von Nord Stream 2.
Schwesig versuchte, das eine vom andern zu trennen: „Das Verbrechen gegen Herrn Nawalny muss aufgeklärt werden“, sagte sie, „aber es darf nicht dazu genutzt werden, die Ostsee-Pipeline zu verhindern. Wir sind kurz vor der Fertigstellung. Deutschland braucht diese Energieversorgung, und die Bundesregierung darf es nicht zulassen, dass amerikanische Politiker Institutionen deutscher Arbeitsplätze bedrohen.“
Mitte September setzte sich Schwesig in einer Bundestagsdebatte als Gastrednerin der SPD-Fraktion kampfeslustig mit dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen auseinander, Nord Stream 2 unverzüglich zu beerdigen. Es handle sich um ein rein privates und rechtsstaatlich genehmigtes Infrastrukturprojekt mehrerer europäischer Energieunternehmen, so Schwesig.
Außerdem sei auch Mecklenburg-Vorpommern für Klimaschutz und für die Energiewende weg von Atom- und Kohlestrom hin zu Energiequellen aus erneuerbaren Ressourcen. Doch gerade eine Industrienation wie Deutschland sei auf sichere Übergangstechnologien angewiesen. „Sie können wählen zwischen russischem Gas aus der Ostsee-Pipeline, wie wir es aus Nord Stream 1 beziehen, oder – und das forcieren Sie – amerikanischem Fracking-Gas“, sagte sie.
Schwesig beklagte, „dass die USA den kleinen Hafen Mukran zum Spielball von Weltpolitik macht und dort Geschäftsführung und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bedroht, obwohl die nichts Unrechtes getan haben; die ummanteln nämlich nur die Rohre von einer Pipeline, die rechtsstaatlich genehmigt ist. Dass diese Drohungen möglich sind von einer befreundeten Nation, der wir in diesem Jahr 30 Jahre Wiedervereinigung mit zu verdanken haben, ist ungeheuerlich. Und da würde ich von Ihnen Unterstützung erwarten. Und für die Bürgerinnen und Bürger in unserem Bundesland.“
Sorge auch in Lubmin
In Lubmin am Greifswalder Bodden, wo das russische Gas aus der Nord Stream 2-Pipeline anlanden und von dort aus über Land bis nach Tschechien verteilt werden soll, ist noch keine Drohung eingegangen. Das werde sich ändern, wenn die Pipeline fertiggestellt wird, glaubt Bürgermeister Vogt: „Denn für die lange Betriebsdauer der Nord Stream 2 ist es ja immer wieder nötig, dass Serviceschiffe unseren Hafen anlaufen, die Vermessungen durchführen, Umweltuntersuchungen und so weiter. Ich kann mir vorstellen, dass die Amerikaner dann auch mehr den Fokus in Richtung Lubmin richten.“
Dafür muss die Verlegung zu Ende geführt werden, für die neben dem russischen Konzern Gazprom fünf westeuropäische Energieunternehmen bereits insgesamt knapp sechs Milliarden Euro investiert haben. Auch bezüglich Lubmin erklärte Schwesig jedwede Sanktionsdrohung für unstatthaft. Die Landesregierung stehe nach wie vor hinter dem Projekt der Ostseepipeline und sei mit Nord Stream 2 im Gespräch. „Natürlich ist jetzt vor allem die Geschäftsführung gefragt zu überlegen, wie sie trotz der amerikanischen Sanktionen diese Pipeline fertigstellen kann. Wenn wir das als Landesregierung unterstützen können, werden wir das auch tun.“
Ob Schwesigs Worte Washington beeindrucken können? Mehr Wirkung hinterlässt dort möglicherweise die leise, aber beständige Weigerung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Nord Stream 2 politisch zu opfern. Öffentlich verweist auch sie darauf, dass es ein rechtsstaatlich einwandfrei geprüftes und genehmigtes Projekt ist. Weniger laut gesprochen wird über die große Unsicherheit, die mit möglichen Schadensersatzforderungen durch die beteiligten Investoren von Gazprom bis BASF zu tun haben.
Der Deal, den Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) und Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) den USA vorgeschlagen haben, scheint derweil nicht zu fruchten. Er lautete kurz gesagt: Ihr lasst Nord Stream 2 in Ruhe, und wir unterstützen den Bau von zwei LNG-Terminals an deutschen Nordseehäfen voran, über die US-Energiekonzerne ihr gefracktes Flüssiggas auch in Deutschland absetzen können.
Wer schützt Europas Energiesicherheit?
Die russische Staatsführung setzte im Frühjahr die Fertigstellung der Ostseepipeline auf spätestens Anfang 2021 fest. Dieses Ziel kennt auch die US-Regierung – und will es unbedingt vereiteln. Am 22. Oktober 2020 meldet das State Department, es habe jetzt klargestellt, wer genau von Sanktionen betroffen sein werde. Die neue Richtlinie, die Bestandteil des 2019 verabschiedeten Gesetzes zum „Schutz von Europas Energiesicherheit“ sei, richte sich gegen alle, die Dienstleistungen, Ausrüstung oder Geld für den Weiterbau von Nord Stream 2 bereitstellen.
Konkret genannt sind wieder Verlegeschiffe, die in einer Tiefe von mehr als 30 Metern arbeiten. Diese Beschreibung passt auf die Restarbeiten südöstlich vor Bornholm, und sie würde auf die russische „Akademik Tscherski“ zutreffen.
Allen anderen Unternehmen setzt das US-Außenministerium eine Frist von 30 Tagen. Danach müssen sämtliche Geschäftsbeziehungen mit Nord Stream 2 beendet sein. Das betrifft auf jeden Fall auch den Hafen Mukran auf der vorpommerschen Ostseeinsel Rügen, weshalb die Geschäftsführung wie auch die Eigentümer (Stadt Sassnitz und Land) hoffen, dass die letzten dort noch lagernden 15000 Pipelinerohre innerhalb dieser 30 Tage vom Hof kommen. Kürzlich informierte die Nord Stream 2, dass vom 5. Dezember an weitergebaut werden soll.