Mein lieber Schwan
Vor 500 Jahren hat Sigismund von Herberstein tief in russische Kochtöpfe geschaut
#23 – Peter Peters Zunge macht ihn zu einem wahren Kenner der Kochkunst und einem Meister des geschliffenen Worts. Für KARENINA schmeckt der Gastrosoph der russischen Küche nach.
Anno Domini 1516, Anno Domini 1526. Zweimal wird Sigismund von Herberstein von den Habsburger Kaisern Maximilian I. und Karl V. auf diplomatischer Mission zum Moskauer Großfürsten Wassili III. geschickt. Für den steirischen Adligen war es der Aufbruch in eine terra incognita, in eine unbekannte Welt am Rande Europas. So hat er seine Gesandtschaft zumindest in seinem erstmalig 1549 auf lateinisch erschienenen Reisebericht „Rerum Moscoviticarum Commentarii“ stilisiert – spätere Ausgaben werden gern als „Moscovia“ abgekürzt.
Ein wenig überrascht das damalige Wissensdefizit über das Großfürstentum Moskau schon. Denn bereits im 15. Jahrhundert baute eine Schar italienischer Architekten wie Aristotele Fioravanti aus Bologna, Pietro Antonio Solari aus dem Tessin oder Aloisio Lamberti aus dem Veneto den Kreml im Stil des Mailänder Castello Sforzesco um.
Vielleicht steckt ja ein Körnchen Wahrheit in der Geschichte, dass „Zar“ Iwan III. seine Baumeister lieber in den Kerker werfen als in ihre Heimat zurückkehren ließ, so dass sie auch nicht viel berichten konnten. Jedenfalls verfügten Genueser und Venezianer durch ihre Schwarzmeerkolonien jahrhundertelang über kürzere Handelsrouten ins pelzreiche Russland – bis 1475 die osmanische Eroberung der Krim diese italienische Präsenz beendete.
Das Vorrücken des Islam Richtung Westen bedeutete veränderte Machtkonstellationen. Der Moskauer Staat, der sich allmählich von der Oberherrschaft der mongolischen Goldenen Horde emanzipierte, wurde zum neuen Machtfaktor. Und damit zum potenziellen Bündnispartner für die habsburgische Außenpolitik gegen die Türkei und das aufstrebende Königreich Polen. Das erklärt auch das vertiefte Interesse westlicher Leserschaften an Insider-Informationen über das orthodoxe Dritte Rom an der östlichen Peripherie Europas.
Verdienst des Autors ist es, nicht nur lebendig seine Erfahrungen als Diplomat aufzuschreiben, sondern mit ethnographischem, geographischem und theologischem Impetus eine breitgefächerte Landeskunde des moskowitischen Reichs zu erstellen. So wundert es nicht, dass Herbersteins Buch zahlreiche Neuauflagen, auch auf Deutsch und Italienisch erlebte. Noch 1795 veranlasste Zarin Katharina die Große einen Petersburger Neudruck dieses Klassikers, der das westliche Russlandbild über Jahrhunderte geprägt hat.
Diplomatische Missionen waren damals noch nicht von den Regeln des Völkerrechts geschützt, sondern eher von flexiblen Codes der Gastfreundschaft abhängig. So muss der steirische Edelmann permanent darum kämpfen, seine Würde als kaiserlicher Gesandter gegenüber seiner russischen Eskorte durchzusetzen, die versucht, ihn von der einheimischen Bevölkerung abzuschirmen.
Schließlich gelingt es ihm, wenigstens Einzelbetten für seine Begleiter herauszuschlagen. Sein Ansinnen, die eintönige Kost durch selbstgekauften Fisch abwechslungsreicher zu machen, wird ihm hingegen als Affront gegen die (diesmal spärlich geübte) russische Gastfreundschaft ausgeschlagen.
Ein Gericht zum Staunen: gebratener Schwan
Dafür kommt Sigismund von Herberstein beim Empfang durch den Großfürsten kulinarisch auf seine Kosten, wenn auch das Empfangen jeder einzelnen Speise unzählige zeremoniöse Verbeugungen erforderte. Wassili III. tat ihm durch Überreichung von Brot „seine Gnade“, durch „Zusendung von Salz seine Neigung“ kund: „Man kann in Russland niemandem eine größere Ehre antun, als dass man ihm Salz von seinem eigenen Tisch zuschickt.“
Als nächstes brachten Truchsessen Branntwein und „ein stark gebranntes Wasser, das die Russen immer zu Beginn ihrer Mahlzeiten zu sich nehmen“. Dann präsentieren sie dem Herrscher auf goldenen Schüsseln ein Staungericht: gebratene Schwäne. Nachdem Wladimir III. mit seinem Messer hineingepiekst hat, werden die Vögel tranchiert.
„Als wir uns anschickten, die gebratenen Schwäne zu verzehren, reichte man uns Salz, Pfeffer und Essig, denn die Russen gebrauchen diese Gewürze an Stelle von Soßen und Tunken. Aus dem gleichen Grunde kamen auch Gurken und saure Milch auf den Tisch... Dazu reicht man vielerlei Getränke – nämlich Malvasier, Griechischen Wein und Met.“
Spannend ist für den Gastrosophen, wie hier früh eine Nationalküche ausgebildet ist, auch wenn das Verspeisen von Schwänen nicht so exotisch war, wie es heute scheint. Der Schwanenweiher des Moskauer Kreml folgte einer europäischen Traditionslinie, die Schwanenzucht und Schwanenmahl seit dem Mittelalter als Herrscherprivileg einstufte.
Auch das trophäenhafte Präsentieren ganzer Tiere ist ein gesamteuropäisches Renaissance-Phänomen. So ließ Karl der Kühne, Herzog von Burgund, für sein Hochzeitsbankett mit Margarete von York 1468 einen gekochten Schwan im Federkleid auffahren, dessen Schnabel und Krallen vergoldet waren.
Typisch russisch: Kaviar und Pferdeköpfe
Es sind die Beilagen, die eine speziell russische Sprache sprechen. Gurken waren im 16. Jahrhundert in Westeuropa kaum vertraut (heute werden sie interessanterweise in der Slowakei zu Gänsebraten gereicht), saure Milch war im Westen eher kein Adelsgericht. Der Essig mag der Zähigkeit dieser Wasservögel geschuldet sein.
Stilprägend auch die Getränke: Wodka nur vor dem Essen zu trinken, war bis ins 19. Jahrhundert adlige Sitte. Für die Hauptspeise leistete sich der Moskauer Hof Honigmet und die feinsten Süßweine der Epoche, nämlich griechischen Malvasier. Das mag mit der orthodoxen Religionsgemeinschaft zu tun haben, entsprach aber ebenfalls europäischen Luxusstandards: Auch Shakespeares Helden schwärmen für diesen Wein.
Auch sonst fördert Herbersteins Werk gastronomische Details zu Tage, etwa mit der Aussage, dass an Korn, Kräutern und Melonen um Moskau Überfluss herrsche, Kirschen und feinere Produkte aber importiert werden müssten. Der Vielvölkerstaat beherbergt beim Essen befremdliche Sitten. Pferdeköpfe gelten bei den Tataren als Delikatesse, „so, wie wir es mit den Wildschweinschädeln tun“. Und die brotfreien Jäger- und Sammlerkulturen des arktischen Raums, die sich von Fisch und Wild nähren, entwickeln durch diese Kost, so hat Herberstein gerüchteweise gehört, erstaunliche sexuelle Aktivitäten.
Wer an theologischen Spitzfindigkeiten interessiert ist, kann Bekehrungsbriefe studieren, die dem Papst und seinen katholischen Anhängern kryptojüdische Gewohnheiten wie Samstagfasten oder Hostien aus ungesäuertem Brot vorwerfen. Oder die Fastenregeln eines Bischofs von Nowgorod, der sonntags Fisch, wochentags Kaviar empfiehlt und Zahnfleischbluten als Fastenbrechen durch Eigenblut auslegt: Ein Grund, das Ostersakrament zu versagen!
Unrein: von Frauen geschlachtete Tiere
Insgesamt zeugt der Text vom vertieften Willen zu einem zaghaften Dialog, der allerdings von gegenseitiger Verachtung nicht ganz frei ist. Bei den Moskowitern, die angeblich Katholiken mehr als „Mohammedaner“ hassen, erscheint sie religiös verbrämt. Essen mit „Lateinischen“ ist nur in Notfällen erlaubt und verlangt anschließende Reinigungsgebete.
So hat Wladimir III. auch ein Waschbecken vor sich stehen – um sich sofort zu purifizieren, nachdem der katholische Händedruck des Gesandten ihn unrein gemacht hat. Herberstein wiederum hat rückständige „wunderliche Bräuche“ zu bemängeln und belegt sie mit Fallbeispielen: „Das Los der russischen Frau ist denkbar schlecht. Eine jede, die nicht daheim eingeschlossen und so streng verwahrt wird, daß sie praktisch von der Welt abgeschlossen ist, gilt als nicht ehrbar.“
Das geht soweit, dass von Frauen geschlachtete Tiere als unrein gelten. Die Lösung: „Wenn nun so eine Hausfrau ein Huhn schlachten will, nimmt sie das Tier und ein Messer und wartet so lange vor dem Hause, bis ein vorübergehender Mann ihre Bitte erfüllt und das Tier schlachtet.“ Der Autor mokiert sich über die Trägheit des arroganten Adels, „kein Edelmann geht mehr als drei oder vier Häuser zu Fuß“, das permanente Feilschen und die undurchschaubare Hinhaltetaktik seiner Gastgeber.
Kurzum, Mentalitätsunterschiede, die teilweise bis heute nachwirken, erschweren das gegenseitige Herantasten. Andererseits bewies Herberstein mit seiner spannenden „Moscovia“ eindeutig ein echtes Interesse an russischer Kultur, das über den politischen Alltag hinausging. Das lässt sich schon daran ablesen, dass der Freiherr sich gern in russischem Kaftan abbilden ließ.
Noch etwas ist aktuell. Die Schwäne. Nachdem das Auftragen weißer Schwäne bei frühen Zaren-Gelagen jahrhundertelang lediglich ein skurriler Eyecatcher der Historienmalerei war, sind sie plötzlich wieder da als signature dish der Neuen Russischen Küche. Im „White Rabbit“ in Moskau, einem der 30 besten Restaurants der Welt, flambiert Chefkoch Wladimir Muchin Schwanenleberterrine mit Rhabarberschaum und Rjaschenka aus saurer Milch!
Lesen Sie weitere Beiträge unseres Gastrosophen Peter Peter in der Rubrik Leben/Kulinarisches.